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Auf dem Weg zu einer postnuklearen, umfassenden euroatlantischen Sicherheitsgemeinschaft

Monthly Mind Januar 2011

Von Wolfgang Ischinger *

Die Transformation Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat einige bemerkenswerte Ergebnisse gezeitigt. Ein wichtiger Teil Europas wurde friedlich und in Freiheit vereint. Die Gefahr eines konventionellen oder nuklearen Kriegs in Europa ist gegen Null gesunken. Doch in den vergangenen Jahren haben wir auch Chancen verpasst. Zwei fundamentale Projekte sind nicht so vorangetrieben worden, wie die Sicherheit Europas es erfordert. Das Erste ist die Vereinigung ganz Europas, damit Russlands Westgrenze nicht, wie Richard von Weizsäcker 1990 formulierte, Europas Ostgrenze bleibt, das Zweite die Reduzierung und schließlich die Eliminierung der nuklearen Infrastruktur in Europa, die ein Relikt des Kalten Krieges ist und heute jeglicher Grundlage entbehrt.

Die Zahlen sind eindeutig: Die USA und Russland haben zwar seit Ende des Ost-West-Konfliktes massiv abgerüstet, sind aber noch immer im Besitz von über 90 Prozent aller Nuklearwaffen weltweit. Viele von ihnen sind nach wie vor dafür da, im euroatlantischen Raum eingesetzt zu werden.Und Unmengen dieser abschussbereiten Nuklearraketen befinden sich in permanenter Alarmbereitschaft. Dies ist nicht nur ein unverantwortliches und hochgefährliches Erbe des Kalten Krieges, sondern ein geradezu absurder Zustand, für den es heute schlichtweg keine Rechtfertigung mehr gibt. Dies betrifft ganz besonders die taktischen Nuklearwaffen, die in Europa stationiert sind, keine operative Funktion mehr haben und zudem oftmals nur unzureichend gesichert sind – und damit für Terroristen ein attraktives Ziel sind.

Eine euroatlantische Sicherheitsgemeinschaft, die die USA, Europa und Russland umfasst und ihren Namen auch verdient, muss deshalb postnuklear sein. "Postnuklear" wird dabei – noch – nicht bedeuten, dass Nuklearwaffen komplett aus dem euroatlantischen Raum verschwinden. Dieser Prozess auf dem Weg zu einer Globalen Null wird noch lange dauern. Postnuklear heißt zunächst vielmehr, dass im euro-atlantischen Raum die Beziehungen zwischen den Staaten so demilitarisiert und denuklearisiert werden, dass eine Gemeinschaft entsteht, in der Angst und Abschreckung ersetzt werden durch Vertrauen und gegenseitiges Verständnis. Nur so können wir gemeinsam die Vision einer europäischen Sicherheitsgemeinschaft vorantreiben.

Im gerade zu Ende gegangenen Jahrzehnt haben wir eine Ordnung verteidigt, die dysfunktional geworden ist, da sie weitgehend ohne eine Einbindung Russlands auszukommen versuchte. Doch die Fortschritte der vergangenen Monate, insbesondere beim NATO-Gipfel in Lissabon, haben neue Chancen für die kommende Wegstrecke eröffnet.

Bei der Ausblicksveranstaltung auf die Sicherheitskonferenz in der Bayerischen Vertretung in Berlin betonte Russlands Botschafter Wladimir Grinin vor kurzem, dass wir derzeit eine einzigartige Gelegenheit zum Aufbau einer gemeinsam euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft haben. "Wir schulden dies den kommenden Generationen", sagte Grinin. Gleichzeitig jedoch erhöhen die jüngsten Fortschritte den Druck, diese Schuld nun auch einzulösen. Russland muss nun in der Tat in absehbarer Zukunft zu dem "strategischen Partner" werden, von dem das neue Strategische Konzept der NATO spricht. Und ein frühes Scheitern beim Aufbau einer gemeinsamen Raketenabwehr könnte sich nach den jüngsten positiven Entwicklungen als Rückschlag für das Verhältnis zwischen der NATO und Russland herausstellen.

Dennoch überwiegen die Chancen, und Alternativen gibt es nicht. Schließlich würden Fortschritte bei der gemeinsamen Raketenabwehr nicht nur unsere gemeinsame Sicherheit erhöhen und die Beziehungen zwischen der NATO und Russland substantiell verbessern, sondern auch Möglichkeiten zum gemeinsamen Handeln in anderen zentralen Bereichen der Abrüstung schaffen. Zu den dringlichsten Aufgaben gehören beispielsweise weitere bilaterale Abrüstungsschritte zwischen den USA und Russland, die Erhöhung der Warn- und Entscheidungszeiten, die Gewährleistung des höchstmöglichen Sicherheitsstandards für Nuklearwaffen, ein Dialog über die taktischen Kernwaffen in Europa sowie der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende der Vertrag über ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) in Kraft tritt.

Und auch jenseits dieser Schritte und über den euro-atlantischen Raum hinaus ist eine umfassende euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft von größter Bedeutung für nukleare Abrüstung. Das vielleicht größte Hindernis auf dem Weg zu Global Zero sind regionale Konflikte, die beteiligten Staaten einen großen Anreiz dazu geben, Nuklearwaffen neu zu entwickeln oder bestehende Arsenale zu halten. Wer diese Anreize beseitigen will, der muss in der Lage sein, solche Konflikte zu lösen. Dies ist jedoch nur im Rahmen einer stabilen und vitalen internationalen Ordnung möglich. Im Moment ist diese Ordnung allerdings zunehmend fragmentiert und unter Druck. Sie kann nur dann die notwendige Stabilität gewinnen, wenn sie auch von einer umfassend definierten euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft getragen wird.

Hinzu kommt, dass nur mit einer solchen Gemeinschaft im Rücken das nukleare Nichtverbreitungsregime gestärkt werden kann. Die Bedeutung eines wirksamen und durchsetzungsfähigen Kontrollregimes wird auf den letzten Schritten hin zu einer Globalen Null, wenn jeder Vertragsbruch schnell und entschieden geahndet werden muss, weiter zunehmen. Auch hier ist eine starke euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft entscheidend für nachhaltiges gemeinsames internationales Handeln.

Die Gefahren des nuklearen Status Quo sind bekannt: Ob durch Unfälle – deren Chance mit steigender nuklearer Weiterverbreitung steigt –, ob durch den vorsätzlichen Einsatz durch einen Staat oder durch terroristische Gruppen, die Gefahr einer nuklearen Katastrophe bleibt leider eine realistische Möglichkeit. Um ihr effektiv entgegenwirken zu können, brauchen wir eine postnukleare, umfassende euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft. Die endgültige Vereinigung Europas und der Weg zu Global Zero, sie sind zwei Seiten derselben Medaille.

* Wolfgang Ischinger war Staatssekretär des Auswärtigen Amts und Botschafter in Washington und London. Heute ist er Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und berät die Allianz SE.

Dieser Beitrag erschien auf der offiziellen Website der Münchner Sicherheitskonferenz, 25. Januar 2011; www.securityconference.de



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