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"Die alte NATO als ausschließliches Verteidigungsbündnis gehört der Vergangenheit an"

Rede von Dr. Franz-Josef Jung, Bundesminister der Verteidigung, auf der Münchner Sicherheitskonferenz

Im Rahmen unserer Berichterstattung über die 42. Münchner "Sicherheitskonferenz" dokumentieren wir im Folgenden die Rede des deutschen Verteidigungsministers. Zur offiziellen Website der Konferenz geht es hier: www.securityconference.de.



04.02.2006

Lieber Herr Teltschik, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

als ich im vergangenen November das Amt des deutschen Verteidigungsministers übernahm, führten mich meine ersten Reisen in die Einsatzgebiete, in denen Soldaten der Bundeswehr ihren Friedensdienst leisten: Auf den Balkan zu KFOR, nach Djibuti zu Enduring Freedom, nach Kabul zu ISAF und in den Norden Pakistans, wo die NATO nach einer humanitären Katastrophe geholfen hat. Rund 3500 Tonnen Hilfsgüter hat die NATO dort in ihrem Rettungseinsatz ins Katastrophengebiet transportiert. Die Bilder, beim Blick aus dem Hubschrauber auf die unwegsamen Hochtäler, wo Menschen unter äußerst kargen Bedingungen leben und jetzt Opfer der Naturgewalten geworden sind, haben sich mir tief eingeprägt. In der Zwischenzeit hat die NATO ihre Mission beendet, die Hubschrauber der Bundeswehr fliegen im humanitären Einsatz weiter.

Die NATO Response Force war für Einsätze wie in Pakistan nicht vorrangig ausgerichtet, sie hat sie trotzdem bewältigt. Darin drückt sich die Stärke des Bündnisses aus. Auch die Allianz hatte ihre Bestimmung in einer anderen Zeit erhalten, und ist heute genauso unverzichtbar wie zu ihrer Gründung. Die NATO hat sich tief gewandelt, und sie ist noch nicht am Ende ihres Wandels. Der Wandel ist kein Selbstzweck, die Aufgaben verändern sich, die Bestimmung aber bleibt: Sicherheit, Frieden und Freiheit. Wir sind seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ein gutes Stück vorangekommen. Die Staatengemeinschaft ist enger zusammengerückt, das humanitäre Völkerrecht hat sich fortentwickelt, die Vereinten Nationen sind stärker geworden. Doch das alte Ziel der Domestizierung von Macht durch Recht ist geblieben. Grenzen haben ihren trennenden Charakter verloren, Sicherheit ist allein mit militärischer Definition nicht mehr zu erfassen. Terrorismus, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten, dies sind die Geißeln unserer Zeit.

Mit den Einsätzen hat sich auch das Bündnis verändert. Dabei ist die NATO Schritt für Schritt zu einer global agierenden Allianz geworden. Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll am Beispiel Afghanistan. 37 Nationen beteiligen sich an der durch die NATO geführten internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF und tragen so dazu bei, dass dieser Staat auf seinem Weg in die Demokratie nicht allein gelassen und ein Rückfall in Fundamentalismus und Terrorismus verhindert wird. Den Wandel der Allianz gemeinsam zu gestalten ist unsere Aufgabe: Nicht allein eine Aufgabe für die Verteidigungsminister oder die Staats- und Regierungschefs, vielmehr eine für die ganze atlantische Gemeinschaft.

Die Mehrheit der hier Anwesenden gehört der Gemeinschaft aus Europäern und Amerikanern an. Wir kennen uns, und wir verstehen uns. Dies heißt freilich nicht, dass wir immer einer Meinung sind. Doch wir dürfen die Auseinandersetzung nie mehr so weit kommen lassen, dass am Ende die transatlantischen Beziehungen beschädigt werden. Die alte NATO als ausschließliches Verteidigungsbündnis gehört der Vergangenheit an. Gerade wir Deutsche wissen, was wir dem Atlantischen Bündnis verdanken. Bei den Feiern zum 50. Geburtstag der Bundeswehr haben wir soeben daran erinnert. Wir stehen auf solidem Grund, der Blick geht nach vorn. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich auf drei Gedanken zur Rolle der Allianz beschränken.

