Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Prävention statt Präventivkrieg!

Plädoyer für zivile Konfliktbearbeitung im Kampf gegen den Terrorismus. Aktuelle Stellungnahme des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK)* zum 11. September

Nichts mehr wird so sein, wie es war, hieß es nach dem 11. September. Mittlerweile ist ein Jahr vergangen, das zwar nicht alles verändert hat, in dem aber so viel passiert ist, dass der verbrecherische Anschlag auf New York und Washington, bei dem über 3.000 Menschen starben, schon fast der Vergangenheit angehört: die Erklärung des Verteidigungsfalles durch die NATO, der Krieg gegen Afghanistan, die Eskalation des Konfliktes im Nahen Osten, die permanente Kriegsgefahr zwischen den Atommächten Indien und Pakistan, der heraufziehende Militärschlag gegen den Irak. Es war ein schlechtes Jahr für den Frieden. Es ist an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

1. Der 11. September 2001

Mit den Attentaten auf New York und Washington erreichte der Terrorismus eine neue Dimension: Noch nie zuvor wurde ein Anschlag derart perfekt vorbereitet und durchgeführt, noch nie nahm er ein solches Ausmaß an, noch nie trieben Terroristen Selektivität wie Beliebigkeit derart ins Extrem: Kaum ein anderes Gebäude symbolisiert den weltweiten Kapitalismus so sehr wie das World Trade Center, keine andere Einrichtung die militärische Dominanz der USA so eindeutig wie das Pentagon. Gleichzeitig trafen die Attentate die Opfer jedoch absolut willkürlich ohne Rücksicht auf äußere Merkmale. Sie verband nichts mehr als ihre Anwesenheit zur gleichen Zeit am falschen Ort.

Die mutmaßlichen Attentäter sind identifiziert: Es handelt sich überwiegend um Männer mittleren Alters arabischer Herkunft, ausgebildet an namhaften Universitäten unter anderem in Deutschland. Ihre Zugehörigkeit zum transnationalen Terrornetzwerk Al Qaida gilt als sehr wahrscheinlich, auch wenn es die Regierungen der westlichen Staaten bis heute verabsäumt haben, der Öffentlichkeit die stichhaltigen Beweise vorzulegen, in deren Besitz zu sein sie immer wieder behaupten. Über die Ursachen, die Motive und die Ziele der Attentäter lassen sich hingegen bis heute nur Vermutungen anstellen.

Auch in der Friedens- und Konfliktforschung konkurrieren unterschiedliche Erklärungsversuche und Interpretationsmuster. So gibt es Ansätze, die die Anschläge als Reaktion auf eine Globalisierung begreifen, die vom Westen ohne Rücksichtnahme auf die Existenznöte des Südens betrieben wird - mit der Folge extrem ungleich verteilter Lebenschancen (Ernst-Otto Czempiel). Sie werden aber auch als Reflex auf eine defizitäre Modernisierung in den autoritär geführten Staaten der arabischen Welt gedeutet. Traditionale Lebensformen seien zerstört worden, ohne den Betroffenen Raum zur Kritik und zur Partizipation zu eröffnen. Dies hätte insbesondere den gewaltbereiten Islamisten Zulauf beschert (Bruno Schoch). Die USA seien wegen ihrer Rolle als Schutzmacht Israels ins Visier der Terroristen geraten, aber auch wegen ihrer Präsenz in Saudi-Arabien, dem Land der Heiligen Stätte in Mekka und Medina. Als Symbol der Säkularisierung wie als Erbe der Kolonialmächte hätten sie den unbändigen Hass der Terroristen auf sich gezogen (Harald Müller). Strategisch könnte es den Attentätern und ihren Hintermännern darum gegangen sein, innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft politische Identität zu stiften in der Absicht, die Konfrontation mit dem Westen zuzuspitzen (Jochen Hippler). Die Bereitschaft, das eigene Leben im Dienste der heiligen Sache zu opfern, würde insbesondere durch die religiös motivierte Glaubensgewissheit auf die jenseitige Belohnung von Märtyrern befördert (Christian Büttner). Letztlich handle es sich beim religiösen Aspekt aber nicht um die eigentliche Gewaltursache, sondern um einen Code zur Kommunikation von Konflikten, die in Folge von sozialer Entfremdung, Hoffnungslosigkeit und wahrgenommener westlicher Gleichgültigkeit gegenüber der Not in anderen Weltregionen entstanden wären (Brigitte Hamm u.a.).

Welcher Faktor bzw. welche Faktorenkombination letztlich den Ausschlag gab, wird wohl nie herauszufinden sein. Gerade deshalb ist es so schwierig, angemessen auf diese Form des internationalen bzw. transnationalen Terrorismus zu reagieren. Daher stehen Politik und Gesellschaft überall, insbesondere aber in den mächtigsten Staaten der Welt, in der Verantwortung, alles Mögliche dafür zu tun, um das Risiko zukünftiger Wiederholungen zu verringern.

2. Der "Krieg gegen den Terror" ist ein untaugliches Instrument

Unmittelbar nach dem Anschlag sprach Präsident Bush vom "Krieg gegen den Terrorismus", Bundeskanzler Schröder von einer "Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft". Nur einen Tag später erklärte die NATO erstmals in ihrer Geschichte den Verteidigungsfall, der bis heute - ohne erkennbaren Grund - fortbesteht. Am 7. Oktober eröffneten die USA mit den Angriffen auf Afghanistan ihren enduring freedom genannten "Krieg gegen den Terror". In unserer ersten Stellungnahme im letzten Jahr zum 11. September mahnten wir zwar an, Gewaltlosigkeit nicht gegen Gewaltanwendung auszuspielen. Wir empfahlen aber auch, den unter Umständen erforderlichen Einsatz von Zwangsmitteln an der Logik der Verbrechensbekämpfung zu orientieren, nicht an derjenigen des Krieges. Die Eignung militärischer Mittel erschien uns aus friedenswissenschaftlicher Sicht von Beginn an fraglich. Wir sehen uns heute in unserer Skepsis bestätigt.

2.1 Die proklamierten Kriegsziele wurden verfehlt

Der zur Bekämpfung der territorialen Basis von Al Qaida geführte Krieg hat seine ursprünglich erklärten Ziele zu großen Teilen verfehlt. Zwar hat das Terrornetzwerk sein unterstützendes Umfeld in Afghanistan weitgehend verloren, doch ist weder Usama bin Laden gefasst noch Al Qaida völlig zerschlagen. Sicherlich ist es gelungen, das Taliban-Regime zu vertreiben, doch ob diese Chance für eine friedlichere Entwicklung im Land langfristig genutzt werden kann, ist noch offen. Dank der Unterstützung durch die Vereinten Nationen und die Europäische Union sind erste Grundlagen für die Wiederherstellung eines funktionierenden Staates geschaffen worden, befindet sich Kabul auf einem äußerst fragilen Weg zur Normalität. Außerhalb der Hauptstadt herrschen aber weiterhin Gesetzlosigkeit und Willkür, kämpfen "Warlords" um Macht und Einfluss.

