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Nato-Raketenabwehr – nur symbolische Beiträge der Europäer?

Ein Beitrag von Jerry Sommer aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderation):
Die NATO hat auf ihrem Gipfel im November 2010 beschlossen, ein Raketenabwehrsystem aufzubauen, das die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten vor Raketenangriffen schützen soll. Ein Jahr zuvor hatte bereits US-Präsident Obama angekündigt, in Europa einen amerikanischen Schutzschild zu errichten. Die USA spielen dann auch bei der NATO-Raketenabwehr eine Schlüsselrolle. Obwohl es sich um ein Bündnisprojekt handelt, sind die Beiträge der Allianzmitglieder eher bescheiden. Jerry Sommer über den gegenwärtigen Stand des Rüstungsvorhabens:


Manuskript Jerry Sommer



O-Ton Rasmussen
„Our goal is to have an interim capability by the time of our summit.”

„Unser Ziel ist es, auf dem Gipfel eine ‚Anfangsbefähigung‘ für das System zu verkünden“, so NATO-Generalsekretär Rasmussen im Juni vergangenen Jahres. Diese Erklärung hat eher symbolische Bedeutung. Adressat ist vor allem die Öffentlichkeit. Denn die USA gehen bei ihren Planungen davon aus, dass ihre in Europa stationierten Abfangsysteme frühestens 2020 in der Lage sein werden, Raketenangriffe auf das gesamte Territorium der europäischen NATO-Staaten abzuwehren.

Um die vom NATO-Generalsekretär angestrebte Anfangsbefähigung bis zum NATO-Gipfel im Mai zu erreichen, müssen noch einige Probleme gelöst werden. Vor allem muss der NATO-Rat die Kommando- und Kontrollbefugnisse und die Einsatzregeln einvernehmlich festlegen. Denn die Systeme, die für die territoriale NATO-Raketenabwehr im vergangenen Jahr bereit gestellt wurden, sind US-Systeme. Seit rund einem Jahr ist ein US-Kreuzer der Aegis-Klasse mit Abfangraketen vom Typ „Standard Missiles 3“, kurz SM-3, im Mittelmeer unterwegs. In der Türkei ist im vergangenen Monat ein neues US-Radar aufgestellt worden, das anfliegende Raketen besser erkennen soll.

Zusätzlich wollen die USA in Rumänien 2015 und in Polen 2018 landgestützte SM-3-Abfangraketen stationieren. Spanien hat seinen Hafen Rota an der Atlantikküste für insgesamt vier US-Aegis-Schiffe mit Abfangraketen zur Verfügung gestellt.

US-Präsident Obama hat angekündigt, dass er diese Systeme in Krisenzeiten der NATO unterstellen wird. Angesiedelt ist das Raketenabwehr-Kommando bei dem NATO-Luftkommando auf der US-Basis im rheinland-pfälzischen Ramstein. Geführt wird es von einem US-General. Auch der NATO-Oberbefehlshaber kommt immer aus den USA. Das letzte Wort hat also Washington, meint die Rüstungsexpertin Svenja Sinjen von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin:

O-Ton Sinjen
„In der Realität hat sich immer gezeigt, wenn bedeutende Fähigkeiten von den Amerikanern in die NATO eingebracht wurden, dass die Amerikaner am Ende des Tages auch über den Einsatz dieser Fähigkeiten entschieden haben. Nach allem, was man bislang absehen kann, wird es auch beim Thema Raketenabwehr dabei bleiben.“

Vor rund zwei Jahren warb NATO-Generalsekretär Rasmussen für die Raketenabwehr unter anderem mit dem Argument, dass sie für alle 28 NATO-Staaten zusammen über 10 Jahre verteilt, nur 200 Millionen Euro kosten würde. Inzwischen aber drängt er auf mehr nationale Beiträge. Rasmussen:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Der Beitrag der Vereinigten Staaten ist allein nicht ausreichend. Um das gesamte europäische NATO-Territorium effektiv verteidigen zu können, müssen die amerikanischen Anlagen durch Raketenabwehrsensoren und Abfangraketen anderer Nationen ergänzt werden“.

