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LINKE: Einsatzkommando stürmte falsches Haus

Handys, Computer und Unterlagen wurden beschlagnahmt, Personen in Haft genommen *

Der sächsischen Polizei ist bei ihrer Jagd nach vermeintlich linksextremistischen Gewalttätern möglicherweise ein peinlicher Fehler unterlaufen. Nach Angaben der LINKEN vom Dienstag stürmte ein Spezialeinsatzkommando des Landeskriminalamtes (LKA) am vergangenen Samstag in Dresden das falsche Haus. Bei dem Einsatz am Rande der Neonazi-Aufmärsche waren die Parteizentrale der LINKEN in Sachsen, ein Anwaltsbüro und Räume zweier Vereine betroffen.

Der Jurist und LINKE-Politiker André Schollbach fand am Dienstag heraus, dass die Staatsanwaltschaft Dresden eigentlich eine Durchsuchung des Gebäudes Großenhainer Straße 86a beantragt hatte. Dort residiert der linke Jugendverein »Roter Baum«. Tatsächlich landeten die Beamten im Haus Nummer 93 auf der anderen Straßenseite, wo der »Rote Baum« weitere Flächen nutzt. Das Haus 86a blieb verschont. »Der durch das LKA zu verantwortende Einsatz scheint komplett aus dem Ruder gelaufen zu sein«, sagte Schollbach. Ohne jede Rechtsgrundlage sei das Haus gestürmt und beschädigt worden. Schollbach wurde anfangs sogar an der Ausübung seines Mandats als Rechtsanwalt gegenüber seinem Mandant LINKE gehindert. »Erst nach lautstarker Intervention erhielt ich das Recht, mit dem Mandanten allein sprechen zu können.« Sogar ein selbstständiger Toilettengang wurde ihm verwehrt. Erst nach seiner Aufforderung sei Stunden später ein Beamter erschienen, der sich als Einsatzleiter bezeichnet habe.

»Das Sondereinsatzkommando agierte wie ein übermotiviertes Überfallkommando, und das offensichtlich ohne Einsatzleiter«, ergänzt der Parteichef der LINKEN, Rico Gebhardt. Polizisten traten die Türen mit Brachialgewalt ein, nahmen mehrere Personen über Nacht in Haft, beschlagnahmten während der Durchsuchung 25 Mobiltelefone, 21 Computer sowie weitere Unterlagen, so Gebhardt. 21 Menschen hätten sich in dem Gebäude aufgehalten, 20 von ihnen seien zur Polizeidirektion Dresden gebracht worden, um die Identitäten festzustellen.

LKA und Staatsanwaltschaft hatten am Montagabend kurz Stellung bezogen. Demnach habe man Kenntnisse erhalten, dass sich in dem Gebäude Linksextreme aufhielten, die Gewaltstraftaten in Dresden koordinierten. Dem widerspicht Schollbach entschieden. Er habe sich über die Situation im Haus informiert, von dort wurden Aktionen im Zusammenhang mit »Dresden Nazifrei« koordiniert, alles öffentlich und frei zugänglich, auch für die Presse, betonte Schollbach. Das Haus stand für Demonstranten als Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung. Linksextreme Aktivitäten habe es dort nicht gegeben.

Schollbach kündigte als Rechtssanwalt der LINKEN rechtliche Schritte gegen die Durchsuchung und Beschlagnahmung von Computern und Mobiltelefonen an. Zugleich will er Schadensersatzansprüche gegen den Freistaat Sachsen geltend machen.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2011


Dresdner Nazi-Pleite mündet in Häuserkampf

Polizeischelte nach Razzia bei "Nazifrei"-Bündnis und Angriff auf alternatives Wohnhaus

Von Hendrik Lasch, Dresden **


Nach dem verhinderten Naziaufmarsch in Dresden wächst die Kritik an der Polizei, die bei einer Razzia in den Räumen der Stadt-LINKEN schwere Fehler beging, aber ein alternatives Wohnprojekt nicht vor Nazis schützte.

Die Polizeirazzia in der Pressezentrale des Bündnisses »Dresden nazifrei« am Samstagabend (19. Feb.) ruft Empörung hervor. Nachdem Gegendemonstranten Naziaufmärsche in der Stadt verhindert hatten, versuche das Landeskriminalamt Sachsen (LKA), diesen »legitimen, demokratischen Protest zu kriminalisieren«, heißt es in einem offenen Brief, dessen Unterzeichner die Grüne Astrid Rothe-Beinlich, der Jenaer OB Albrecht Schröter, LINKE-Chef Klaus Ernst und Liedermacher Konstantin Wecker sind.

