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"Statt Sorge um das Image Deutschlands die Kräfte gegen den Rechtsextremismus stärken"

Erklärung des Generalsekretärs der deutschen Sektion von pax christi, Dr. Reinhard J. Voß

Pressemitteilung

Der lebensgefährliche Angriff Rechtsextremer gegen den kurdisch-stämmigen Berliner Abgeordneten der Linkspartei, Giyasettin Sayan, hat die Öffentlichkeit erneut aufgeschreckt und vor der Fußball-Weltmeisterschaft die Sorge um das Image Deutschlands verstärkt. Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus kann aber nicht die Sorge das Bild der Nation im Vordergrund stehen. Es gilt den Tatsachen ins Auge zu sehen und Konsequenzen zu ziehen: Der gestrige Verfassungsschutzbericht registriert 4.100 Neonazis und 10.400 gewaltbereite Rechtsextreme; die Zahlen haben eine steigende Tendenz. Im letzten Jahr gab es über 15.000 politische Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund, darunter fast eintausend Gewalttaten. Die Zahlen der Opferberatungsstellen sind alarmierend. Statt konsequenten politischen Widerstands herrscht Verdrängung vor. Das übliche Wegschauen und Verharmlosen ist gefährlich für die Gesellschaft geworden.

Der Angriff auf den Politiker der Linkspartei ist nur einer von vielen. Nur ein Teil dieser Angriffe wird öffentlich überhaupt wahrgenommen. Ein Problem der politischen Debatte zum Rechtsextremismus ist, dass sie stark wellenartig verläuft zwischen Verharmlosung und Skandalisierung: immer wieder bricht eine kurze Debatte los; danach ist wieder Verharmlosung angesagt. Angriffe werden zu oft verschwiegen und rechte Demonstrationen ignoriert, wenn nicht aufrechte Demokraten vor Ort dagegen aufstehen. Die rechtsextreme Szene versucht seit Jahren, durch „kulturelle Unterwanderung“ in West und Ost sowie durch massiven Druck Einfluss zu nehmen. So sind immer mehr „Angsträume“ („No-Go-Areas“) entstanden, in Ostdeutschland bisher mehr als im Westen. Die Ängste der Menschen und die Existenz solcher Angsträume an bestimmten Orten dürfen nicht herunter geredet, sondern müssen ernst genommen werden. Es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft und des Staates, diese Orte den Betroffenen wieder zugänglich zu machen.

Die Gründe für den wachsenden Rechtsextremismus sind vielfältig und oft genug analysiert worden: vom Frust über Arbeits- und Perspektivlosigkeit Jugendlicher über mangelnde demokratische Bildung, Ängste vor Globalisierung und „Überfremdung“ bis hin zum Verlust republikanischer Werte. Wichtiger denn je ist es, das Phänomen des Rechtsextremismus, der sich mit Antisemitismus und Gewalt vermengt, langfristig zu bearbeiten und anzugehen.

Wir müssen wegkommen von den Betroffenheits- und Skandal-Floskeln und die Strukturen dafür schaffen, dass das Thema konkret im Alltag bearbeitet werden kann. Auch wenn derzeit alle sich zur Bekämpfung des Rechtsextremismus bekennen, ist die Zukunft der Projekte und Initiativen, die sich dagegen engagieren, derzeit völlig ungewiss. In allen ostdeutschen Bundesländern gibt es professionelle und kompetente Beratungs- und Unterstützungsstrukturen: Sie beraten Opfer rechter Gewalt und begleiten sie; sie beobachten Prozesse; sie beraten zivilgesellschaftliche Bündnisse gegen Rechtsextremismus; sie informieren in Schulen, Kommunen und lokaler Öffentlichkeit; sie führen Fortbildungen durch und klären auf über rechtsextreme Ideologien, Symbolik, Strategien und Strukturen; sie stärken die Gegenkräfte gegen Rechtsextremismus.

Bisher wurden diese Projekte und Initiativen neben Landesmitteln v.a. auch aus Förderprogrammen der Bundesregierung finanziert, etwa durch das Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ mit den Programmteilen Civitas, Entimon und Xenos. Das Auslaufen dieser Programme Ende 2006 muss zum Anlass genommen werden, die Förderstrukturen dahingehend zu verändern, dass die Bundesebene nicht nur Modellprojekte und Anschubfinanzierungen unterstützen kann, sondern ihren Beitrag dazu leistet, die Strukturen zur Stärkung von zivilgesellschaftlichen Kräften gegen den Rechtsextremismus auf Dauer zu sichern. Eine langfristige Arbeit vor Ort kann nicht von Ländern und Kommunen allein getragen werden. Der Bund ist politisch gefordert. Er kann und muss die wachsenden demokratischen Kräfte stärken, die sich an immer mehr Orten in Ost und West konkret gegen Rechtsextreme wehren.

Es ist unglaubhaft, wenn als Reaktion auf rechtsextreme Gewalttaten das Engagement der Zivilgesellschaft eingefordert wird, gleichzeitig aber seitens der Politik versäumt wird, Strukturen zu schaffen und langfristig zu erhalten, um diese Zivilgesellschaft beraten und unterstützen können.

Bad Vilbel, 23.05.2006


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