Erstens: Wenn die Allianz ihre Stellung als erste Adresse in Sicherheitsfragen bewahren will, muss sie wieder politischer werden, d.h. sie muss als politisches Gestaltungsinstrument genutzt werden. Artikel 4 des Nordatlantikvertrages verpflichtet uns zur Konsultation, wenn wir bedroht sind. Dies heißt, dass wir über alle wichtigen Sicherheitsfragen auch in der Allianz reden müssen.
Beispiel Iran: Das iranische Atomprogramm berührt unmittelbar unsere Sicherheit. Denn die wiederholten Äußerungen des iranischen Präsidenten werfen Fragen auf, ob das Nuklearprogramm allein friedlichen Zwecken dient. Deshalb ist die Befassung des Sicherheitsrates mit dem Fall Iran richtig. Doch auch in der Allianz müssen wir darüber die politische Diskussion führen, denn wir brauchen auch hier transatlantische Geschlossenheit.
Beispiel Energie: Eine gesicherte Energieversorgung wird in der interdependenten Welt der Globalisierung in zunehmendem Maße sicherheitspolitisch relevant. Auch darüber müssen wir in Gremien reden. Der Mittelmeerdialog, den wir in Taormina führen werden, und der Dialog mit Staaten des Golf-Kooperationsrates eignen sich ebenso dafür.
Die Kultur eines neuen sicherheitspolitischen Dialogs werden wir uns erst allmählich erwerben müssen. Von ihm hängt indes ab, inwieweit die NATO ihre friedensstiftende Rolle im künftigen Weltsystem spielen kann. Der Schock der transatlantischen Missverständnisse der Jahre 2002 und 2003 wäre ein heilsamer, wenn daraus die Erkenntnis erwüchse, dass wir eine neue Dialog- und Streitkultur erlernen müssen.

Mein zweiter Gedanke: Wir überfordern die NATO, wenn wir ihr alle Aufgaben bei der Wahrung des Friedens und der Sicherheit aufbürden. Wir dürfen das Bündnis nicht überdehnen. Es spricht für die Attraktivität der NATO, dass immer mehr Staaten ihre Mitgliedschaft anstreben. Die NATO ist indes keine Mini-UNO und auch nicht die OSZE.

Wir brauchen Abstimmung und Austausch auch mit unseren nichteuropäischen und nichtamerikanischen Freunden. Wir sollten jedoch vorsichtig sein, immer wieder neue Gremien zu schaffen.
Wir brauchen viel mehr Aufgabenteilung. Im Geiste der Wertegemeinschaft zwischen Nordamerikanern und Europäern muss sich dabei der Blick zunächst auf die strategische Partnerschaft mit der Europäischen Union richten. Gewiss: Wir haben eine erfolgreiche Zusammenarbeit bei laufenden Operationen - ich denke an EUFOR in Bosnien-Herzegowina - und wir haben die Berlin-plus Vereinbarung. Dies reicht indes bei weitem nicht aus, sonst verkommt die strategische Partnerschaft zum Leerwort. NATO und EU müssen ihre Fähigkeitsentwicklung besser abstimmen, und wir müssen in ein gemeinsam zu koordinierendes Krisenmanagement einsteigen, wie wir es in der Comprehensive Political Guidance festgelegt haben. Berlin-plus ermöglicht und fordert frühzeitig politische Konsultationen zwischen beiden Organisationen, und dies müssen wir noch stärker in der Praxis umsetzen. Dies heißt, wir müssen gemeinsam Ziele, Handlungsrahmen und Akteur festlegen. Einigt man sich auf die NATO als Akteur, so ist der militärische Rahmen für die Durchführung klar. Nachsteuerungsbedarf besteht dann lediglich im Bereich des zivilen Instrumentariums.
Einigt man sich hingegen auf die EU als Akteur, hängt es von Art und Größe der Aufgabe ab, ob die Operation EU-autonom geplant und durchgeführt wird, oder ob man den bewährten Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO, insbesondere die NATO-Kommandostruktur, ins Auge fasst.
Insgesamt aber müssen wir zu einer Steigerung der Effizienz der gemeinsamen Gremien kommen. Es gilt, alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten und über ein gegenseitiges Informieren hinauszugehen. Kooperationsfelder reichen dabei von nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit über eine abgestimmte Streitkräfteplanung bis hin zu gemeinsamer Ausbildung von NATO Response Force und EU-Battlegroups. Rederecht in den Gremien der jeweils anderen Organisation ist die eine Seite, die andere heißt Fortentwicklung der diplomatischen und, wo möglich, Pooling der militärischen Fähigkeiten und noch größere Anstrengungen bei der Transformation.

