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Maulkorb für Parlament

Abstimmung und Debatte über TTIP verschoben. Mehrheit der Europaabgeordneten verordnet sich Diskussionsverbot zum Thema "Freihandel" / Fabio de Masis zur Tacheles-Demokratie

Von Klaus Fischer *

Von Brüssel nach Strasbourg und zurück: Nicht nur die Abgeordneten des Europäischen Parlaments hatten sich am Mittwoch früh in der französischen »Europastadt« eingefunden, um über das »Freihandelsabkommen« der EU mit den USA zu debattieren. Auch Handelskommissarin Cecilia Malmström war da – und durfte unverrichteter Dinge wieder abreisen. Grund: Parlamentspräsident Martin Schulz hatte am Abend vor der Abstimmung zur Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) entschieden, dass diese nicht stattfindet. Und weil das an parlamentarischer Selbstverstümmelung nicht genug war, verordnete sich das Plenum am Mittwoch morgen auch noch einen Maulkorb: Mit 183 zu 181 Stimmen votierten die Volksvertreter dafür, auf eine Debatte zum Thema (vorläufig) zu verzichten.

Nach der Auszählung war die Stimmung im Plenum nicht gut. Es wurde laut, die Emotionen kochten hoch, Empörung und Empörung wegen der Empörung prallten akustisch aufeinander. Verständlich, 181 Abgeordnete – der Linken, der Grünen und der EFDD (rechte Euro-Kritiker) fühlten sich verschaukelt, an der Ausübung ihres Mandats gehindert. 183 Abstimmungs- und Diskussionsgegner aus den Reihen der Konservativen, der Liberalen und von Rechtsparteien taten indes so, als hätten sie gerade einen Meilenstein für Europas Demokratie gesetzt.

Parlamentsvorsteher Schulz hatte seine Gründe, als er den Stein anstieß. Als Argument für seine Entscheidung zur Vertagung der Abstimmung führte er die hohe Zahl von Änderungsanträgen an. Zuletzt lagen offiziellen Zahlen zufolge mehr als 200 vor.

Doch nach Auffassung vieler Abgeordneter und Beobachter war das vorgeschoben. Schulz wolle verhindern, dass sich die »große Koalition« aus Europäischer Volkspartei und Sozialdemokraten eine Abstimmungsniederlage einfängt, so der Tenor. Beide großen politischen Gruppen hatten sich unter Federführung des Vorsitzenden des Handelsausschusses, Bernd Lange (SPD), auf einen Kompromiss geeinigt. Der betraf vor allem die geplante Implementierung von privaten Schiedsgerichten. Diese sollen im Rahmen der »Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft« dafür sorgen, dass die Interessen von Investoren »geschützt« werden. Praktisch geht es darum, dass Kapitaleigner und Kapitalfunktionäre (Konzernmanager etc.) Staaten verklagen können, sollten diese Gesetze erlassen, die dem im TTIP-Verhandlungskontext weitgefassten Freihandelsbegriff zuwiderlaufen. Eine Profitgarantieklausel, die durch den Lange-Vorschlag modifiziert, aber nicht beseitigt wurde.

Der Kompromiss war zuletzt auch innerhalb der Sozialdemokratischen Fraktion in die Kritik geraten. Nicht zuletzt eine Flut von Beschwerden der Wählerbasis hatten zahlreiche Parlamentarier dazu gebracht, ihre Position zu überdenken – und zu korrigieren. Am Dienstag hatte vieles darauf hingedeutet, dass eine Mehrheit im Parlament gegen die Vorlage des Handelsausschusses stimmen würde. Das, so die Kritiker, sei der wahre Grund für die Entscheidung des Herrn Schulz gewesen.

Der Abgeordnete Fabio De Masi (Die Linke) hat da keinen Zweifel: Wäre der Kompromiss abgelehnt worden, »wäre die Botschaft klar: Selbst das Europäische Parlament will kein ISDS«, sagte er zu jW. Und die Kampagnenkoordinatorin bei der Bewegung Campact, Maritta Strasser, sagte dieser Zeitung: »Das ist ein starker Beleg dafür, dass die Zustimmung zu TTIP im Europaparlament bröckelt«. Der Abgeordnete Fabio De Masi (Die Linke) hat da keinen Zweifel: Wäre der Kompromiss abgelehnt worden, »wäre die Botschaft klar: Selbst das Europäische Parlament will kein ISDS«, sagte er zu jW. Und die Kampagnenkoordinatorin bei der Bewegung Campact, Maritta Strasser, sagte dieser Zeitung: »Das ist ein starker Beleg dafür, dass die Zustimmung zu TTIP im Europaparlament bröckelt«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juni 2015


Tacheles-Demokratie?