Auch für die Frauen in Afghanistan haben sich mit dem Ende des alten Regimes die Rahmenbedingungen für mehr gesellschaftliche Teilhabe verbessert. Die langen Jahre der Repression und Diskriminierung haben aber in der dortigen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Dass Mädchen ohne größere Gefahr nun wieder die Schule besuchen dürfen, gibt immerhin Hoffnung für die Zukunft. Allerdings halten wir es für verfehlt, den Krieg gegen Afghanistan nachträglich zu einem Krieg für die Befreiung der Frau umzudeuten, wie dies gelegentlich von führenden Politikern versucht wird. Allenfalls handelt es sich hier um einen positiven, aber gleichsam unbeabsichtigten "spill-over-Effekt", der nicht dazu genutzt werden darf, den Krieg nachträglich mit zusätzlichem Sinn zu versorgen.

Zu den elementaren Aufgaben des Staates zählt der Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger vor innerer und äußerer Gewalteinwirkung. Der Krieg gegen Afghanistan hat die Sicherheitslage in den Staaten, die ihn geführt oder unterstützt haben, nicht verbessert. Im Gegenteil: Mit seiner Eröffnung wurde in den westlichen Staaten wohl nicht zu Unrecht mit steigender Anschlagsgefahr gerechnet. Und immer wieder ergehen Warnungen vor neuen Attentaten. Dies verweist auf ein Grundproblem des "Krieges gegen den Terror": Er greift den Gegner dort an, wo er nicht - zumindest nicht hauptsächlich - steht. Von einer "Art neuer Selbstverteidigung" (Gerhard Schröder) kann also nicht die Rede sein. Vielmehr müssen die Terroristen dort gesucht und gefunden werden, wo sie leben, nämlich in den USA und in Europa.

2.2 Militärische Generalprävention und Vergeltung sind durch das Völkerrecht nicht gedeckt

Die UNO-Charta enthält eine historische Errungenschaft: das Gewaltverbot. Von ihm kennt sie nur zwei Ausnahmen: Sanktionen durch den UNO-Sicherheitsrat gemäß Kapitel VII sowie das Recht auf individuelle wie kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51. Aus diesem Artikel bezieht die NATO als Verteidigungsbündnis ihre Existenzberechtigung, an ihn müssen sich ihre Mitglieder halten. Doch was umfasst er?

Die in der Völkerrechtslehre vorherrschende Meinung schließt die Rechtsfigur präventiver Selbstverteidigung aus. Zu groß ist die Gefahr des Missbrauchs, zu offenkundig das Risiko, das Gewaltverbot auszuhöhlen. Von einem Recht auf Selbstverteidigung kann folglich nur dort sinnvoll die Rede sein, wo es auf die Abwehr bereits stattfindender oder unmittelbar drohender Angriffe beschränkt wird. Es darf laut Artikel 51 auch nur solange in Anspruch genommen werden, bis der UNO-Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.

Unter Völkerrechtlern ist umstritten, ob mit der Resolution 1373 vom 28. September 2001 das Recht auf Ausübung der Selbstverteidigung erloschen ist: Einerseits ruft der Sicherheitsrat ausdrücklich unter Bezugnahme auf Kapitel VII zur vollständigen Austrocknung aller Finanzquellen der Terroristen und zu deren strafrechtlicher Verfolgung auf. Dabei könnte es sich um die in Artikel 51 genannten Maßnahmen handeln, die - seinen Wortlaut ganz genau genommen - die Zulässigkeit der Ausübung des Selbstverteidigungsrechtes gleichsam automatisch beendeten. Andererseits bekräftigt der Sicherheitsrat in der Resolution das Recht auf Selbstverteidigung ebenso wie das Erfordernis, den Terrorismus in Übereinstimmung mit der Charta mit allen Mitteln zu bekämpfen. Folglich bietet die Resolution in diesem Punkt einen politisch gewollten Interpretationsspielraum. Er war die Voraussetzung dafür, dass alle Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat unter Einschluss der USA zustimmen konnten. Die Erklärungen des UNO-Generalsekretärs, aber auch des Präsidenten des Sicherheitsrates tragen diesem Sachverhalt Rechnung: Sie nehmen lediglich zur Kenntnis, dass die USA und ihre Verbündeten für sich das Recht auf Selbstverteidigung reklamieren. Eine ausdrückliche Legitimierung von enduring freedom enthalten sie entgegen anderslautenden Beteuerungen bundesdeutscher Politiker allerdings nicht.

Unabhängig davon, wie die Beschlusslage der Weltorganisation letztlich eingeschätzt wird, steht fest: Im Krieg gegen Afghanistan ist die Grenze eines eng bemessenen Selbstverteidigungsrechtes überschritten worden. Kritiker warnen vor einem "Selbstverteidigungsexzess" (Norman Paech). Mit einem Krieg gegen den Irak oder gegen andere Staaten, die Bush zur "Achse des Bösen" zählt, würde diese Grenze immer weiter hinter sich gelassen: Vergeltung und militärische Generalprävention, aber auch gewaltsame Interventionen zur Beförderung der Menschenrechte, Counterproliferationskriege gegen mutmaßliche Besitzer von Massenvernichtungswaffen und Weltordnungskriege sind durch das Recht auf Selbstverteidigung eben nicht gedeckt. Sie sind und bleiben eindeutig völkerrechtswidrige Akte.