Die Polizeiaktion richtete sich gegen das »Haus der Begegnung« (HdB), in dem die Stadtgeschäftsstelle der LINKEN, einige Vereine und ein Anwalt ansässig sind. Das Gebäude war von einem Sondereinsatzkommando gestürmt worden. Dabei wurden Türen aufgesägt, Räume durchsucht, Rechner beschlagnahmt, 15 Anwesende, darunter zwei ältere Ehrenamtliche der LINKEN, über Nacht in Gewahrsam genommen, berichtet André Schollbach, Fraktionschef im Stadtrat. Die Beamten hätten neben den Räumen des Jugendvereins »Roter Baum«, die laut einem nur mündlich mitgeteilten Durchsuchungsbefehl das Ziel der Aktion waren, auch Büros der Partei, des Rechtsanwalts sowie eine Privatwohnung durchwühlt.

André Schollbach, selbst Jurist, wirft den Beamten vor, »jedes Maß verloren« und »ein Exempel statuiert« zu haben, nachdem die Polizeitaktik zur Trennung von Nazis und Gegendemonstranten und der Verhinderung jeglicher Blockaden gescheitert war. Die Durchsuchung sei »ersichtlich rechtswidrig« gewesen. Den Sachschaden in Höhe von mehreren tausend Euro werde man dem Freistaat in Rechnung stellen. Über politisch-parlamentarische Konsequenzen aus dem Fall will die LINKE heute informieren; gestern sollte zunächst der Aktenvermerk der Richterin eingesehen werden, die die Razzia genehmigt hatte. Der Dresdner Anwaltverein nannte derweil die Durchsuchung der Anwaltskanzlei einen »unglaublichen Vorgang«. Das Bündnis »Dresden nazifrei« sieht die Aktion als Racheakt.

Die Staatsanwaltschaft Dresden verteidigte gestern das Vorgehen. Die Pressezentrale von »Dresden nazifrei« sei durchsucht worden, weil der Verdacht der »Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Anstiftung zu Gewaltstraftaten« bestehe, so Sprecher Jan Hille. Früheren Aussagen eines Kollegen, wonach nur Räume des »Roten Baums« im Visier gewesen seien, widersprach er mit Hinweis auf »Kommunikationsprobleme«. Die Überwachung von Telefonaten habe den Verdacht auf das HdB gelenkt, nicht auf konkrete Räume: »Wir mussten den gesamten Gebäudekomplex durchsuchen.« Den Vorwurf übertriebener Härte wies er zurück. Türen habe man aufgebrochen, weil »ein gewisses Überraschungsmoment« nötig war.

Ob derlei Begründungen ausreichen, den Einsatz zu rechtfertigen, ist abzuwarten. Generell wird das Verhalten der Polizei am Samstag Nachwehen haben. Nur einen Tag, nachdem Polizeipräsident Dieter Hanitsch die starke Gewalt gegen die Beamten beklagt und die Einsetzung einer »Sonderkommission 19. Februar« angekündigt hatte, warf die SPD der Polizei »Totalversagen auf ganzer Linie« vor und beantragte eine Sondersitzung des Innenausschusses. Stadt, Freistaat und Polizei hätten die Situation »nicht ansatzweise im Griff« gehabt, sagte Fraktionschef Martin Dulig. Er frage sich, warum angesichts der Lage nicht der polizeiliche Notstand ausgerufen wurde. Nicht nur Dulig wies darauf hin, dass die Überforderung der 4500 Polizeibeamten noch fatalere Folgen hätte haben können, wenn wie angekündigt 4000 oder mehr Nazis nach Dresden angereist wären. Einen Eindruck davon vermitteln Bilder einer Attacke militanter Nazis auf das alternative Wohnprojekt »Praxis« im Stadtteil Löbtau. Das wurde durch eine Gruppe von 50 Nazis angegriffen, die mit Steinen und Stangen auf das Gebäude losgingen und »Wir kriegen Euch alle« skandierten. Unklar ist, warum das Gebäude nicht geschützt wurde, obwohl es nicht nur auf der eigentlich für die Nazis reservierten Altstädter Elbseite liegt, sondern als Ziel für Attacken bekannt ist. 2010 wurde das Haus, an dessen Fassade die Parole »Es ist immer Sommer« prangt und dessen Bewohner Nachbarn zufolge »jeder Militanz unverdächtig« sind, just am Vorabend des 13. Februar von Rechten angegriffen; im August folgte ein Brandanschlag.

