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Berichterstattung losgelöst

Vor dem NSU-Prozess: Medienglück und Medienpech beim Münchner Gerichtslotto

Von Rudolf Stumberger *

Sechs Tage vor der eigentlichen Ziehung der Lottozahlen gab das Oberlandesgericht München gestern die Ergebnisse bei der Medienlotterie für den NSU-Prozess bekannt.

Als »angemessenes und gerechtes Verfahren« bezeichnete Karl Huber, Präsident des Oberlandesgerichts München, bei einer gestrigen Pressekonferenz das zweite Akkreditierungsverfahren. Neben ihm nickte Professor Dieter Mayer. Der Notar war von der Bayerischen Notarkammer vorgeschlagen worden und hatte das Losverfahren durchgeführt. Als »Lottofee« beziehungsweise Zeuge fungierte der Bundesminister a.D. und Ex-Oberbürgermeister von München, Hans-Jochen Vogel. Er nahm an der Pressekonferenz nicht teil.

Bevor der Gerichtspräsident die wartenden Journalisten »von der Spannung« erlöste, weil die doch gewiss wissen wollten, wer denn »sicher drin« und »wer draußen« sei, übte er Kritik an den Kritikern des bisherigen »Windhundverfahrens« bei der Akkreditierung: Das sei »in der Geschichte ohne Beispiel«, das Gericht habe sich bisher »absolut korrekt verhalten«.

Die anschließende Bekanntgabe der Ergebnisse der Ziehung der Lose ähnelt einem »Kessel Buntes«: »Bild« und »Brigitte« sind »drin«, die Großschreiber und Edelfedern von »Süddeutsche«, »FAZ« und »Welt« nicht. Das Schicksal bevorzugte das Ländlich-Regionale wie die »Offenbach-Post« oder »Passauer Neueste Presse«. Klar ist auch, dass drei türkische Medien (und das »Büro Istanbul« des arabischen Senders Al Jazeera) sowie ein griechisches Medium im Gerichtsaal vertreten sind. Auch der Münchner linksalternative Radiosender »Lora« ist dabei, interessanter Weise mit seiner polnischsprachigen Redaktion. Derartige Ergebnis waren zu erwarten, nachdem durch den Medienrummel auch die allerletzte Redaktion bemerkt hatte, dass in München ein Neonazi-Prozess beginnt. Hatten sich beim ersten Akkreditierungsverfahren 123 Medien angemeldet, waren es nun 927.

Dem Verfahren, das wohl Justizgeschichte schreiben wird, mangelt es nicht an gedrechselten Konstruktionen mit »Medienobergruppen« und »Untergruppen«. Ausgelost wurde in »Unterloskörben« oder »Gruppenloskörben«. Dass es dabei Ergebnisse gab, wie dass die Nachrichtenagentur dpa gar zweimal bei den festen Sitzplätzen vertreten ist (dpa und dpa englisch) und neben der »ARD« auch der »WDR« durch das Los berücksichtigt wurde, ist wohl systemimmanent. Hatte das Münchner Gericht doch schon bei der Stellungsnahme für das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass es mit der angemessenen Kategorienbildung erhebliche Schwierigkeiten habe.

Mit dieser neuerlichen Platzvergabe reagierte das Oberlandesgericht auf den Spruch der Bundesverfassungsgerichts vom 12. April, das die Zulassung von mindestens drei türkische Medien beim NSU-Prozess anordnete. Eine türkische Tageszeitung hatte so Erfolg mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das vorangegangene Akkreditierungsverfahren, bei dem nach dem Zeitpunkt der Anmeldungen ausgewählt worden war. Möglich sei ein Zusatzkontingent von drei Sitzplätzen, so das Verfassungsgericht, um ausländische Medien mit einem besonderen Bezug zu den Opfern zu berücksichtigen. Das Oberlandesgericht könne aber die Sitzplatzvergabe auch völlig neu regeln. Dafür entschied man sich in München, was zur Verschiebung des Prozessbeginns vom 18. April auf den 6. Mai führte.

Gerichtspräsident Huber wollte gestern Nachmittag die Ergebnisse des Losverfahrens nicht bewerten. Er hoffe, dass diesmal die Entscheidung beschwerdesicher sei und der Prozess wie geplant beginnen könne. Doch bereits während die Münchner Pressekonferenz noch lief, wurde über mögliche neue Klagen spekuliert. so twitterte die »taz«-Chefredakteurin Ines Pohl, man prüfe, ob man klage, um eine Videoübertragung für Journalisten zu erwirken. Die »taz« hatte im ersten Anlauf einen Platz ergattert und ging nun leer aus. So erging es auch dem »nd«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. April 2013


Schwarze Flecken

Der am Montag beginnende Prozeß gegen Beate Zschäpe ändert die Berichterstattung über den NSU. Die Aufklärung ist dabei längst auf der Strecke geblieben

Von Sebastian Carlens **


Am Montag, den 6. Mai soll der Prozeß gegen Beate Zschäpe und vier Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) vor dem Oberlandesgericht München beginnen. Am Montag gab die Pressestelle des Gerichts das Ergebnis der Presseplatzverlosungen bekannt: Auch die junge Welt hat das große Los gezogen – mit einem festen Presseplatz wird jW den Prozeß begleiten. Einen Platz erhalten haben unter anderem Bild, Allgäuer Zeitung, Passauer Neue Presse, Pforzheimer Zeitung, Sächsische Zeitung, Oberhessische Presse Marburg und die Lübecker Nachrichten. Focus, das Süddeutsche Magazin und der Spiegel sind ebenfalls vertreten, genauso wie das Al-Dschasira-Büro Istanbul, Radio Lora München, Svenska Dagbladet, Neue Zürcher Zeitung, Hürriyet und weitere.

