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Erinnerung an einen Gefährten im Kampf. Zum 75. Todestag von Kurt Tucholsky

Von Kurt Pätzold *

Am 21. Dezember trennen uns exakt 75 Jahre von dem Tag, an dem Kurt Tucholsky im schwedischen Göteborg verstarb, unfern seines letzten Lebensortes Hindas. Dort hatte er sich fünf Jahre zuvor ein Anwesen gekauft und seitdem vorwiegend gelebt. Der in Berlin-Moabit Geborene war nicht älter als 45 Jahre geworden. Seine Urne wurde in Mariefred beigesetzt, einem Ort südöstlich von Stockholm, der ihm vertraut war und wo die Erzählung »Schloß Gripsholm« spielt.

Dieser Tag wird nicht vorübergehen, ohne daß die Feuilletons deutscher Zeitungen, die etwas auf sich halten oder wenigstens diesen Eindruck zu erwecken suchen, auf den Mann, sein Leben und seine Arbeit, seine Verdienste und sein Erbe zu sprechen kommen. Das kann und wird auf vielerlei Weise geschehen, wie Erfahrungen aus früheren Gedenkjahren sicher erwarten lassen. Es wird der keine Wette verlieren, der darauf setzt, daß Tucholsky auf jenes gut verträgliche Maß eines lebensklugen und unterhaltsamen Publizisten und Schriftstellers zurückgeschnitten und auf den Grad von Herausforderung minimiert wird, der den Anbetern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eben noch erträglich ist. Vor Jahren schon hat Peter Ensikat gefragt: »Von welchem Tucholsky reden wir?« Wer dieser Frage nachgeht, stößt unvermeidlich auf die komplementäre: »Und von welchem nicht?«

Militanter Pazifist

Hier nun wird von Tucholsky als einem Gefährten gehandelt werden, aus dessen Beiträgen zu den geistigen, sozialen und politischen Kämpfen seiner Zeit sich Nachdenklichkeit, Selbstprüfung, Konsequenz gewinnen lassen. Beginnen wir mit dem Platz, den der Mann, der Jahre seines Lebens im kaiserlichen Rock als Soldat des Ersten Weltkriegs verbringen mußte und aus ihm glücklich davonkam – durch die Gunst der Umstände und sein eigenes Verdienst – in der Geschichte des Friedenskampfes einnimmt.

Wie Tucholsky 1918 das ungeliebte Kleidungsstück, das er eine »Affenjacke« nannte, los war, bezog er die Haltung eines entschiedenen Pazifisten. Das war je länger je mehr in der Weimarer Republik ein Platz, der Anfeindungen bis hin zu körperlichen, lebensbedrohlichen Angriffen eintrug. Da die Militaristen Wilhelms II. ihren Einfluß in der Gesellschaft nicht verloren hatten, begann die Verherrlichung der Kriegstaten und der Helden der Schlachtfelder. Noch in der Kirche des letzten Dorfes wurden die »Gefallenen« geehrt. Auf Friedhöfen entstanden Denkmäler mit verlogenen Abbildungen, die das elende Sterben im Kriege beschönigten. Die Unbelehrten, die auf Revanche und Rache sannen, organisierten sich, marschierten im Orden- und Fahnenschmuck auf. Tucholsky hat diese Restauration gehaßt und in ihr eine Gefahr gesehen, welche die Gegenwart verpestete und für die Zukunft noch größeres Unheil befürchten ließ. Den Heranwachsenden, die den Krieg nicht erlebt hatten, die Wahrheit darüber zu vermitteln, was da an den Fronten geschehen war, darauf hat er seine Arbeit wieder und wieder gerichtet. So in der Erzählung »Jemand besucht etwas mit seinem Kind«, die 1925 in der Weltbühne veröffentlicht wurde. Dieser Jemand ist ein Franzose, der an dem sogenannten Stellungskrieg gegen die Deutschen teilgenommen hatte. Etwas, das ist der Ort, an dem er sich über Jahre befunden hatte und seinen Freund zwischen den Linien hilflos tagelang hatte sterben hören und sehen. Und das Kind ist sein Sohn, dem er die Geschichte dieses Sterbens erzählt und sagt, er solle nicht glauben, was in seinen Schulbüchern steht. Das hier, des Vaters Bericht, sei die Wahrheit. Der Text gehört zu den großen Erzählungen der deutschsprachigen Friedensliteratur. Hätte Tucholsky nur dieses eine Plädoyer für die Einhaltung des Friedens hinterlassen, es müßte sein Name in jeder Literaturgeschichte stehen.