2.3 Krieg ist politisch der falsche Weg der Terrorbekämpfung

Angesichts der Anschläge vom 11. September sind das Entsetzen und die Ratlosigkeit der ersten Stunden, sogar der Wunsch nach Vergeltung und die Kriegsrhetorik nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere für die USA: Sie waren das unmittelbare Opfer, sie wurden in ihrem Selbstverständnis erschüttert, als Supermacht provoziert. Der Druck zum sichtbaren und damit zum militärischen Handeln war groß, ihm nachzugeben aber weder sinnvoll noch notwendig. Gerade in Extremsituationen darf kluge, verantwortungsvolle Politik sich nicht von Emotionen leiten lassen, sondern muss diese in problemangemessenes Handeln umlenken. Die wiederholte Rede vom "Krieg gegen den Terror" bzw. von der "Kriegserklärung an die zivilisierte Welt" war dem nicht zuträglich, sondern hat das Denken in Alternativen blockiert. Noch dazu ist sie analytisch falsch: Die Anschläge vom 11. September waren kein Kriegsakt, auch wenn sie von den Organisatoren möglicherweise als solcher verstanden wurden, sondern ein kapitales Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Bewertung der Attentate als Kriegsakte ist aber auch strategisch falsch: Mit einer Armee lässt sich zwischenstaatlicher Krieg, auch Bürgerkrieg führen. Als Mittel der wirksamen Bekämpfung des transnationalen Terrorismus ist sie jedoch ungeeignet. Das Bild vom "Krieg gegen den Terror" basiert auf einem schwerwiegenden "Kategorienfehler" (Claus Offe), nämlich der Vorstellung, hinter den Tätern stehe eine Art "master mind" - eine zumindest prinzipiell enthauptbare hierarchische Struktur. Netzwerkartige Arrangements wie Al Qaida entziehen sich jedoch einem solchen Zugriff. Vielmehr gilt es, die Täter, die sich ja als Einzelne in einem nicht-terroristischen gesellschaftlichen Umfeld bewegen, individuell zu identifizieren, sie rechtzeitig dingfest zu machen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Allerdings gibt es hier - ebenso wie beim militärischen Vorgehen - keine Erfolgsgarantie, schon gar nicht eine, die schnell eintritt.

Die höhere Problemangemessenheit nichtmilitärischer Maßnahmen verbessert aber im Vergleich zu Militäraktionen die Erfolgsaussichten, wie ein Beispiel belegt: So wurden alle fünf Attentäter, die 1993 am Anschlag auf das World Trade Center beteiligt waren, durch zähe internationale Fahndungsarbeit gefasst - drei noch in New York, einer in Ägypten und ein weiterer zwei Jahre danach durch Kooperation pakistanischer Polizisten mit amerikanischen Agenten in Islamabad. Hier hat sich, wie Reinhard Mutz zutreffend feststellt, ein "unauffälliger Vorläufer der Allianz gegen den Terror bewährt". Er hätte als Vorbild für die Maßnahmen nach dem 11. September dienen können. Stattdessen entfaltet nun die Logik des Krieges ihre fatalen Gesetzmäßigkeiten: Die Kampfhandlungen drohen auf weitere Staaten ausgedehnt zu werden, in den USA schnellt der Rüstungshaushalt in Rekordhöhen (im Jahr 2007 soll er über 451 Milliarden US-Dollar betragen), die militärische Lücke zwischen der Führungsmacht und ihren Verbündeten wird im öffentlichen Diskurs dramatisiert, der Ausbau ziviler Konfliktbearbeitung hingegen vernachlässigt, Unterdrückung und Gewaltanwendung in regionalen Konflikten gelten nunmehr als notwendiger Beitrag im Kampf gegen den Terrorismus.

2.4 Der "Krieg gegen den Terror" ist ethisch nicht zu rechtfertigen

In den sogenannten neuen Kriegen steigt der Anteil ziviler Opfer. Die Regeln der Kriegführung, wie sie im humanitären Völkerrecht kodifiziert sind, werden unterlaufen, die Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten zusehends verwischt. Jeder Krieg neigt zu seiner Entgrenzung, er steht an Grausamkeit dem Terrorismus nichts nach. Auch wenn uns aus Afghanistan bestätigte Zahlen fehlen und sich die Aufrechnung von Toten ohnehin verbietet: Immer wieder erreichen uns Informationen über "versehentlich" getötete Zivilisten und Zivilistinnen, aber auch über Soldaten bzw. Soldatinnen unter Beschuss der eigenen Allianz. Eine Anfang dieses Jahres veröffentlichte Studie der Universität von New Hampshire spricht von fast 4.000 zivilen Opfern, mittlerweile sollen es ungefähr 5.000 sein. Dieses Risiko ist jeder Kriegsführung immanent. Es lässt sich auch nicht durch den Einsatz sogenannter Präzisionswaffen, sondern nur durch die Einstellung sämtlicher Angriffe verlässlich vermeiden. Die afghanische Bevölkerung muss endlich die Chance eines friedlichen Neubeginns erhalten - ohne die dauerhafte Lebensgefahr, welche auch vom "Krieg gegen den Terror" für sie ausgeht. Im Sinne einer langfristigen Stabilisierung Afghanistans und der Ermöglichung von "good governance" müssen die militärischen Angriffe sofort beendet werden.

Eine Ausweitung des Krieges auf den Irak oder auf andere sogenannte "Schurkenstaaten" wäre auch aus einem weiteren Grund ethisch nicht zu rechtfertigen: Es steht Staaten, die sich selbst im Besitz von Massenvernichtungswaffen befinden, ihren Einsatz auch androhen, schlecht zu Gesicht, anderen Staaten diese Waffen militärisch aus der Hand schlagen zu wollen - zumal dann, wenn sie an deren Aufrüstung mitgewirkt haben. Die Argumentation mit einer höheren Moralität von Demokratien und deren Schutz vor nukleargerüsteten Diktaturen mag zwar aus Sicht der westlichen Staaten nachvollziehbar erscheinen, rechtfertigt aber nicht den Bruch des Rechts, aus dem gerade Demokratien ihre Identität ziehen. Aus der Perspektive der Staaten, die sich vom Militärpotenzial des Westens bedroht sehen, vermag sie ebenfalls nicht zu überzeugen. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Seit Jahren leidet die irakische Bevölkerung massiv unter den Folgen der Wirtschaftssanktionen. Der versuchte Übergang zu einem intelligenteren Sanktionsregime verspricht ihr zumindest Linderung. Ein erneuter Waffengang wider den Irak würde diesen Ansatz im Keim ersticken: Hilfe für die Menschen und Krieg gegen das Land, in dem sie leben, passen nicht zusammen.

3. Vom "Krieg gegen den Terror" zum Weltordnungskrieg

Bereits in seiner Rede vor dem Kongress im September letzten Jahres erklärte der amerikanische Präsident, Al Qaida sei zwar der Ausgangspunkt des "Krieges gegen den Terror", nicht aber dessen Endpunkt. Er prognostizierte einen "langwierigen Feldzug", dessen exorbitante Konturen sich spätestens mit der Erklärung zur Lage der Nation im Januar deutlich abzeichnen: Ausbildungslager für Terroristen müssten zerstört, Staaten davon abgehalten werden, die USA mit chemischen, biologischen und atomaren Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Mehr als sechzig Regime werden der Unterstützung des Terrors geziehen. Fast ein Drittel der Staatengemeinschaft sieht sich mithin unter Kriegsandrohung gestellt. Irak, Iran und Nordkorea verschmelzen für Bush zu einer "Achse des Bösen".