Eine Begründung für diese angebliche Notwendigkeit lieferte Rasmussen allerdings nicht. Eine konkrete Architektur für das Raketenabwehrsystem für Europa liegt bisher nicht vor – niemand weiß, gegen wie viel angreifenden Raketen, wie viele Abfangsysteme welchen Typs benötigt würden und von welcher Abschuss-Erfolgsquote die NATO eigentlich ausgeht. Wenn man den Angaben der Obama-Administration folgt, würden ohnehin die von den USA geplanten Anlagen ausreichen. Zusätzliche Radaranlagen und Abfangraketen wären also überflüssige Doppelungen. Außer den USA haben bisher nur die Niederlande einen eigenen nationalen Beitrag angekündigt. Sie wollen die Radaranlagen ihrer vier Flugabwehr-Fregatten für 100 bis 250 Millionen Euro so modernisieren, dass sie ab 2017 zur territorialen NATO-Raketenabwehr beitragen können.

Die Bundesregierung sieht sich offensichtlich ebenfalls unter Druck, sich mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière erklärte in der vergangenen Woche am Rande des NATO-Verteidigungsministertreffens in Brüssel:

O-Ton de Maizère
„Deutschland kann sich vorstellen, die, Patriot'-Raketen, die in Deutschland sind, auch als ein Teil dieses Abwehrsystems zur Verfügung zu stellen."

Doch was der Minister damit genau gemeint hat, ist unklar. Denn die Patriot–Raketen sind bereits dem Bündnis im Bedarfsfall für die Verteidigung von NATO-Truppen im Einsatz unterstellt. Außerdem hat die Bundeswehr gerade beschlossen, ihre Patriot-Batterien von 24 auf 14 zu reduzieren. Und selbst die moderne Variante, der so genannte Patriot-PAC-3-Flugkörper, hat gegen Raketen eine Reichweite von nur 45 Kilometern. Die Patriot-Abwehrraketen sind damit nur zur Verteidigung von Punktzielen wie Truppenansammlungen oder Häfen in der Lage. Svenja Sinjen:

O-Ton Sinjen
„Grundsätzlich sind diese Systeme gar nicht dafür ausgelegt, größere Flächen gegen Mittelstreckenraketen zu verteidigen. Wenn sie mit System gegen Kurzstreckenraketen wie Patriot eine Fläche verteidigen wollten, müssten sie enorm viele Batterien haben. Das können sie mit Blick auf die Kosten gar nicht leisten.“

Für eine Abwehr von Raketen längerer Reichweite - zum Beispiel aus dem Iran, sind die Patriots zudem wegen ihrer geringen Geschwindigkeit ebenfalls ungeeignet. Allerdings besitzt der Iran gegenwärtig noch gar keine Raketen, die Zentraleuropa erreichen könnten.

Zunehmend wird in Deutschland aber auch die Beschaffung bzw. Umrüstung anderer Systeme diskutiert, um Raketenangriffe auf das Territorium der NATO-Mitglieder abwehren zu können. Svenja Sinjen von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik plädiert dafür, in Zusammenarbeit mit anderen europäischen NATO-Staaten zunächst zehn US-Abfangraketen vom Typ „Standard-Missile-3“ zu kaufen.

