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Facetten einer Nötigung

Die LINKE, der Antisemitismus und der Nahost-Konflikt

Von Jürgen Reents *

Es begann mit 16 Blatt Papier, auf denen die Autoren Sebastian Voigt und Samuel Salzkorn ihre Behauptungen ausbreiteten, dass in der Linkspartei antisemitische Positionen »immer dominanter« würden und »der antizionistische Antisemitismus« in der LINKEN »zu einer weitgehend konsensfähigen Position« geworden sei. Der zuerst von der »Frankfurter Rundschau« (18. Mai) als »Studie« vorgestellte Text war hinsichtlich seiner Behauptungen völlig belegfrei, hatte allerdings – das hätte von vornherein auffallen dürfen – keinen wissenschaftlichen, sondern einen rein ideologischen Zweck: Überschrift »Antisemiten als Koalitionspartner?«, Schlusssatz: »Antisemiten können keine Koalitionspartner sein.« Als politisches Pamphlet war er so geradezu prädestiniert, von Union und FDP im Bundestag in einer Aktuellen Stunde (25. Mai) gegen die Linkspartei eingesetzt zu werden, dabei auch SPD und Grüne gegen etwaige missliebige Farbenspiele zu domestizieren.

In dieser Bundestagsdebatte fiel die LINKE noch nicht darauf herein. Ihre Abgeordnete Luc Jochimsen mühte sich in den ihrer Fraktion zustehenden fünf Minuten außerordentlich tapfer und gegen viel Gebrüll, den weitgehend niveaulosen elf Redeaufgeboten der anderen Fraktionen Verstand entgegenzuhalten. In die aufgestellte Falle tappte die LINKE erst zwei Wochen später mit einem Beschluss ihrer Bundestagsfraktion, in dem sie gegenüber der israelischen Regierung kritische Positionen und Aktionen, die teilweise aus der Linkspartei heraus mitgetragen werden, selbst in die Nähe des Antisemitismus brachte. Der Nötigung folgte die verzögerte Bereitschaft, sich nötigen zu lassen.

Die Frage ist, ob und wie die Linkspartei aus dieser Falle wieder herauskommt. Offenbar wird die Idee verfolgt, den am 7. Juni beschlossenen Drei-Punkte-Katalog gegen Antisemitismus, der für dessen Bekämpfung schlicht untauglich ist, auf einer nächsten Fraktionssitzung durch einen zweiten Katalog mit jenen Punkten fortzuschreiben, in denen die Fraktion den Vorwurf des Antisemitismus »inflationär« gebraucht sieht. Die beabsichtigte politische Demontage, die inzwischen zu einer Selbstdemontage zu werden droht, lässt sich mit solchen Überlegungen kaum kontern. Falsches wird so nicht aus der Welt geschafft. Überdies beflügeln solche Kataloge nur eine – von der jeweils eigenen Sicht geleitete – Suche nach Fehlstellen.

Offenbar braucht die LINKE eine Art Auszeit (man könnte auch sagen: eine Papier- und Mikrofonpause), in der sie zunächst gründlich über alle Aspekte nachdenkt, die mit den Themen Antisemitismus und Nahost-Konflikt zu tun haben. Es gibt längst zu viele Erklärungen auf diesem Feld, die auf zu viel ideologischer Erregung und auf zu wenigen Argumenten gründen.

Muss die LINKE sich mit dem Problem des Antisemitismus auch in eigenen Reihen befassen? Ja, aber auf andere Art und Weise. Der Grüne Volker Beck – der neben Edelgard Bulmahn und Sebastian Edathy von der SPD auch nachdenklichere Töne ins Bundestagstribunal gegen die LINKE mischte – machte in seiner Plenarrede auf das gesamtgesellschaftliche Problem antisemitischer Ressentiments aufmerksam und sagte: »Ich finde, wir alle sollten selbstkritisch sein und sagen: Auch in unseren Parteien hat es Problemfälle gegeben.«

Die LINKE muss sich zum Beispiel fragen, warum es Monate dauerte, bis ein auf der Website des Duisburger Kreisverbandes geschmuggeltes antisemitisches Pamphlet entdeckt und Strafanzige dagegen gestellt wurde. War es nur Nachlässigkeit, dass niemand der Verantwortlichen hin und wieder mal auf den eigenen Webserver schaut, was dort so angeboten wird? Oder gab es in eigenen Reihen eine »Ach, nicht so wichtig«Reaktion? Diese Fragen sind bislang unbeantwortet und man hört nicht, dass auf ihre Beantwortung gedrängt wird. Und die LINKE steht zum Beispiel vor der Frage, was es mit einigen durch die Medien und den eigenen Streit geisternden Zitaten auf sich hat, denen zufolge das Existenzrecht Israels eine »läppische« Frage sei und ähnliche Gedankenlosigkeiten. Die konkrete Aufklärung und ggf. Zurückweisung untragbarer Ressentiments musste bislang weitgehend vermisst werden.