Die Konstruktion eines solchen Feindbildes verbaut aber nicht nur die Suche nach politischen Problemlösungen, sie entbehrt jeder empirischen Basis: Weder bestehen zwischen den so grundverschiedenen Staaten derart enge Beziehungen, die den Vergleich mit den faschistischen Achsenmächten des Zweiten Weltkrieges rechtfertigten, noch sind ihnen Verbindungen zum Terrornetzwerk Al Qaida nachgewiesen. Es steht also mehr auf der Agenda als ein "Krieg gegen den Terror": Es geht um die Durchsetzung einer neuen Weltordnung mit Hilfe einer veränderten Militärstrategie, die nach dem Willen der Führungsmacht auf dem nächsten NATO-Gipfel im November in Prag auch zu derjenigen des Bündnisses werden soll. Wie noch nie zuvor unterstreichen die USA ihren Anspruch als globale Hegemonialmacht: Sie wollen überall dort militärisch eingreifen können, wo sie dies für erforderlich erachten. Dabei ziehen sie sowohl Präventivschläge als auch den Ersteinsatz nuklearer Waffen etwa zur Zerstörung von chemischen oder biologischen Arsenalen in tiefliegenden Bunkern in Betracht - mit verheerenden Folgewirkungen für Mensch und Umwelt. Mit diesem Kurs zerstören die USA aber über kurz oder lang auch internationale Regime zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die sie doch zu schützen vorgeben.

Am Irak droht ein erstes Exempel statuiert zu werden: Für Washington geht es offensichtlich nicht mehr um das "Ob", sondern nur noch um das "Wann" und "Wie" eines Militärschlages. Dabei stellt der Irak für die USA nicht in erster Linie eine akute Sicherheitsgefahr dar, schließlich konnte die Kontrollkommission der UNO in den letzten Jahren ihrer Tätigkeit keine gravierenden Verletzungen der verordneten Rüstungsauflagen verzeichnen. Vielmehr symbolisiert er wie kein anderer Staat für die USA eine ordnungspolitische Provokation. Seit Jahren widersetzt sich sein Diktator hartnäckig den Forderungen aus Washington, aber auch aus New York - etwa nach Rückkehr jener Inspektionsteams, die die UNO 1998 abziehen musste. Damit verstößt der Irak zweifelsohne gegen bestehende Verpflichtungen. Hieraus aber erwächst allein schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit kein Recht zur militärischen Erzwingung, schon gar nicht unter Einschluss jener Waffen, zu deren präventiver Vernichtung der Krieg geführt werden soll.

Die Beseitigung des nach wie vor bestehenden Restverdachtes gegen den Irak stellt ein politisches Problem dar, das politisch gelöst werden muss. Schon in der Resolution 687 (1991) des Sicherheitsrates werden die Rüstungsauflagen für den Irak als ein Schritt zu einem von Massenvernichtungswaffen freien Mittleren Osten sowie zu einem regionalen Rüstungskontrollsystem gewertet. Die Staatengemeinschaft nimmt hier also nicht nur ein einziges Regime, sondern alle Staaten der Region in die Pflicht. In der Praxis ist davon jedoch nichts zu spüren. Stattdessen setzen die USA gegenläufige Signale: Hierzu zählen unter anderem die wiederkehrenden Luftangriffe auf den Irak, die Verstärkung der amerikanischen Militärpräsenz am Golf und die nur verhaltene Kritik an Israels völkerrechtswidrigen Militäraktionen gegen die Palästinenser. Es ist aber vollkommen klar: Ohne den Übergang zu einer ausgewogenen Politik der Staatengemeinschaft im Nahen und Mittleren Osten und ohne den Einstieg in ein regionales Rüstungskontrollsystem lassen sich auch bei der Bewältigung des Irak-Problems keine Fortschritte erzielen.

Ohnehin neigt die Regierung Bush stärker noch als ihre Vorgängerin dazu, im Zuge des "Krieges gegen den Terror" sich jener Fesseln zu entledigen, die ihren Handlungsspielraum auch nur geringfügig einschränken könnten. Dies zeigt sich unter anderem am Ausstieg aus der verhandelten Rüstungskontrolle durch die Kündigung des ABM-Vertrages, der den USA bei ihren Plänen für ein Raketenabwehrsystem bislang im Wege gestanden hatte. Die Auseinandersetzung um den Internationalen Strafgerichtshof markiert den jüngsten Höhepunkt: Bush zog nicht nur die bereits von Clinton geleistete Unterschrift unter das Vertragswerk zurück, sondern der Kongress billigte Grundzüge eines "Invasionsgesetzes", das es der Regierung erlaubt, amerikanische Soldaten und Regierungsmitarbeiter mit Waffengewalt dem Zugriff des Strafgerichtshofs zu entwinden. Eindeutiger lässt sich ein rein instrumenteller Umgang mit den Institutionen der Staatengemeinschaft kaum mehr in Szene setzen. Ihnen ist schwerer Schaden zugefügt worden.

4. Regionalkonflikte im Schatten des "Krieges gegen den Terror"

Positive Meldungen aus Konfliktgebieten erreichen uns im Moment eher selten. Auf die meisten lokalen und regionalen Auseinandersetzungen hat sich der "Krieg gegen den Terror" katastrophal ausgewirkt. Er bindet nicht nur die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, sondern liefert Regierungen eine willkommene Blaupause zur Legitimation gewaltsamen Konfliktaustrages. Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich im Nahen Osten. Unmittelbar nach der ersten Schuldzuweisung des amerikanischen Präsidenten an Al Qaida erklärte der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon den Vorsitzenden der Autonomiebehörde Arafat kurzerhand zum "Usama bin Laden der Region" und verschärfte - in den ersten Tagen von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt - die Militäraktionen gegen die Palästinenser. Mehr Frieden und Sicherheit hat dieses Vorgehen aber niemandem gebracht - im Gegenteil: Nach einer beispiellosen Eskalationsspirale, welche die Bevölkerung auf beiden Seiten immer mehr in Mitleidenschaft zieht, ist der Konflikt einer politischen Lösung entfernter denn je. Die langfristig wirksamen Folgeschäden für die Region lassen sich noch gar nicht ermessen. Die Negativbilanz ist um so beunruhigender, als Palästina in der gesamten muslimischen Welt "zentrales Symbol" (Petra Weyland) ihrer Demütigung ist, aus dem Terroristen wie Usama bin Laden sich mit Legitimation versorgen.

