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Schweigsam und verschlossen

Jahresrückblick 2013. Heute: NSU-Prozeß. Nebenkläger wollen umfassende Aufklärung, Bundesanwaltschaft will rasch fünf Urteile

Von Claudia Wangerin *

Wenigstens, was die Persönlichkeit der Hauptangeklagten im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) betrifft, scheint sich die These der Anklageschrift zu erhärten: Nach allem, was alte Bekannte als Zeugen vor dem Oberlandesgericht München über Beate Zschäpe sagten, war sie selbstbewußt und ließ sich nicht unterbuttern. Demnach war sie innerhalb des mutmaßlichen NSU-Kerntrios gleichberechtigt und keine naive Hausfrau, der es 13 Jahre lang verborgen bleiben konnte, daß ihre beiden Mitbewohner neunmal loszogen, um an verschiedenen Orten in der Republik Menschen nichtdeutscher Herkunft zu töten. Die Waffenfunde im Brandschutt ihrer Zwickauer Wohnung sind zwar von der Polizei schlampig dokumentiert worden, hinzu kamen aber zahlreiche weitere Beweismittel und Belege von zu den Mordanschlägen zeitlich passenden Fahrzeuganmietungen, die Zschäpes tote Gefährten belasten. Wie einer von ihnen an die »echten falschen Papiere« kam, hat der als Helfer angeklagte Holger Gerlach gestanden, der seine Identität dafür zur Verfügung gestellt hatte. Der Mit­angeklagte Carsten S. schilderte die Übergabe der mutmaßlichen Tatwaffe der rassistischen Mordserie an »die beiden Uwes«. Die Beweisaufnahme zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter steht noch aus. Für den 16. Januar ist ihr Kollege, der Polizist Martin A., als Zeuge geladen, der den Anschlag schwer verletzt überlebte. Kiesewetters Mutter soll am 21. Januar gehört werden.

Zschäpe schweigt bisher. Daß sie wußte, mit wem sie 1998 untertauchte, ist klar – zahlreiche Fotos aus den Jahren davor zeigen das Trio auf Neonaziaufmärschen. Daß sie später augenscheinlich das Geld verwaltete, das Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei Banküberfällen erbeuteten, ergab sich aus den Zeugenaussagen von Urlaubsbekanntschaften. Planerische Mittäterschaft wird ihr vorgeworfen. Ein »Lebenslänglich« für Zschäpe gilt als wahrscheinlich – auch weil ihr die Brandlegung in der eigenen Wohngemeinschaft angelastet wird, bei der das Leben einer Nachbarin gefährdet wurde.

Doch wenig bis gar nichts deutet darauf hin, daß die Bundesanwaltschaft Größe und Struktur des NSU in der Anklageschrift richtig dargestellt hat: Demnach bestand die terroristische Vereinigung nur aus drei Personen und ist seit dem mutmaßlichen Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 aufgelöst. Die Behauptung, Zschäpe sei die einzige Überlebende, wird immer noch von Journalisten übernommen. Vieles deutet aber darauf hin, daß der NSU nicht nur mehr Helfer hatte als die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten S., sowie eine Handvoll weiterer Beschuldigter. Opfer und Tatorte der überwiegend in Westdeutschland verübten NSU-Morde scheinen zum Teil von Ortskundigen ausgewählt worden zu sein, während das mutmaßliche Kerntrio, soweit bekannt, in Sachsen lebte. Wie kam es etwa 2005 in München zum Mordanschlag auf Theodoros Boulgarides, der erst zwei Wochen zuvor einen Schlüsseldienstladen eröffnet hatte, dessen Außenbeschriftung keinen Hinweis auf seine griechische Herkunft gab?

Ismail Yozgat, dessen Sohn Halit in Kassel 2006 im Alter von 21 Jahren erschossen worden war, erlitt einen Herzinfarkt und gab vor Gericht an, daß der nicht nur Folge der Tat war, sondern auch wegen der unerträglichen Gerüchte, die seinen Sohn mit Drogengeschäften in Verbindung brachten.

Ayse Yozgat, die Mutter des Ermordeten, forderte die Beiziehung von Ermittlungsakten über den früheren Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme ein. Im Jahr 2007 hatte sie die Einstellung des Verfahrens gegen Temme hinnehmen müssen, der als Hauptverdächtiger im Mordfall Yozgat galt, bis das hessische Innenministerium aus »Quellenschutzgründen« die Ermittlungen mit einer Sperrerklärung unterband. Temme war zwar vom Inlandsgeheimdienst für Observationen ausgebildet worden, will aber im Internetcafé nicht bemerkt haben, daß der junge Besitzer ermordet wurde, während er selbst an einem der Rechner saß. Im NSU-Prozeß war Temme im Dezember nicht zum letzten Mal als Zeuge geladen. Das Gericht lehnte aber die Beiziehung der Ermittlungsakten über ihn mit Ausnahme weniger Blätter ab. Der Rest sei für die Schuld- und Straffrage in diesem Verfahren nicht relevant, folgte der Senat im wesentlichen der Bundesanwaltschaft.

Die Anwälte der Familie Yozgat hatten argumentiert, es gehe um die Schaffung von Rechtsfrieden. Es sei zu klären, ob es Tatbeiträge gab, die keinem der Angeklagten zuzuordnen sind, sondern bisher unbekannten Dritten – vielleicht auch staatlichen Akteuren, die mindestens durch Nichteingreifen die Taten gefördert haben könnten. Weil dies das Strafmaß für die Angeklagten reduzieren könnte, sei es verfahrensrelevant. Dem Antrag hatten sich weitere Nebenkläger angeschlossen, aber auch die Verteidigerteams von Zschäpe und Wohlleben.

Viele dubiose Figuren in diesem Prozeß haben bisher höchstens den Status von Zeugen – und scheinen schon im Alter von 30 bis 50 Jahren unter erheblichem Gedächtnisverlust zu leiden. Obwohl ihnen der Vorsitzende Richter Manfred Götzl das offensichtlich nicht glaubt und sie energisch an ihre Wahrheitspflicht erinnert, wurde bisher niemand wegen uneidlicher Falschaussage belangt. Weder ein Szenezeuge, der angeblich nicht mehr rechtsextrem ist, obwohl er kürzlich noch entsprechende Propaganda auf seiner Facebookseite veröffentlichte, noch der vorgeblich ebenso konfuse und vergeßliche Beamte Temme, dessen früherer V-Mann Benjamin Gärtner mit einem Zeugenbeistand erschien, der vom hessischen Landesamt für Verfassungsschutz bezahlt wurde und auch dementsprechend intervenierte. Mehrere Nebenklagevertreter warfen dem Amt deshalb Verfahrenssteuerung vor.

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. Dezember 2013


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