Europa muss insgesamt ein starker Partner werden. Die europäische Sicherheitsstrategie ist dafür eine solide Grundlage. So empfehlen wir uns als echter Partner und machen in Zeiten, wo viel von einer Krise Europas die Rede ist, die Europäische Union konkret erfahrbar. Freilich: Die NATO kann im Rahmen des Systems der Friedenserhaltung der Vereinten Nationen als regionale Organisation nach Kapitel VIII der VN-Charta tätig werden, doch ist sie mehr als eine Regionalorganisation. Aber die NATO muss auch autonom handlungsfähig bleiben, um Gefahren für den Weltfrieden - auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen - abwehren zu können.

Drittens: Wir müssen weiterhin für Stabilitätstransfer sorgen. Auch dies zählt zur politischen Philosophie der Allianz. Wir müssen zugleich die Sorgen und Ängste unserer Partner ernst nehmen und uns bei den künftigen Fähigkeiten des Bündnisses an der neuen Lage orientieren. Die Allianz ist eine Wertegemeinschaft. Sie bleibt auch künftig offen für weitere europäische Staaten, die die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft erfüllen.

Die NATO hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Balkan-Staaten auf dem Weg zu einer friedlichen und demokratischen Entwicklung sind. Beim Stabilitätstransfer nach Südosteuropa und in den an Europa grenzenden Kaukasusraum ist die Allianz besonders gefordert, und sie braucht dabei Russland als Partner. Gerade weil wir die Erweiterung des Stabilitätsraums wollen, müssen wir behutsam vorgehen.
Vom NATO-Gipfel in Riga im Herbst muss hierzu das richtige Signal ausgehen. Auch dies gehört zur Rolle der Allianz im künftigen System der Friedenssicherung. Die politische Glaubwürdigkeit der transatlantischen Beziehungen hängt von den militärischen Fähigkeiten ab: Sie müssen das gesamte "neue" Einsatzspektrum abdecken. Die NRF ist sowohl der politische Lackmustest in Fragen der strategischen Solidarität der Allianzpartner untereinander als auch Katalysator einer politisch begründeten Transformation und macht dies nach außen sichtbar. Darin liegt ihre strategisch-politische Bedeutung, und dies erklärt, warum sie erfolgreich sein muss. Damit sind Beiträge zur NRF Ausdruck des Verständnisses von Lastenteilung und Solidarität.

Die Transformation der Allianz wird nur gelingen, wenn wir den Sicherheitsbegriff breiter fassen und die Diskussion nicht allein aufs Militärische beschränken. Wir müssen unseren Streitkräften den größtmöglichen Rückhalt in unserer Gesellschaft ermöglichen. Dies ist der Rahmen, den die Atlantische Allianz braucht, um auch in Zukunft den Frieden sichern zu können. Als Bindeglied zwischen zwei Kontinenten, als einziges transkontinentales Bündnis, den Werten und Prinzipien der Vereinten Nationen verpflichtet, stellt sie ein einzigartiges politisches und militärisches Instrumentarium zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens bereit. Es ist an uns, sie dazu zu nutzen. So dienen wir am besten dem Frieden in der Welt.

Quelle: Website der Münchner "Sicherheitskonferenz": www.securityconference.de


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