O-Ton Sinjen
„Die Mitwirkungsmöglichkeiten in der NATO erhöhen sich für die Europäer zweifelsohne je mehr Fähigkeiten sie einbringen.“

Die Bundesregierung selbst will über zusätzliche Beschaffungen für das Raketenabwehrsystem erst im kommenden Jahr entscheiden. Das Bundesverteidigungsministerium beabsichtigt allerdings, in den nächsten Wochen eine Konzeption für einen „Luftverteidigungsverbund 2020“ vorzulegen. Diese wird, so die Erwartung, dann auch Empfehlungen enthalten, wie Deutschland zur territorialen NATO-Raketenabwehr beitragen kann. Eine Möglichkeit wäre - auch angesichts der Sparzwänge, unter denen die Bundeswehr steht – die von Verteidigungsminister de Maizière angedachte Einbeziehung der bereits vorhandenen Patriot-Systeme. Das wäre aber ein eher symbolischer Beitrag. Denn für die territoriale Raketenabwehr sind die Patriots praktisch nicht geeignet. Eine andere Variante wäre, die Radaranlagen der drei F-124 Fregatten zu modernisieren, die bereits jetzt auf die Flugabwehr spezialisiert sind. Für diesen Weg haben sich die Niederländer entschieden. Kostenpunkt: wohl mindestens 60 Millionen Euro pro Fregatte.

Schließlich bestünde die Möglichkeit, von den USA Raketenabwehrsysteme vom Typ „Standard Missile 3“ zu kaufen. Voraussichtliche Kosten: Sieben bis 15 Millionen Euro je Flugkörper. Von dieser SM-3-Abfangrakete gibt es bisher nur eine schiffsgestützte Version. Die drei deutschen F 124-Fregatten sind bereits mit geeigneten Abschussvorrichtungen ausgestattet. Die KIELER NACHRICHTEN berichteten im vergangenen Monat von Überlegungen der Bundeswehr, für die F124-Fregatten bis zu 24 solcher Abfangraketen zu kaufen.

Doch die gegenwärtig produzierte SM-3-Abfangrakete ist nur in der Lage, Raketen mit einer Reichweite von unter 800 Kilometern abzufangen. Aber selbst hoher Wellengang kann den erfolgreichen Abschuss verhindern. Außerdem sind diese Abfangraketen bisher nur unter unrealistischen Bedingungen getestet worden, erklärt Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik:

O-Ton Neuneck
„Ein Gegner darf nicht sogenannte Gegenmaßnahmen ergreifen. Das sind technische Tricks, um die Raketenabwehr auszukontern. Wenn das passieren sollte, dann hätte auch die heutige Raketenabwehr große Schwierigkeiten.“

Die USA arbeiten allerdings an der Weiterentwicklung der vorhandenen SM-3-Abfangraketen. Würde sich Deutschland für eine solche modernisierte Version der SM-3 entscheiden, müsste die Bundeswehr jedoch die Katze im Sack kaufen. Denn der bisher einzige Test der neuen SM-3-Version im September war ein Fehlschlag. Und Probleme gibt es auch bei der vorgesehenen weiteren Modernisierungsversion. Die Arbeiten an diesem Flugkörper verzögern sich. Sie sollen erst 2016 abgeschlossen sein, zwei Jahr später als ursprünglich geplant.

Die Bundesregierung wird sich deshalb gut überlegen müssen, ob sie trotz dieser technischen Unzulänglichkeiten SM-3-Raketen für die territoriale NATO-Raketenabwehr kaufen will. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass Deutschland Geld ausgibt für technologisch unausgereifte Raketenabwehrsysteme, die gegen eine iranische Bedrohung gerichtet sind, die es noch gar nicht gibt. Ein solcher Schritt könnte gleichzeitig die Beziehungen zu Russland verschlechtern, eine Aufrüstungsspirale in Gang setzen und eine weitere nukleare Abrüstung behindern. Konfliktforscher Götz Neuneck hält unter diesen Gesichtspunkten deutsche Raketenabwehr-Beschaffungen nicht für sinnvoll:

O-Ton Götz Neuneck
„Das sind Ausgaben, die im Augenblick nicht gerechtfertigt sind, weil die Bedrohung aus dem Iran bisher nicht ein Ausmaß erreicht hat, dass man davon sprechen kann, dass eine ernste Bedrohung besteht.“

* Aus: NDR Info Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 11. Februar 2012


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