"Arctic Sea": Klaus Störtebeker war es nicht
Lug und Trug, keine klaren Fakten: Inszenierung mit Holzfrachter geht weiter. Regie sitzt in Moskau
Von René Heilig *
Die vor drei Wochen unter mysteriösen Umständen verschwundene »Arctic Sea« ist nach
russischen Angaben Opfer eines Piratenangriffs geworden. Acht Verdächtige wurden beim
Aufbringen des Schiffes am Montag vor den Kapverden demnach festgenommen. Spekulationen
schießen weiter ins Kraut.
Kurz nach der Befreiungsaktion am Montag hatte Russlands Verteidigungsminister versprochen,
man werde rasch über neue Erkenntnisse berichten. Was Anatoli Serdjukow und sein Ministerium
am Dienstag berichteten, war noch immer dürftig. Doch immerhin war da schon von »Piraten« die
Rede.
Vier Esten, zwei Letten und zwei Russen haben – so die Darstellung – das Schiff am 24. Juli, einen
Tag nach seinem Auslaufen aus einem finnischen Hafen, geentert. Dann hätten sie »die Besatzung
unter der Androhung von Waffengewalt gezwungen, ihren Anweisungen zu folgen«, sagte
Serdjukow. Das habe sich in schwedischen Gewässern ereignet. Anschließend hätte die 15-köpfige
russische Besatzung des unter der Flagge Maltas fahrenden Frachters Kurs Richtung Afrika
aufgenommen.
Während die westlichen Marinen angeblich nichts unternahmen, fuhr die gerade aus dem Mittelmeer
kommende russische Fregatte »Ladni« Richtung Kapverden und entdeckte – möglicherweise mit
Hilfe von dort operierenden russischen Aufklärungsflugzeugen – das angeblich total verschwundene
Schiff. Drei Zufälle auf einen Haufen. Erste Meldungen über das Aufbringen des Schiffes sparten
jegliche Piraten aus. Gestern sagte Verteidigungsminister Serdjukow, bei der Operation sei kein
Schuss gefallen.
Allein der Umstand lässt staunen, denn die angeblich ursprünglich zu einer Übung in der Ostsee
abgeordnete Fregatte kann unter normalen Umständen keine auf Geiselbefreiung spezialisierte
Soldaten an Bord gehabt haben. Zu fragen ist, warum die mutmaßlichen Kidnapper an Bord blieben,
wer ihr Auftraggeber und was ihre Ziele waren. Denkbar ist auch, dass es geheime Verhandlungen
zur Aufgabe gegeben hat.
Die bisher bekannten Tatsachen erwecken mehr den Anschein, dass man es mit dem Drehbuch
eines Agententhrillers statt mit der Lieferung von Holz im Wert von 1,16 Millionen Euro aus Finnland
nach Algerien zu tun hat. Die ganze »Arctic Sea«-Operation war von Anfang an und ausschließlich
in der Hand russischer Stellen. Da ist – nach Aussagen des russischen Botschafters bei der NATO,
Dimitri Rogozin – Vorsicht geboten: »Diese Operation ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man eine
solche in die Praxis umsetzt und diesbezügliche Informationen geheim hält«, erklärte Rogozin.
Desinformation ist eine Domäne der russischen Dienste. Ein finnischer Polizeisprecher bestätigte die
gezielt-falsche Nachrichtengebung: »Das Schiff war nicht so schrecklich verschwunden, wie viele
geglaubt haben.«
In den Medien waren Berichte über Sichtungen und Positionsmeldungen des angeblich gekaperten
Schiffes in der Biskayabucht, in Nordspanien, bei Gibraltar und vor den Kapverdischen Inseln
aufgetaucht. Die Aktion sei »ein voller Erfolg« gewesen, so Rogozin. Russland habe mit der NATO
kooperiert, NATO-Streitkräfte hätten aber nicht direkt an der Festsetzung der »Arctic Sea«
teilgenommen.
Wer so ehrlich zugibt, Desinformation gezielt einzusetzen, muss sich Spekulationen gefallen lassen.
Die letzte Piratenaktion in der Ostsee ist im 19. Jahrhundert datiert. Da man also davon ausgehen
kann, dass sich die mutmaßlichen Piraten nicht an der traditionellen Berufsauffassung à la Klaus
Störtebeker orientierten, kommen die Begriffe »Schmuggel« und »Konkurrenz« ins Spiel. Drogen?
Waffen? Nuklearmaterial? Es gibt Gerüchte, dass Strahlenschutzexperten am finnischen Liegeplatz
des Frachters gesichtet wurden. Doch auch das kann eine gezielte Desinformation sein.
* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2009
Zurück zur "Piraten"-Seite
Zur Russland-Seite
Zurück zur Homepage