Mit dem Eintritt in den "Krieg gegen den Terror" ist es für die westliche Staatenwelt unmöglich geworden, anderen Regierungen glaubhaft das "Recht" zum militärischen Vorgehen abzusprechen, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um wichtige Mitglieder der Antiterror-Allianz handelt. Kaum reihte sich Russlands Präsident Putin in sie ein, versprach ihm Bundeskanzler Schröder, Moskaus militärisches Vorgehen gegen das abtrünnige Tschetschenien im Lichte des Antiterror-Kampfes neu zu bewerten. Dieses Beispiel zeigt zudem, wie sehr Zuschreibungen im politischen Raum von aktuellen Interessen geleitet sind, obwohl die Formulierung problemadäquater Strategien differenzierte Problembeschreibungen voraussetzten. Bislang dienten dem Westen die in Tschetschenien begangenen Menschenrechtsverletzungen als gefälliges Argument gegen eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Russland. Moskaus permanenter Verweis auf die terroristische Dimension wurde hingegen als reiner Legitimationsdiskurs denunziert. Nunmehr sind kritische Stimmen weitgehend verstummt, wird Putins Wunsch nach mehr Mitwirkung etwa durch den neugestalteten NATO-Russland-Rat - wenn auch eher zurückhaltend - entgegengekommen.

Offenkundig folgt der "Krieg gegen den Terror" der Logik herkömmlicher Machtpolitik. Diese orientiert sich überwiegend am kurzfristigen (mutmaßlichen) Nutzen. Es ist die gleiche Logik, die zuvor zur Aufrüstung des Irak als Gegenspieler zum Iran geführt hat. Ihr gehorchte auch die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin mit dem Ziel, die Sowjetunion zu schwächen. Ähnliches gilt für die spätere Förderung der Taliban in der Hoffnung, sie könnten dem strategisch wichtigen Land die erhoffte Stabilität bringen, zu deren Herstellung sich die rivalisierenden Fraktionen der Mudschaheddin nach dem Sturz des Nadschibullah-Regimes als unfähig erwiesen hatten. Saddam Hussein und Usama bin Laden - die kurzsichtige Politik der westlichen Staaten hat zu den Problemen beigetragen, die sie nun militärisch zu beseitigen suchen.

Alte Fehler drohen sich zu wiederholen: Vierzehn von neunzehn Empfängerstaaten der vom US-Kongress allein für 2002 zusätzlich bereitgestellten 27 Milliarden Dollar für Militär-, Polizei- und andere Sonderhilfen zur Terrorismusbekämpfung werden im Menschenrechtsreport des US-Außenministeriums selbst ernsthafter Verstöße gegen die Menschenrechte geziehen. Die problematischen Folgen des Antiterror-Krieges für die betroffenen Regionen und die Weltordnung werden dem Wunsch nach unmittelbarer Bekämpfung verdächtiger Gruppen untergeordnet. In nahezu sämtlichen islamisch geprägten Gesellschaften bewirkt aber bereits die bloße Anwesenheit amerikanischer Truppen und sogenannter Militärberater das, was sie eigentlich verhindern sollen - die Erstarkung gewaltbereiter islamistischer Strömungen. Jedes zivile Opfer, das der "Krieg gegen den Terror" kostet, ist Wasser auf ihre Mühlen und weckt sogar bei verbündeten Regierungen - etwa in Kabul, Riad und Kairo - zusehends Unmut. Die Folgen eines Krieges gegen den Irak wären unabsehbar. Bereits jetzt setzt der Antiterror-Kampf regionale Gefüge in Bewegung - mit noch ungewissem Ausgang. Wir können hier bislang nur Mosaiksteine erkennen, die sich noch nicht zu einem Gesamtbild fügen:
  • Unter der brüchigen Oberfläche der Antiterror-Allianz konkurrieren die Weltmacht USA und die regionalen Vormächte Russland und China um strategische Interessen. Die verstärkte Präsenz amerikanischer Truppen und Militärberater etwa in Usbekistan, Kirgisien und Georgien kollidiert mit dem Dominanzanspruch Russlands in der Region. In Ostasien versuchen Staaten wie die Philippinen, Malaysia und Indonesien den "Krieg gegen den Terror" auch zu einer stärkeren Anbindung an den Westen zu nutzen, um ihren Handlungsspielraum gegenüber China zu erweitern, das seinerseits mit der beschleunigten Modernisierung seiner Streitkräfte reagiert, um den militärischen Einfluss der USA im pazifischen Raum besser ausbalancieren zu können.
  • Im Fahrwasser des "Krieges gegen den Terror" eskalieren Indien und Pakistan ihren Konflikt um den Kaschmir bis an den Rand eines erneuten Krieges. Dabei unterstellt Indien dem Nachbarn, seine herausgehobene Stellung in der Antiterror-Allianz zu nutzen, um den Konflikt in seinem Sinne auch mit terroristischen Mitteln zu beeinflussen. Da es sich bei beiden Parteien faktisch um Nuklearmächte handelt, erklärt Salman Rushdie den Kaschmir mit gutem Grund zum gegenwärtig "gefährlichsten Ort der Welt". Um so unverantwortlicher ist es daher, wenn westliche Staaten wie Großbritannien beide Kontrahenten weiterhin mit Waffen zu versorgen suchen.
  • Auf den Philippinen sind amerikanische Soldatinnen und Soldaten direkt in Kämpfe gegen die Guerrilla-Organisation Abu Sayyaf und wohl auch andere aufständische Gruppen auf Mindanao und Basilan verstrickt. Die Regierung des Inselstaates, die schon in den letzten Jahren zum militärischen Durchgreifen neigte, wurde durch die amerikanische Unterstützung zur Fortsetzung ihres Weges ermutigt, anstatt nach Möglichkeiten friedlicher Konflikttransformation zu suchen. Ein Streit in der Regierung über die Verlängerung der amerikanischen Präsenz hat dem Land eine weitere Krise hinzugefügt. Eine unmittelbare Verwicklung in Kampfhandlungen droht auch in Indonesien, wenn die USA dort mit der geplanten militärischen Einheit in den Unruhegebieten eingriffen.
  • In Kolumbien glaubt die Regierung, aufgrund der verstärkten Militärhilfe aus den USA Friedensverhandlungen mit den Guerillas abbrechen zu können. Der Konflikt zieht mittlerweile die gesamte Andenregion in Mitleidenschaft. Viele Beobachter befürchten seine Ausweitung auf Ecuador und Peru.
5. Die veränderte Republik