Keine TTIP-Debatte im EU-Parlament

Von Fabio De Masi **


Fabio De Masi (Die Linke) ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), bläst gerne die Backen auf. Er kündigt dann – etwa über das Boulevardblatt Bild an, »Tacheles« mit Griechenland reden zu wollen. Oder, dass er jetzt die Faxen von Alexis Tsipras dicke habe. Schulz kennt aber auch das Motto der Show des legendären Rudi Carrell: »Lass dich überraschen!«

Am Dienstag nachmittag setzte der Parlamentspräsident kurzfristig die Abstimmung über eine Resolution zum Handels- und Investitionsabkommen mit den USA (Transatlantic Trade an Investment Partnership, TTIP) in Strasbourg ab. So ist das: Demokratie gibt es nur, wenn die große Koalition steht. Aber die wackelt derzeit gehörig.

Denn nicht wenige Sozialdemokraten sind nervös. Und das ist auch gut so. Die Postfächer der Abgeordneten laufen über mit wütender Bürgerpost wegen TTIP und insbesondere wegen der in diesem Zusammenhang geplanten Verankerung privater Schiedsgerichte. Dort können Konzerne Staaten verklagen, wenn diese Gesetze erlassen, die ihre Profite bremsen. Ohne Berufungsinstanz und vereidigte Richter. Die selbstorganisierte Bürgerinitiative gegen TTIP und dessen kleinen Bruder – das Abkommen zwischen der EU und Kanada CETA – konnte zudem zu Wochenbeginn mitteilen, dass die Marke von zwei Millionen Unterschriften erreicht und übertroffen sei.

Was trieb Schulz zu seiner Entscheidung? Der vom Vorsitzenden des Handelsausschusses, Bernd Lange (SPD), dem Parlament vorgelegte Kompromiss zum »Investorenschutz« (ISDS, Investor-state dispute settlement) drohte keine Mehrheit zu bekommen. Der Grund: auch etliche Sozialdemokraten hätten für einen Änderungsantrag, der die ersatzlose Streichung von Konzerngerichten verlangt, gestimmt. Man will ja auch wiedergewählt werden.

Wäre der Bernd-Lange-Kompromiss durchgefallen, wäre die Botschaft klar: Selbst das Europäische Parlament will kein ISDS – weder als informelles Treffen von Wirtschaftsanwälten noch als eine Art Sonderhandelsgericht, wie SPD-Chef Sigmar Gabriel und die »TTIP-Cinderella«, EU-Kommissarin Cecilia Malmström, es vorschlugen. Allerdings steht im fertig ausgehandelten CETA-Abkommen das ISDS bereits drin.

Am Mittwoch vormittag fehlten dann zwei Stimmen, um zumindest die ebenfalls geplante Aussprache über die TTIP-Resolution zu ermöglichen. Für eine Parlamentssitzung um acht Uhr morgens wurde aber wenigstens etwas Unterhaltung geboten: Meine Fraktion protestierte heftig gegen die eigenmächtige Entscheidung von Sonnenkönig Schulz und Anhang. Viele Abgeordnete schäumten vor Wut. Es war fast wie früher beim Fußball: Was erlauben Schulz? Einer ließ sich übrigens nicht blicken: Mister Tacheles.

Klar ist: Die Bevölkerung muss weiter Druck machen, von da ist »Tacheles« erforderlich. Denn wir haben die Faxen dicke: Nein zu CETA, TTIP und Co.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juni 2015


"TTIP muss in Gänze gestoppt werden"

Der öffentliche Druck gegen das transatlantische Freihandelsabkommen führte zur Absage der Abstimmung im Europäischen Parlament. Gespräch mit Maritta Strasser *
Maritta Strasser ist Koordinatorin Campaigning bei »Campact – Demokratie in Aktion«. Das Onlinenetzwerk gehört zu den 450 Organisationen, die die Europäische Bürgerinitiative »Stop TTIP« unterstützen.

Am Mittwoch hätte das Europäische Parlament über eine Resolution zum Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP abstimmen sollen. Aber am Dienstag abend hat Parlamentspräsident Martin Schulz (SPE) das Votum kurzerhand abgesagt, weil ein zwischen der sozialdemokratischen Fraktion und der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP ausgehandelter Kompromiss zu platzen drohte (jW berichtete). Wie bewerten Sie das?

