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Raketenabwehr in Europa: Eiserner Vorhang 2.0

Von Konstantin Bogdanow, RIA Novosti *

Die schleppend verlaufenden russisch-amerikanischen Raketenabwehrgespräche wurden gestern in Moskau fortgesetzt. Eine Einigung scheint weiter außer Reichweite: Der Kreml spricht immer wieder von Gefahren, während der Westen seine friedlichen Absichten in Bezug auf Russland beteuert. Der russische Generalstab zeigt sich mittlerweile zu drastischen militärtechnischen Maßnahmen bereit.

Altbekannte Warnungen an den Westen

Die russische Seite verschärft im Streit um die Raketenabwehr absichtlich den Ton: Generalstabschef Nikolai Makarow warnte erneut, dass Moskau „im Falle einer Eskalation“ seine konventionellen Waffen gegen die US-Raketenabwehr einsetzen könnte, die an den russischen Grenzen stationiert seien. Dem General zufolge kämen dabei Iskander-Raketen im Gebiet Kaliningrad infrage.

Eigentlich handelt es sich um keine Neuigkeit. Russlands scheidender Staatschef Dmitri Medwedew hatte bereits im November 2011 die Aufstellung von Iskander-Raketen erwogen.

Aber diesmal sprach Moskau nicht nur von abstrakten „adäquaten Maßnahmen“, sondern brachte seine konkreten Besorgnisse um die Situation an ihren westlichen und südlichen Grenzen zum Ausdruck.

Ende der Welt in Bildern

Der amtierende Vize-Generalstabschef Valeri Gerassimow (vor einer Woche wurde er zum Befehlshaber des Militärbezirks Zentrum ernannt), zeigte bei dem gestrigen Gespräch mit den Amerikanern modellierte Raketenstarts vom russischen Territorium angesichts der neuen US-amerikanischen Informations- und Feuermittel sowie deren Zusammenwirkens mit den US-Raketenabwehranlagen in Fort Greely (Alaska) und Vandenberg (Kalifornien). Was die russischen Militärs damit bezwecken wollten, liegt auf der Hand: Sie wollten auf die Gefahren hinweisen, die von dem globalen US-Raketenabwehrsystem ausgehen.

Zugleich zeigten die Russen Sinn für Humor: Sie zeigten nämlich, dass iranische Raketen im Falle eines Angriffs auf die USA von der europäischen Raketenabwehr nicht abgefangen werden können, und wenn ja, dann zusammen mit russischen Raketen, die vom europäischen Teil Russland gestartet werden. (Letzterer Aspekt würde aber den Behauptungen Washingtons widersprechen.)

Wenn Russland und die USA eine gemeinsame Raketenabwehr aufbauen würden, dann könnten Anlagen im Südrussland die Gefahr eines iranischen Raketenstarts minimieren. „Aber eine solche Integration der Raketenabwehrsysteme akzeptieren unsere Nato-Freunde nicht“, stellte ein russischer General bedauernd fest.

Der stellvertretende Nato-Generalsekretär Alexander Vershbow betonte lediglich, er könne die Schlussfolgerungen des russischen Generalstabs nicht nachvollziehen, und ergänzte, dass Russland ohnehin viele Atomraketen habe, die den US-Raketenschild leicht durchbrechen könnten.

Vershbow beteuerte abermals, dass dieses System gegen einzelne Starts von ballistischen Raketen gerichtet sei und den russischen strategischen Atomstreitkräften nichts entgegenstellen könnte.

Dieselben Thesen formulierte die US-Vize-Verteidigungsministerin Madelyn Creedon, die die Schlagkraft und technische Perfektion der russischen Raketentruppen lobte und immer wieder ihre Fähigkeit zur Überwindung der US-Raketenabwehr hervorhob. Auch sie beteuerte erneut, dass das Abwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet sei.

Gefährlich sind nicht einzelne Ziegelsteine, sondern eine Mauer

Dabei „übersahen“ die Amerikaner wohl die wichtigste These, die General Gerassimow geäußert hatte: die enge Vernetzung der US-amerikanischen Informations- und Feuermittel sowohl der nationalen als auch der europäischen Raketenabwehr. Darüber hinaus betonte Creedon demonstrativ, dass sie die nationale Raketenabwehr getrennt von der europäischen betrachte, weil das zwei verschiedene Projekte seien, die unterschiedliche Aufgaben haben.

Aber ausgerechnet im Zusammenwirken einzelner Elemente besteht der wichtigste Effekt von diesem Plan Washingtons: Einzelne „Ziegelsteine“ sind tatsächlich ungefährlich für Russland. Wenn aber daraus eine „Mauer“ entsteht, sieht die Situation anders aus. Zwischen dem Osten und dem Westen könnte bald wieder ein „Eiserner Vorhang“ entstehen – diesmal auf wissenschaftlich-technischer Basis.

Diese Kompatibilität der Informations- und Feuermittel zwingt Moskau, den US-Raketenschirm sehr ernst zu nehmen. Bislang bedeutet er jedoch keine Gefahr für Moskau. Wer kann aber genau voraussagen, wie sich die Situation mittelfristig verändern könnte? Welche Kampfmittel könnten in zehn oder 20 Jahren die US-Grenzen schützen?

Bislang zeigen die Seiten nur, dass sie zu Kompromissen unfähig sind, so dass vor unseren Augen ein neues Raketen-Wettrüsten beginnt.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, Freitag, 4. Mai 2012; http://de.rian.ru


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