Die USA haben als Opfer terroristischer Gewalt nicht nur berechtigten Anspruch auf Mitgefühl, sondern auch auf Solidarität. Unbedingte Gefolgschaft, wie sie der Bundeskanzler mit seinem Bekenntnis zur uneingeschränkten Solidarität zusicherte, können sie von souveränen Verbündeten weder verlangen noch erwarten. Nur für militärische Abenteuer stehe Deutschland nicht zur Verfügung, lautete die konkretisierungsbedürftige Einschränkung Gerhard Schröders. Erst vor kurzem hat sich die Bundesregierung darauf festgelegt, sich nicht an einem Angriff auf den Irak zu beteiligen. Ihre Ankündigung, im Kriegsfalle die in Kuwait stationierten ABC-Spürpanzer zurückziehen zu wollen, sendet ein richtiges Signal nach Washington. Ob Deutschland jedoch bei einer konsequenten Ablehnung eines Militärschlages gegen den Irak bleiben wird, lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen: So spekulieren schon heute führende Unionspolitiker wie der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und sein Außenpolitikexperte Wolfgang Schäuble über mögliche Bedingungen einer deutschen Kriegsbeteiligung. Aber auch prominente Sozialdemokraten wie Hans-Ulrich Klose halten immerhin den Aufbau einer "glaubwürdigen Drohkulisse" für erforderlich, um im Irak einer politischen Lösung näher zu kommen. Wer jedoch mit dem Einsatz militärischer Gewalt droht, wird sich unter Umständen gezwungen sehen, diese zur Wahrung der eigenen Glaubwürdigkeit auch anzuwenden. Der Kampf gegen den Terror hat offensichtlich auch in Deutschland die Maßstäbe verformt und die Republik verändert.

5.1 Militärkritik wird tabuisiert

Kein anderes Ereignis symbolisiert den Wandel der Republik so prägnant wie Schröders Formel von der "Enttabuisierung des Militärischen". Auch wenn sie nicht als Plädoyer für die Rückkehr zur Kanonenboot-Politik missinterpretiert werden darf, reiht sie das Militärische in die normalen Instrumente der Außenpolitik ein. Eine abrupte Kehrtwende ist dies jedoch nicht. Vielmehr markiert die Aussage den jüngsten Höhepunkt einer schleichenden Veränderung. Bereits die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat die Bundeswehr in verschiedenartigen Verwendungen eingesetzt. Verwiesen sei hier auf die Stationierung von Truppen in der Türkei zur möglichen Unterstützung der Alliierten im Golfkrieg gegen den Irak (1991), die Entsendung von Sanitätssoldaten nach Kambodscha (1991/93), die Überwachung der Adria mit Kriegsschiffen (1992), die Nutzung von AWACS-Flugzeugen zur Kontrolle des jugoslawischen Luftraums (1992) und als Feuerleitzentrale im Luftkrieg über Bosnien-Herzegowina (1994/95) sowie den Einsatz der Bundeswehr in Somalia (1992/94). Die rot-grüne Koalition hat diese Entwicklung mit der Beteiligung Deutschlands am Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (1999) und der Entsendung deutscher Soldaten nach Mazedonien (2001) fortgesetzt.

Es geht uns hier nicht um eine Diskussion darüber, ob der Einsatz auch militärischer Mittel unter Umständen sinnvoll, ja erforderlich sein kann, um einen stabilen Rahmen für politische Lösungen zu schaffen: Aber beim "Krieg gegen den Terror" sehen wir deutlich die Gefahr, dass der militärische Einsatz zum Selbstzweck wird. Nachhaltiger Frieden kann jedoch nicht durch Militär erzwungen, sondern nur politisch gestiftet werden.

Die UNO-Charta und das Grundgesetz tragen diesem Umstand mit dem Gewaltverbot und der Friedenspflicht Rechnung. Beide erlauben aber auch Ausnahmen: das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen militärischen Angriff sowie Beugemaßnahmen kollektiver Sicherheit gemäß Kapitel VII der UNO-Charta. Dass Deutschland sich an letzteren beteiligen darf, stellte das Bundesverfassungsgericht eigens in seinem Urteil vom Juli 1994 fest. Im Kontext der Selbstverteidigung wie der kollektiven Sicherheit ist die Rede von der Enttabuisierung des Militärischen folglich überflüssig, aus ihm herausgelöst gefährlich: Dann wird Enttabuisierung zur Entkonditionierung, zur Bedrohung der internationalen Rechtsordnung, zum Freibrief für den Einsatz militärischer Gewalt.

Die Kehrseite der Formel von der "Enttabuisierung des Militärischen" ist die Praxis der "Tabuisierung der Militärkritik". Die Worte des Theologen Hans-Eckehard Bahr - geäußert 1968 angesichts der Gräuel des Vietnamkrieges - gewinnen in ihrem Kerngehalt unversehens Aktualität: "Heute müssen wir den harten und ungewohnten Gedanken fassen, dass der Friede notfalls auch gegen die eigenen Freunde verteidigt werden muss. Denn Friede und Selbstbestimmung sind unteilbare Rechte, und keine Napalmbombe ist gerechtfertigt, nur weil sie von Verbündeten geworfen wird. Das zuzugeben ist unausweichlich um des Friedens willen, mögen auch noch so viele gutwillige Zeitgenossen dergleichen missverstehen als prinzipiellen Anti-Amerikanismus, weil ihnen noch immer der Unterschied verborgen geblieben ist zwischen einer Negierung der demokratischen Konstitution und einer Kritik, die nur die Loyalität der augenblicklichen Regierungspraxis gegenüber dieser demokratischen Verfassung in Zweifel zieht."

Wer heute im öffentlichen Raum Kriegführung und Kriegspläne der USA kritisiert, sieht sich des öfteren unbeschadet der Qualität der vorgetragenen Argumente unter einen ähnlichen Generalverdacht wie damals gestellt. Hier ist sie tatsächlich gefordert, die Rückkehr zu einer demokratischen Normalität, die den kritischen Diskurs nicht als Bedrohung empfindet, sondern ihn als Bereicherung begreift und als notwendiges Korrektiv auch will. Die im Wahlkampf geäußerte Kritik an den geplanten Militärschlägen gegen den Irak stellt einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar. Seine Nachhaltigkeit wird sich nach den Bundestagswahlen zeigen müssen.

5.2 Das Parlament entmachtet sich selbst

Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie: Der Bundestag wirkt nicht nur an der Gesetzgebung mit, sondern kontrolliert die Bundesregierung. Dies festzustellen schien lange Zeit eine Selbstverständlichkeit zu sein, nicht mehr jedoch nach dem 16. November letzten Jahres. An diesem Tag hat der Bundestag die Regierung dazu ermächtigt, im Rahmen von enduring freedom bis 3.900 Soldaten und Soldatinnen einzusetzen - darunter zur ABC-Abwehr, für den Sanitätsdienst und für sogenannte "Spezialkräfte". Darüber hinaus wurden Lufttransportkapazitäten und Seestreitkräfte bereitgestellt.