Polizeichef Hanitsch hat angekündigt, den Vorfall untersuchen zu wollen. Er erklärte zudem, die Polizei habe »die Lage bereinigt«. Ein Video, das im Internet zu sehen ist, zeichnet ein anderes Bild: Demnach standen wenige hundert Meter entfernt zwei Streifenwagen der Polizei, ohne in das Geschehen einzugreifen.

Derweil wurde gestern (21. Feb.) bekannt, dass die Staatsanwaltschaft gegen 70 Teilnehmer von Blockaden, darunter Landtagspolitiker von LINKE, SPD und Grünen, wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz vorgehen will. Die FDP fordert eine gerichtliche Prüfung, wie die Stadt »durch Auflagen gewalttätige Exzesse von Extremisten unterbinden kann«. Dazu solle Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegt werden, das die Nazi-Veranstaltungen am Samstag erst erlaubt hatte.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Februar 2011


Gewalt ging von der Polizei aus ***

Am Samstag (19. Feb.) ist die Polizei brutalstmöglich gegen Antifaschisten in Dresden vorgegangen, die Europas größten Neonaziaufmarsch verhindern wollten – und das auch getan haben. Nun beginnen Stimmungsmache und Ermittlungen gegen die Nazigegner. Insgesamt wurden am Samstag 78 Antifaschisten am Rande der Blockaden festgenommen und 60 Strafanzeigen unter anderem wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung erstattet. Sachsens Polizeipräsident Dieter Hanitsch kündigte die Gründung einer Sonderkommission zur Aufklärung von »Gewaltanwendungen gegen Polizeibeamte« an.

Dabei vermittelten Tausende Menschen, die sich am Samstag (19. Feb.) an den Blockaden gegen die Neonazis beteiligt haben und denen es dadurch gelungen ist, den braunen Aufmarsch zu verhindern, ein friedliches Bild. Im Gegensatz zur Polizei. Trotz Minusgrade gingen die Beamten mit Wasserwerfern gegen Sitzblockierer vor, setzten Schlagstöcke, Tonfas, Pfefferspray, »Pepperball«-Pistolen sowie Hunde gegen Antifaschisten ein und sorgten damit für eine große Anzahl von Verletzten, darunter auch Schwerverletzte. Ermuntert wurde die Polizei zu so brutalem Vorgehen von sächsischen Gerichten, die einforderten, daß den Neonazis ihr Marsch durch den »Einsatz geeigneter polizeilicher Mittel« ermöglicht werden müsse.

Auch die Erstürmung des »Hauses der Begegnung«, das von linken Gruppen genutzt wird, durch ein Sondereinsatzkommando am Samstag abend im Dresdner Ortsteil Pieschen bringt die zuständigen Behörden zunehmend in Erklärungsnot. 100 teils vermummte Beamte waren offensichtlich ohne Rechtsgrundlage in das in Eigentum der Linkspartei befindliche Gebäude eingedrungen. Das Bündnis »Dresden nazifrei!« sprach von »einem Racheakt der Polizei«. Hintergrund der Razzia ist, daß sich in dem dreistöckige Bürohaus auch Räume des Vereins »Roter Baum« befinden. In einem der Räume hatte das Bündnis »Dresden nazifrei!« ein Pressebüro eingerichtet. Bei der Erstürmung konnten die Beamten zunächst keinen Durchsuchungsbeschluß vorweisen und verwiesen auf eine »mündliche« Anweisung der Staatsanwaltschaft. Zudem weitete man die Razzia willkürlich gleich noch auf das gesamte Gebäude aus –darunter die Büros der Linkspartei sowie von Jugendgruppen und einer Anwaltskanzlei.

Der Dresdner Anwaltsverein kritisierte die Polizeiaktion: »Die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei ohne richterliche Genehmigung ist ein unglaublicher Vorgang«, erklärte der Vereinsvorsitzende Michael Sturm am Montag in einer Erklärung. Sturm verwies auch darauf, daß mehreren zum Zeitpunkt der Razzia anwesenden Personen über Stunden Handfesseln angelegt worden waren und zwei Mitglieder der Linken die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen mußten. Katja Kipping, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke und selbst anwesend bei der SEK-Erstürmung, verurteilte den Einsatz als »unverhältnismäßig«.

*** Aus: junge Welt, 22. Februar 2011


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