Doch da ist aus seinem lyrischen Schaffen das von Hanns Eisler vertonte »Der Graben« mit der Forderung, daß Deutsche und Franzosen sich über ihn die »Bruderhand« reichen und die Erbfeindschaft für immer beenden sollen. Und da ist mit vielem anderen der Weltbühnen-Artikel aus dem Jahre 1926 »Wo waren Sie im Kriege, Herr …?« Der Text ist als eine Entgegnung auf jene vielen Leute geschrieben, die Tucholsky die halbseidenen Pazifisten nannte und »die dem Gegner den Gefallen tun, auf etwas, was ein Lob ist, als auf einen Vorwurf hereinzufallen. Sie verteidigen sich, anstatt anzugreifen.« Denn: »Für einen anständigen Menschen gibt es in bezug auf seine Kriegshaltung überhaupt nur einen Vorwurf: daß er nicht den Mut aufgebracht hat, Nein zu sagen.« Dieser kurze Text ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, »den Antimilitarismus rein zu halten von Kompromißlern. Deine Rede sei Ja–Ja oder Nein–Nein«. Dieser Forderung mangelt es nicht an einer ebenso bestimmten Begründung. Die Kriege der Herrschenden, die aus einer »Mischung von Wirtschaftsinteressen und Beamtenstank« geführt würden, gehen uns nichts an, schreibt er. Von seiner eigenen Rolle, er war als Vizefeldwebel aus dem Kaiserheer ausgeschieden, bekennt Tucholsky: »Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, daß ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich.«

Kein Mangel an Feinden

Es war diese Haltung, die ihn zu einem der meistgehaßten Publizisten nicht nur in den führenden Reichswehrkreisen, sondern auch in den Reihen der Parteigänger der »christlichen« wie der jüdischen Frontsoldatenbünde machte. Bekämpft werden müßten alle, die für den »falschen Kollektivwahn« verantwortlich gewesen waren, darunter die »Feldprediger, Feldpastoren, Feldrabbiner«, welche die Lehren der Bibel fälschten, sofern sie diesen ihren Anteil nicht bekennen würden und sich bekehrt hätten. Er liebe »jeden tapferen Friedenssoldaten«, hat Tucholsky erklärt und 1921 – und variierend in vielen weiteren Texten – seine Überzeugung niedergeschrieben: »Aber wenn wir nicht mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!«

Mit dem nahen Sieg des Faschismus sah er diese Schlacht um den Frieden jedoch als in Deutschland verloren. Er hatte keinen Zweifel, daß Hitler und die ihn an der Macht etablierten, auf Krieg aus waren. In den Notizen seiner letzten Jahre, vorgenommen in Zurückgezogenheit und zunehmender Vereinsamung, beschrieb er das Bevorstehende weitgehend richtig. Es werde zu Eroberungen kommen, zunächst, wie ihm noch denkbar für Österreich, ohne Krieg. Dann aber würden wieder Waffen eingesetzt werden. Geirrt hat er sich nur in der Reihenfolge, in der Nazideutschland seine Gegner später angriff. Doch sicher war ihm, daß weder die Sowjetunion noch die Westmächte davon verschont bleiben würden. Umso größer seine Enttäuschung darüber, daß sie das Aufkommen dieser Drohung duldeten. Nicht, daß er zum Kriege gerufen hätte. Doch der schärfste politische, wirtschaftliche und jeder andere Boykott des diktatorischen Regimes schien ihm geboten und die einzig angemessene Antwort. Nichts dergleichen geschah. Komme Hitler über den Winter 1933/1934, so seine düstere Prognose, so werden wir mit ihm sterben. Er kam.

Notwendiges Nein

In einer 2009 im Druck erschienenen, zwei Jahre zuvor an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen vorgelegten und akzeptierten juristischen Dissertation, deren Gegenstand die Auffassungen Kurt Tucholskys über Staat und Verfassung bilden, findet sich die Feststellung: »Es ist ihm nicht gelungen, konstruktiv über das Jetzt hinaus zu denken, zu phantasieren, zu schreiben.« Wer sich ein wenig in den Vorstellungen Tucholskys von jener anderen deutschen und Menschengesellschaft auskennt, für deren Herbeiführung er mit seinen Mitteln focht, fragt sich, was die Autorin eigentlich gelesen und was sie überlesen hat und wieviel die Gutachter dieser Arbeit von der Materie verstanden, über die ein apodiktisches Urteil gefällt wird, das sich getrost eine Amputation Tucholskys nennen läßt.