Dieser Beschluss gilt vorerst für zwölf Monate. Der Auftrag ist nur allgemein formuliert: Es geht darum, "Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen zu bekämpfen, sie gefangenzunehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten". Was und wer genau damit gemeint ist, bleibt unklar. Gleiches gilt für das nur grob umrissene Einsatzgebiet, nämlich "die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete". Die Entscheidungsfreiheit der Bundesregierung wird nur insofern eingeschränkt, als der Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb Afghanistans der Zustimmung der Regierung des betroffenen Landes bedarf. Letzterer wird somit mehr Mitbestimmung eingeräumt als dem eigenen Parlament. Statt Bundestag und Öffentlichkeit so genau wie möglich zu unterrichten, übte sich die Bundesregierung in Geheimpolitik. So blieb es den Amerikanern vorbehalten, über die Beteiligung deutscher Spezialkräfte an militärischen Operationen auf afghanischem Boden zu informieren. Von der Ausübung parlamentarischer Kontrolle kann also keine Rede mehr sein: Der Bundestag hat sich auf Druck der Bundesregierung selbst entmachtet.

Aber nicht nur der Inhalt des Beschlusses, sondern auch die Art seines Zustandekommens markiert einen Tiefstand politischer Kultur: Die Verknüpfung des Bereitstellungsbeschlusses mit der Vertrauensfrage, die Dauerbearbeitung kritischer Mitglieder der Koalitionsfraktionen, die harsche Verurteilung der Einsatzgegner sowie die tendenziöse Darstellung der Beschlusslage der Vereinten Nationen sind einer Demokratie unwürdig. Die Umkehrung der Begründunglast von den Kriegsbefürwortern zu den Kriegsgegnern wird der Sache, um die es geht, nicht gerecht.

5.3 Weniger Freiheit führt nicht zu mehr Sicherheit

Demokratien basieren auf der Achtung der Menschenrechte. Sie darf der Staat nur soweit einschränken, wie es sein Schutzauftrag gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern verlangt. Der 11. September erfordert auch einen öffentlichen Diskurs über die Zukunft der inneren Sicherheit. Allerdings endet er bislang dort, wo er mächtige Interessen und soziale Fragen berührt: Die strukturelle Verwundbarkeit hochentwickelter Gesellschaften, die Zukunft von Risikotechnologien wie etwa der Kernenergie, der unzureichende Schutz von Atomkraftwerken vor abstürzenden Flugzeugen, aber auch die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit werden in diesem Kontext bislang kaum thematisiert.

Stattdessen beschränkt sich die Debatte im Wesentlichen auf eine Neujustierung zwischen individuellen Freiheitsrechten einerseits und staatlichen Eingriffsbefugnissen andererseits. Verhältnismäßige und problemadäquate Maßnahmen - wie etwa verschärfte Kontrollen an Flughäfen - sind ebenso plausibel wie notwendig. Die von Innenminister Otto Schily eingebrachten Sicherheitspakete gehen aber deutlich darüber hinaus: Sie begünstigen mit der Rasterfahndung - beispielsweise nach Religionszugehörigkeit - Rassismus, setzen mit der Einführung biometrischer Daten und der verdachtsunabhängigen Schleierfahndung Bürgerinnen wie Bürger unter Generalverdacht und missachten mit der Schaffung eines Dateienverbundes zwischen Geheimdiensten und Polizei eine wichtige Lehre aus den Erfahrungen mit totalitären Regimen.

Der massive Eingriff in die Freiheitsrechte ist offensichtlich, der Zuwachs an Sicherheit hingegen nicht. Bislang ist die Bundesregierung nicht ihrer Pflicht nachgegekommen, Eignung und Notwendigkeit der eingeleiteten Maßnahmen detailliert zu begründen. Gleiches gilt für die konservative Opposition hinsichtlich ihrer noch weiter gehenden Forderungen. Dort, wo mutmaßliche Terroristen dingfest gemacht werden konnten, scheint dies bislang eher "Kommissar Zufall" zu verdanken sein. Letztlich entsteht der Eindruck, dass der 11. September vor allem zur geräuscharmen Umsetzung bereits vorhandener Konzepte zum Ausbau des Überwachungsstaates genutzt wird. Ähnliches gilt hinsichtlich der Verschlechterung der Lage für Asylsuchende - etwa durch die Einschränkung des Abschiebeschutzes. Ein zusätzlicher Sicherheitsgewinn lässt sich dadurch kaum erzielen. Die mutmaßlichen Attentäter von New York und Washington gehörten jedenfalls nicht zu dieser unter Pauschalverdacht gesetzten Gruppe. Auch hier scheinen die verbrecherischen Anschläge eher der Legitimierung einer zusehends einwanderungsfeindlichen Politik zu dienen. Mit ihr wird dem "ohnehin fragilen Konzept des Multikulturalismus ein Rückschlag versetzt" (Christina Boswell).

Die Humanistische Union warnt: Wer den Eindruck erwecke, bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit handle es sich in "schwierigen Zeiten" um ein disponibles Gut, der schade dem Gemeinwesen und der demokratischen Kultur. Diese Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen, wie der Fall einer Münchner Lehrerin zeigt, die sich als Freiwillige einer internationalen Solidaritätsbewegung zwei Wochen während der israelischen Belagerung im Hause Arafats aufgehalten hatte. Nach ihrer Rückkehr wurde sie von der Schulbehörde vorgeladen: Ihr Verhalten sei in diesen Zeiten nun einmal erklärungsbedürftig.

