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Neonazis rüsten auf

Aufmarsch konnte nicht blockiert werden. 1200 Rechte aus dem ganzen Bundesgebiet zogen am Samstag unter Polizeischutz durch Magdeburgs Innenstadt

Von Susan Bonath, Magdeburg *

Rund 2000 Polizeibeamte haben etwa 1200 Neonazis auf einer weiträumig abgeschirmten Route in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt »freien Lauf« garantiert. Deren »Trauermarsch zum 16. Januar 1945« war bereits der 14. in Folge, mit dem die Bombardierung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg zum Anlaß genommen wird, die Verbrechen der deutschen Faschisten zu verharmlosen. Er führte entlang einer Hauptstraße aus dem nördlichen Teil der Stadt ins Zentrum. Aktivisten sind alarmiert, sprechen von der »bislang höchsten Mobilisierung in der rechten Szene zu diesem Anlaß«. Während Vertreter von Stadt, Kirche, Vereinen und Parteien sich auf der »Meile der Demokratie« um das Image der Stadt sorgten, versuchten mehrere hundert Menschen, die Neonaziroute zu blockieren. Die Polizei reagierte mit Einkesselungen, Identitätsfeststellungen, Platzverweisen und dem Einsatz von Pfefferspray. 22 Personen wurden in Gewahrsam genommen und drei Blockaden geräumt. In den Abendstunden meldete die Polizei Ausschreitungen.

Organisatoren werteten die vierte Demokratiemeile mit rund 10000 Besuchern am Abend als »Erfolg«. Die Stadt Magdeburg, 170 Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Schulen und Bands hatten Informationsstände und ein »buntes Programm« gestaltet. Vom Hundertwasserhaus bis zum Alten Markt wurde eine »symbolische Menschenkette« gebildet. An der Synagoge am Neustädter Bahnhof hielten mehrere hundert Menschen eine Mahnwache ab. Spitzenpolitiker von Linkspartei, SPD und Grünen forderten erneut das NPD-Verbot und »Konsequenzen im Hinblick auf die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle«. Linksparteivorsitzende Gesine Lötzsch sagte: »Wir brauchen nicht nur einen Aufstand der Anständigen, sondern auch einen Aufstand der Zuständigen.«

Antifaschistische Bündnisse hatten versucht, den Aufmarsch zu blockieren. Aktivisten sprachen von »sehr aggressivem und repressivem Auftreten der Polizeieinsatzkräfte rund um eine hermetisch abgeriegelte Innenstadt«. Am Vormittag umstellten Beamte die Synagoge und verlangten zum Teil die Ausweise von Teilnehmern der Mahnwache, sowohl beim Einlaß als auch beim Verlassen. Augenzeugenberichten zufolge seien auch in nicht abgesperrten Straßen »wahllos Personen zur Identitätsfeststellung festgehalten« worden und hätten »Platzverweise und Androhungen von Ingewahrsamnahmen erhalten«. Im Nordpark sei es zu mehreren Verfolgungsjagden durch Polizeikräfte gekommen. Die Beamten räumten den Einsatz von Pfefferspray ein. Mehrere Gruppen von Aktivisten mußten stundenlang in Polizeikesseln ausharren, unter anderem auf dem Universitätsgelände. Drei Blockaden von jeweils rund 20 bis 30 Antifaschisten, die trotzdem gelangen, wurden von Einsatzkräften geräumt. Als die Neonazis gegen 16.30 Uhr an der Universität vorbeimarschierten, wurde mehrfach Pyrotechnik in Richtung des Aufzuges geworfen. Eine Mülltonne geriet in Brand.

Eine Blockadeteilnehmerin äußerte sich am Samstag abend (15. Jan.) zu junge Welt fassungslos darüber, daß »die Neofaschisten, genehmigt von Polizei und Stadt, direkt an der Demokratiemeile und damit an der Synagoge vorbeimarschieren durften«. »Das Bündnis »Blockieren MD« zeigte sich enttäuscht, daß der Aufmarsch nicht verhindert werden konnte, konstatierte aber »weitaus bessere Mobilisierung für Gegenaktionen als in den vergangenen Jahren«.

Wie die Polizei am Sonntag (15. Jan.) mitteilte, eskalierte am Abend die Situation. »Linke Jugendliche« hätten Beamte aus einer Wohnung im Bezirk Stadtfeld mit Gegenständen beworfen. Ein Polizist sei knapp von einer 40 mal 20 Zentimeter großen Betonplatte verfehlt worden. Das Gebäude, in dem sich auch ein linksalternatives Jugendzentrum befindet, wurde daraufhin von 200 Polizeikräften umstellt. Nach Verhandlungen, in die auch zwei Anwälte eingebunden waren, ließen die 50 Bewohner des Hauses gegen Mitternacht ihre Personalien aufnehmen und verhinderten so eine Stürmung des Gebäudes. Jetzt ermittele die Staatsanwaltschaft wegen »versuchten Totschlags«. Es existiere eine Personenbeschreibung des Täters. Hausbewohner erinnern sich jedoch nur, »daß mehrere Feuerwerkskörper sowie Teile von Blumentöpfen und eines Waschbeckens geflogen sind«. Zuvor habe die Polizei die Jugendlichen »rabiat« vom Hauptbahnhof nach Stadtfeld »getrieben«.

Indes wurde in der Nacht zum Sonntag erneut ein Anschlag auf das Wahlkreisbüro des Magdeburger Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Wulf Gallert, verübt, wie die Partei am Sonntag erklärte. Bei diesem »zweiten Übergriff innerhalb kürzester Zeit« seien Scheiben zu Bruch gegangen.

* Aus: junge Welt, 16. Januar 2012


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