Mit dem beginnenden Verfahren dürfte sich die Berichterstattung zum NSU ändern: Gaben bislang der Untersuchungsausschuß des Bundestages und seine Pendants in vier Ländern den Takt vor, wird nun der Stand der Verhandlung in den Vordergrund rücken. Der Bundestagsausschuß muß seinen Bericht an das Parlament bis Mitte Juli beenden, vorher bleibt kaum noch Zeit für weitere Vernehmungen: Planmäßig sollen im Mai die letzten Zeugen vorgeladen werden. Schon jetzt ist klar, daß der Ermittlungsauftrag kaum voll erfüllt werden kann – gehört doch auch das Verhalten der deutschen Behörden nach Bekanntwerden der rechten Terrorgruppe zum Gegenstand der Untersuchungen. Die gezielten Aktenvernichtungen Anfang November 2011 werden nicht mehr detailliert behandelt werden können.

Die Auseinandersetzungen um die Presseplatzvergabe, die zur Verschiebung des Prozesses vom 17. April auf den 6. Mai geführt haben, überlagerten die Tätigkeit der Ausschüsse ebenso wie Spekulationen, ob Beate Zschäpe vor Gericht von ihrem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch machen wird. Das ist bedauerlich, denn die Obleute im Bundestag befaßten sich in der vergangenen Woche mit Themen, die in der Geschichte des NSU bislang schwarze Flecken darstellen: Die Rolle des Terrorunterstützers und Berliner Polizeispitzels Thomas Starke und der Anschlag in der Kölner Keupstraße mit mehreren Schwerverletzten, den der NSU im Jahr 2004 begangen haben soll. Starke, der als Geliebter Beate Zschäpes engen Zugang zur Gruppe hatte, besorgte nicht nur den Sprengstoff TNT, sondern plauderte gegenüber dem Berliner Landeskriminalamt freigiebig über seine Gesinnungsgenossen: Zehn Jahre lang soll er den Behörden Erkenntnisse, darunter auch Hinweise auf den Aufenthaltsort des flüchtigen Trios, gegeben haben.

22 Menschen wurden am 9. Juni 2004 verletzt, als eine mit Nägeln gefüllte Bombe in der überwiegend von Migranten bewohnten Kölner Keupstraße explodierte. »Die Sprengvorrichtung kam zur detonativen Umsetzung«, faßte Kriminalhauptkommissar Dirk Spliethoff am Donnerstag vor dem Ausschuß zusammen. Viel mehr wußte die Polizei nicht: Eine Abfrage nach den Schlagworten »männlich«, »Koffer« und »rechtsradikal« beim Bundeskriminalamt hätte den seit 1998 flüchtigen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt ausgegeben, sagte CDU-Obmann Clemens Binninger. Sie unterbleib.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 30. April 2013


Glück-lose Aufklärung

Von René Heilig ***

Am Montag wurden jene Medien ausgelost, die direkt über den in der kommenden Woche beginnenden NSU-Prozess berichten dürfen. Was immer man zu dem neuen Verfahren sagen könnte - man sollte es lassen. Klar ist, dass die 50 auserwählten in- und ausländischen Kollegen eine besondere Verantwortung übernehmen müssen.

Auch wenn manche Maßgebenden aus Politik und Behörden versuchen, in den Alltag zurückzufallen - die notwendige Aufklärungsarbeit zu den scheußlichen Verbrechen des rechtsextremistischen Netzwerkes ist höchstens im Ansatz geleistet. Allen voran die Angehörigen der Opfer haben ein Recht auf Wahrhaftigkeit. So wie die ganze Gesellschaft verlangen muss, dass die richtigen rechtsstaatlichen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Es gilt genau zu beobachten, damit niemand den Prozess als Alibi missbraucht. Denn so sehr sich Ermittler, Medien und Untersuchungsausschüsse auch mühen - noch immer sind zahlreiche, ernste Fragen zum Entstehen der rechtsextremistischen Terrorbande, zu deren Taten und zum Versagen der für Sicherheit Verantwortlichen unbeantwortet. Nicht minder wichtig ist das Wissen: Der NSU ist Geschichte, doch er hat Methastasen gebildet. Sie wuchern weiter - über nationale Grenzen hinweg. So sehr man hofft, dass die demokratische Öffentlichkeit aus dem Geschehen lernt, so sicher ist das bei Neonazis - mit umgekehrtem Vorzeichen. Schon deshalb darf Aufklärung nicht abhängig gemacht werden von Losen und Glück.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. April 2013 (Kommentar)


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