6. Empfehlungen

Sowohl die Terrorangriffe als auch die militärischen Reaktionen haben allen Bestrebungen, die internationale Politik Rechtsnormen und Verhaltensregeln zu unterwerfen, einen schweren Schlag versetzt. Geboten ist deshalb die unverzügliche Rückkehr zur Bindung aller Aktionen gegen den internationalen wie transnationalen Terrorismus an das Völkerrecht. Rechtsbruch darf nicht mit Rechtsbruch vergolten werden. Und angesagt ist auch die Wiedereinsetzung von Politik und Diplomatie, die im letzten Jahr viel zu sehr von dem Einsatz militärischer Instrumente zurückgedrängt wurde. Aus unseren Ausführungen ergeben sich folgende Konsequenzen:
  • Erstens müssen die militärischen Aktionen der Antiterror-Allianz in Afghanistan eingestellt werden. Sie sind völkerrechtlich äußerst fragwürdig und in ihrem Mitteleinsatz unverhältnismäßig.
  • Zweitens gilt es, der Perversion des Präventionsgedankens Einhalt zu gebieten, mit der Präventivkriege als Gewaltvorbeugung legitimiert werden sollen - entgegen allen völkerrechtlichen Vereinbarungen und Regeln. Die "neue Weltordnung" wird zwar auf absehbare Zeit von der Hegemonie der Vereinigten Staaten bestimmt werden. Als ein demokratisches Land tragen sie aber auch eine besondere Verantwortung dafür, dass diese Ordnung vom Recht bestimmt wird und nicht von machtpolitischer Willkür.
  • Drittens folgt aus allen völkerrechtlichen, politischen und ethischen Überlegungen, dass sich Deutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht beteiligen darf - weder durch die Entsendung von Soldaten noch durch logistische Unterstützung noch durch Geldzahlungen. Wir wissen, dass im Falle eine Angriffes auf den Irak der Druck aus den USA auf den Beistand Deutschlands und der anderen NATO-Verbündeten sehr groß sein wird. Ihm standzuhalten wird schwierig sein. Dennoch darf sich die Bundesrepublik nicht an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligen.
  • Viertens gilt es, den Kampf gegen den Terrorismus auf das zurückzuführen, was sein Hauptziel sein sollte: die Täter dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen. Hierzu gehören Überlegungen, Terroristen einem internationalen Gerichtshof zu überstellen, wenn nationale Gerichte nicht willens oder fähig sind, terroristische Vergehen zu ahnden. Bei den Verhandlungen über die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes scheiterten Bestrebungen, Terrorismus in den Zuständigkeitsbereich des Gerichtes zu geben. Bisher fallen terroristische Akte nur insoweit darunter, als sie zugleich Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Angesichts der Schwierigkeiten, denen sich der Internationale Strafgerichtshof gegenwärtig nicht zuletzt wegen der Obstruktionspolitik der USA gegenübersieht, machen wir uns keine Illusionen über eine schnelle Realisierung unserer Vorschläge - sei es auch nur in Form der Einrichtung eines ad hoc-Gerichtshofes auf Beschluss des Weltsicherheitsrates, wie im Falle der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda bereits geschehen. Es führt kein Weg daran vorbei, den Kampf gegen den Terror - weg von militärischen Einsätzen - in die Bahnen polizeilicher Verfolgung und gerichtlicher Verfahren zu lenken, wenn der mühsam begonnene Weg der Verrechtlichung der internationalen Politik nicht unterbrochen werden soll.
  • Fünftens geht es darum, das "Sympathisantenumfeld" vor allem in den islamisch geprägten Ländern durch kluge Politik zu schwächen. Nun lässt sich der Globus - wenn überhaupt - nicht schnell in eine gerechte Weltordnung verwandeln, und "der Westen" ist nicht generell selbst schuld am Terrorismus, wie manche behaupten. Aber dennoch haben die reichen und mächtigen Staaten des Westens mehr Möglichkeiten, die Welt gerechter zu gestalten, als die schwachen und armen Länder. Insofern lastet auf ihnen die größere Verantwortung. Um ihr gerecht zu werden, käme es darauf an, dass sie sich - wie immer dies im Einzelnen fast unmöglich erscheint - sehr viel intensiver als bisher um die Entschärfung jener Konfliktherde bemühen, die die islamisch geprägte Welt aufwühlen - gemeint sind hier der Nahe und Mittlere Osten sowie der Kaschmir. Bei beiden Aufgaben sind Politik und Gesellschaft, nicht kriegerische Gewalt gefordert.
  • Zur Bekämpfung des Terrorismus gehören sechstens auch die Unterstützung und Förderung demokratischer Entwicklungen in der islamischen Welt. Wir sind uns bewusst, dass Demokratisierung nicht automatisch zu mehr Frieden führt, sondern - unter anderem in Folge des Zerfalls von Staatlichkeit - Gewalt und Krieg erst hervorrufen kann. Dennoch ist der islamistische Terrorismus auch eine Folge mangelnder Partizipationschancen weiter Teile der Bevölkerung in einer Region, die von den Konsequenzen der Dominanz der westlichen Kultur und der weltweiten Ausbreitung eines weitgehend ungeregelten Kapitalismus betroffen ist. Die vorbehaltlose Unterstützung von diktatorischen Regimen oder gesellschaftlich schwach verankerten Monarchien, sofern sie nur den militärischen Kampf gegen den Terrorismus unterstützen bzw. über Ölvorräte verfügen, ist daher der völlig falsche Weg. Stattdessen ist eine ebenso behutsame wie nachhaltige Unterstützung demokratischer Entwicklungen angesagt, welche die kulturellen Besonderheiten der Region respektiert.
  • Bezogen auf die innere Sicherheitslage schlagen wir siebtens die verfassungs- und datenschutzrechtliche Überprüfung der sogenannten Sicherheitspakete vor. Maßnahmen und Vorhaben, die vor allem einem Überwachungsstaat und einer ausländerfeindlichen Politik Vorschub leisten und weniger der wirksamen Terrorbekämpfung dienen, müssen zurückgenommen werden. Dies gilt nach unserer Einschätzung insbesondere für die Einführung von Raster- und Schleierfahndung, aber auch für die Schaffung eines Datenverbundes zwischen Geheimdiensten und Polizei sowie für die Verschlechterungen der Situation von Asylsuchenden. In anderen Fällen wären Gesetzesänderungen mit einer Überprüfungsfrist von zwei Jahren zu versehen. Rechtsverschärfungen allein garantieren aber noch keinen höheren Schutz vor terroristischen Anschlägen. Vielmehr müssen auch die bislang aus dem Sicherheitsdiskurs ausgeklammerten Problembereiche, wie etwa die Risikotechnologien, endlich einbezogen werden. Im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen nach Freiheit und nach Sicherheit darf der demokratische und liberale Rechtsstaat nicht nachhaltig beschädigt werden.

* Die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) ist eine wissenschaftliche Vereinigung. Sie wurde 1968 gegründet. Ihr gehören Friedensforscher und Friedensforscherinnen aus Universitäten, Forschungsinstituten sowie gesellschaftlichen Friedensorganisationen an. Vorsitzender ist zur Zeit Prof. Dr. Peter Schlotter (Frankfurt/M.). Die Stellungnahme des Vorstandes entstand unter der Federführung von Dr. Sabine Jaberg (Hamburg). Mehr über die AFK erfahren Sie unter www.bicc.de/coop/afk
Die Stellungnahme erschien in einer gekürzten Fassung unter dem Titel "Wie nie zuvor beanspruchen die USA die globale Hegemonialmacht" in der Frankfurter Rundschau (Dokumentationsseite) am 9. September 2002



Zurück zur "Präventions"-Seite

Zur "Friedenswissenschafts"-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zur Seite "Stimmen gegen den Irak Krieg"

Zurück zur Homepage