Die LINKE hat dagegen keinen Grund, am ideologischen Koordinatenverschub des Antisemitismus-Vorwurfs mitzuwirken. Medial wird inzwischen der Eindruck erweckt, als sei sie der Stoßtrupp des Antisemitismus in unserem Land. Christian Bommarius kommentierte in der »Berliner Zeitung« in dieser Woche: »In keiner Partei sind mehr antirassistische Israelkritiker zu Hause als in der Linken« und überschrieb dies schnappig mit »Kostümierte Antisemiten«. Lorenz Maroldt, Chefredakteur des »Tagesspiegel«, gastierte auf der Website der »Zeit« mit der absurden Auskunft, dass die Masse antisemitischer Äußerungen »bedrohlich gewachsen« und zur »flächendeckenden Entwicklung« in der Partei geworden sei.

Am deutlichsten zugespitzt (besser: verplattet) hat die Debatte nun Michael Wolffsohn, der an der Bundeswehr-Hochschule in München Neuere Geschichte lehrt. In der »Financial Times Deutschland« schrieb er: »Die Juden … identifizieren sich mit dem Kern der kapitalistischen Philosophie: Aufstieg durch Leistung und Belohnung von Leistung.« Ihre »grundsätzliche Identifizierung mit Liberalismus und Kapitalismus lässt sich nicht abstreiten. Sie ist eine Tatsache. Nur im liberal-kapitalistischen System konnten und können sich Juden frei entfalten …«. Das ist nicht nur eine äußerst gelinde Definition dessen, was den »Kern der kapitalistischen Philosophie« ausmacht, sondern vor allem eine recht krude Zuordnung einer kompletten Religionsgemeinschaft oder Ethnie – wie auch immer der Professor es hier meint – zu einer spezifischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Der Jude als kapitalistisches Naturell, woran erinnert das nur?

Seine Nähe zu völkischer Betrachtungsweise veranlasst den Professor und FTD-Autor zu einer im eigenen Gedankengebäude logischen These. Die lautet: »Die Juden sahen und sehen sich als Teil der ›Bourgeoisie‹. Die wiederum sahen und sehen die traditionelle Linke ebenso wie die Partei Die Linke marxistisch formuliert als ›Klassenfeind‹.« Folglich: »Die Linke ist antisemitisch. Sie muss es sein, wenn sie links sein will. Wer nicht antisemitisch sein möchte, hat im Prinzip in der Partei nichts zu suchen.«

Wolffsohn mag ein Ausnahmetalent solcher Argumentation sein, doch die Unterstellung, dass der Antisemitismus im Antikapitalismus der LINKEN keime, versteckt sich in vielen Varianten. Die Wahrheit liegt auf der anderen Seite: Die Verknüpfung von Judenhass und sozialer, antikapitalistischer Demagogie ist ein Geschöpf der Nazis.

Im Dezember 1984 bereiste ich mit einer Bundestagsdelegation der Grünen einige Länder im Nahen Osten. Unsere Stationen waren Libanon, Syrien, Jordanien, die Westbank und Israel. In Amman verbrachten wir den ganzen Abend des 24. Dezember mit Jassir Arafat und anderen PLO-Vertretern. Nach unserer Einreise über die Westbank nach Israel wurden wir in der Tageszeitung »Ma'ariv« mit einer Karikatur begrüßt. Sie zeigte einen die Straße querenden Grünen mit einem Rucksack, aus dem Arafat lugte, die Hand zum Victory-Zeichen emporstreckend – gegenüber eine Ampel, an der ein Mann mit KZ-Kleidung und Judenstern aufblinkte. Die Botschaft war eindeutig: Mit Arafat im Gepäck auf dem Weg zu neuer Judenvernichtung.

Das Grundmuster dieser Botschaft hat sich über alle Jahre erhalten. Arafat wurde später vom Terroristen zum Verhandlungspartner begnadigt (wie nicht anders Nelson Mandela in Südafrika), man ließ ihn jedoch mit leeren Händen, bis er durch andere, die man nun als Schurken brandmarkte, ersetzt werden konnte. Indes beruht die Weigerung Israels, sich aus den seit 1967 besetzten und zum Teil widerrechtlich annektierten Gebieten zurückzuziehen, auf eben dieser Unterstellung: Die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates würde die Existenz Israels gefährden und seine jüdische Bevölkerung erneut der Gefahr der Vernichtung aussetzen.