Das ist ein starker Beleg dafür, dass die Zustimmung zu TTIP im Europaparlament bröckelt. In dem Maße, wie in der Bevölkerung der Widerstand gegen das neoliberale Projekt zunimmt, wird das Thema zu einer immer heißer werdenden Kartoffel für die Abgeordneten. Die EU-Kommission kann sich längst nicht mehr sicher sein, für ihre Marschroute eine Mehrheit im Parlament zusammenzubekommen. Von daher sehen wir den Vorgang mit großem Wohlwollen.

Aber hätte es Sie nicht noch mehr gefreut, wäre der zur Abstimmung vorgesehene Bericht per Mehrheitsbeschluss gekippt worden? Im Vorfeld hat sich dies ja abgezeichnet, nachdem die sozialdemokratische Fraktion die Ende Mai im Handelsausschuss gefundene Kompromisslinie ziemlich überraschend wieder aufgekündigt hat.

Es war schlicht nicht absehbar, was angesichts der vielen Änderungsanträge am Ende für eine Resolution herausgekommen wäre. Aber klar, eine Absage an Schiedsgerichte ohne Wenn und Aber hätte seinen Reiz gehabt. Für mich ist die Nachricht des Tages trotzdem durch und durch ermutigend: Es gibt keinen Konsens mehr. Das Verhandlungsmandat für die Kommission war noch problemlos durchgegangen. Aber jetzt sind wir an einem Punkt, an dem das Parlament zu keiner gemeinsamen Haltung mehr gelangt. Der nächste Schritt ist es, die Abgeordneten davon zu überzeugen, dass das Projekt und die Art, wie es abseits jeder demokratischen Kontrolle verhandelt wird, als Ganzes gestoppt werden muss.

Schulz hat die Absage mit Verweis auf die Geschäftsordnung und die Vielzahl an Änderungsanträgen begründet. Was halten Sie davon?

Zu der ganz großen Machtprobe mit der Kommission ist das Parlament offenbar noch nicht bereit. Aber das ist nur ein Zwischenstand auf dem Weg dahin, dass der Kommission am Ende die rote Karte gezeigt wird.

Der zentrale Knackpunkt ist das geplante Verfahren, mit dem Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten beigelegt werden sollen (Investor-state dispute settlement, ISDS). Dieses soll es Investoren ermöglichen, Staaten wegen entgangener Profite vor privaten Schiedsgerichten zu verklagen. Die sozialdemokratische Fraktion will dieses System verhindern, selbst in der vom Handelsausschuss vorgeschlagenen entschärften Form. Trauen Sie dem Bekenntnis?

Damit es Bestand hat, müssen die Gegner von TTIP am Ball bleiben. Die inzwischen deutlich spürbare Bewegung hin zu immer mehr Kritik, Zweifeln und Nachdenklichkeit auf seiten der Politik hätte es nie gegeben, wäre der öffentliche Druck nicht so groß. Ich denke auch, dass die Wählerinnen und Wähler eine klare Ablehnung von TTIP am Ende honorieren werden.

Sehen Sie die Gefahr, dass TTIP am Ende im großen und ganzen durchgeht, wenn die Protagonisten in puncto Schiedsgerichte die Kuh vom Eis kriegen?

Auf alle Fälle. Wir haben uns im Bündnis deshalb darauf verständigt, auch andere Aspekte wie regulatorische Kooperationen, Klima- und Umweltschutz oder Arbeits- und Sozialstandards hochzuhalten. Gleichwohl ist das Thema Investorenschutz von größter Wichtigkeit. Bisher gibt es nur zwei internationale Vereinbarungen, die ISDS in Verträgen zwischen Industriestaaten vorsehen: die Energiecharta und das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA. Dieses System möglichst global zu etablieren, steht auf der Agenda der Konzernmächte ganz oben. Gelingt es, dieses Vorhaben im Rahmen von TTIP zu vereiteln, dann wäre das vielleicht der Anfang vom Ende von ISDS insgesamt. Wenn nicht, geht es erst richtig los damit, dann haben wir vielleicht schon bald ein ISDS-Regime im Weltmaßstab mit verheerenden Konsequenzen für die Souveränität von Staaten und die Gestaltungsfähigkeit von Politik. Das ist eine ganz entscheidende Schlacht, die wir unbedingt gewinnen müssen. Gleichwohl bleibt es dabei: TTIP muss in Gänze gestoppt werden.

Interview: Ralf Wurzbacher



*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juni 2015


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