Im Kern ist es diese Unterstellung, die Behauptung fundamentaler Israelfeindlichkeit und eines arabischen bzw. palästinensischen Antisemitimus, die auch die Haltung der in der westlichen Welt dominierenden Staaten prägt. Sie weigern sich, der israelischen Besetzung palästinensischer Gebiete, dem Landraub, dem Bau illegaler Siedlungen und allerlei Militärwillkür seitens der mal konservativen, mal sozialdemokratischen Besatzungsregimes wirksam entgegenzutreten. Zwar kann auf mehrere UN-Resolutionen verwiesen werden, die einen Rückzug Israels von fremdem Territorium verlangen und das Recht auf palästinensische Staatsbildung an der Seite Israels bekräftigen, doch erweist sich dies bislang als völlig folgenlos.

Eine prinzipielle Gegnerschaft gegen die Existenz des israelischen Staates findet sich bei den umgebenden arabischen Staaten nicht mehr, auch nicht in der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung in Westjordan und Gaza. Man ist längst auf ein friedliches Nebeneinander in der Region bedacht, zu dem aber gehört, dass Israel endlich seine 44 Jahre dauernde Besetzung und Besiedlung palästinensischer Gebiete aufgibt und ein souveräner Staat Palästina neben Israel entstehen kann. Die Vorenthaltung dieses Rechts durch Israel lässt die Gewaltspirale nicht zur Ruhe kommen und treibt immer wieder zu blutiger Radikalisirung auf mehreren Seiten an. Die in Gaza derzeit dominierende Hamas, deren Programm von israel- und judenfeindlichem Denken getragen ist, konnte ihre Unterstützung bei Teilen der palästinensischen Bevölkerung schließlich finden, weil der staatlichen Emanzipation der Palästinenser von israelischer Besatzung und Bedrängung der Erfolg bis heute versagt wurde.

Die LINKE hat sich dem Druck und der Nötigung, gegenüber völkerrechtswidrigen Maßnahmen der israelischen Politik letztlich nachsichtig zu sein, bislang nicht gebeugt. Dies weiter auszuhalten, ist nicht für den realen Verlauf im Nahen Osten relevant, aber für das Selbstverständnis dieser Partei und ihre Bündnisfähigkeit nicht zuletzt mit Partnern in Israel und Palästina, die für Gerechtigkeit streiten und von denen sich nicht wenige ausgesprochen kritisch zur aktuellen Antisemitismus- und Israel-Debatte zu Wort gemeldet haben.

Die Befürchtung eines Paradigmenwechsels, der nicht Resultat eines vermeintlichen Wahrheitsgehalts der medialen Beschuldigungen, sondern der Einordnung ins außenpolitische Raster der westlichen Dominanz ist, kam erstmals auf, als Gregor Gysi vor drei Jahren auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Begriff der »Staatsräson« als »nicht einfach nur eine konservative Marotte« für die LINKE enttabuisierte und das Verhältnis zu Israel als ein solches der »Staatsräson« definierte.

Eine der Fragen, die Gysi damals in seinem Referat auch aufwarf, lautete, »wie weit antisemitische Einstellungen den arabischen Antizionismus prägen«. Und er beantwortete sie mit einem Bezug auf die – namentlich vor der israelischen Staatsgründung 1948 von linken Juden und Arabern vertretene – Befürwortung eines bi-nationalen Staates wie folgt: »Wer nur einen Staat für Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser mit demokratischer Struktur will, akzeptierte damit heute, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit stellten, alles besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wie seit Tausenden von Jahren wieder begännen, nicht zu verhindern wären.«

Die Frage eines solchen Staates ist nach über 60-jähriger Existenz des israelischen und gleich langer Nichtexistenz eines palästinensischen Staates obsolet, vielleicht für einige Gegenstand ferner Träume, so wie es der eines nicht mehr national organisierten Europas ist. In Gysis Antwort aber lag der Verdacht der Wiederholung des Holocaust durch die Palästinenser bzw. Araber.

Die LINKE hat über etliche Fragen nachzudenken. Sie sollte sie rational, mit mehr Vernunft klären.

* Jürgen Reents, Jahrgang 1949, ist Chefredakteur des ND.

Aus: Neues Deutschland, 25. Juni 2011



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