Was aus dem zitierten Satz herausschaut, wiederholt eine schon zu seinen Lebzeiten gegen den Mann und nicht nur gegen ihn allein erhobene Anklage: Es gehe ihm das Konstruktive, das Ja ab, er gehöre zu den ewigen Neinsagern. Diese Beschuldigung gegen ihre Kritiker (ausgenommen die an der Oberfläche der Erscheinungen haftenden) ist in der deutschen bürgerlichen Gesellschaft nie verstummt, derzeit aber wieder ausgesprochen in Mode gekommen; es wird das »positive Denken« als eine besondere Tugend propagiert.

So lohnt es sich doppelt, zunächst einen Blick in Tucholskys 1919 geschriebenen Text »Wir Negativen« zu werfen, der aus den späten Tagen der Revolution stammt. In ihm setzt er sich mit dem gegen die Weltbühne gerichteten Anwurf auseinander, »wir sagten zu allem Nein und seien nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche Nest. Und bekämpften – und das sei das Schlimmste – Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit Faust.«

Es lasse sich zu dem, was vier Monate nach dem Beginn der Revolution entstanden sei, schlechthin nicht Ja sagen, setzt Tucholsky dem entgegen und beschreibt seine Vorstellung davon, was erreicht werden solle: »Leute, bar jedes Verständnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben will – man nennt das hierzulande: Realpolitiker – bekämpfen uns, weil wir im Kompromiß kein Heil sehen«, schreibt er und weiter: »Wir können noch nicht Ja sagen. Wir wissen nur das Eine: es soll mit eisernem Besen jetzt, grade jetzt und heute ausgekehrt werden, was in Deutschland faul und vom Übel war und ist.« Und gegen den Vorwurf gewandt, in dieser Auseinandersetzung auch zu hassen, bekennt er: »Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.« Und er schließt: »Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut!«

»Proletarier-Staat mit Herz«

Soviel 1919. In den folgenden Jahren ist Tucholsky wieder und wieder zu dem Thema einer Gesellschaft zurückgekehrt, die an die Stelle der existierenden gesetzt werden müsse. Zehn Jahre später, im Augenblick, da die Große Krise ausbrach, ohne daß ihre Gewalt schon erkennbar gewesen wäre, formulierte er seine Vision von einer anderen sozialen Wirklichkeit im Gedicht »Hej« so: eine Welt ohne das »Geld verdienen mit dem Schweiß der andern«, ohne »regieren auf dem geduldigen Rücken der andern«, ohne »leben vom Mark der andern«. Und an anderer Stelle, ohne Furcht, der Wiederholung geziehen zu werden: Es gelte, »die ökonomische Grundbedingung des Lebens zu verbessern, also ein Minimum für den Arbeitenden herauszuholen, das menschenwürdig ist« oder mit anderen Worten: »es soll nicht gehungert, nicht krepiert, nicht unnütz geblutet werden; die Leute sollen, wenn sie arbeiten, arbeiten können, sie sollen eine menschenwürdige Wohnung haben (…) eben jenes Minimum. Das können sie nicht haben, wenn man Güter so verteilt.«

Die Arbeitenden sollten an Zugeständnissen selbstredend alles herausholen, was sie unter den Bedingungen der Kapitalherrschaft erreichen könnten, aber – wie es im Gedicht »Bürgerliche Wohltätigkeit« in den Zeilen »Gut! Das ist der Pfennig. Aber wo ist die Mark?« heißt – sie sollten sich mit der kleinsten Münze nicht zufriedengeben. Und so schließt der 1928 in der Arbeiter Illustrierten Zeitung veröffentlichte Text mit dem Ruf »Kämpfe!«

Auf das Verhältnis von Tagesinteressen der Arbeitenden und ihr Leben in einer künftigen humanen Arbeitswelt kam Tucholsky auch in einem Briefwechsel mit einer Katholikin im Jahre 1930 zurück. Ihr schrieb er: »Diese Qual der Arbeitenden ist niedrig; wer sie deckt, ist mitschuldig.« Und zu ihrem Anteil an der Linderung des Jammers versicherte er ihr sein »gut – bravo«. Doch sei das nicht die »Lösung«: »Aber wie nun, wenn einer weiterdenkt? Wenn einer sich überlegt: Woran liegt es, daß es so weit kommen kann und immer wieder kommen muß?« Das war sein Plädoyer für das Festhalten an der Idee, diese Zustände nicht von Fall zu Fall zu reparieren, sondern andere an ihre Stelle zu setzen. Doch Revolution à la Rußland? »Die Welt ist dafür nicht reif.« Noch nicht für den »Proletarier-Staat mit Herz«. Soviel also zu der These, Tucholsky habe über das Jetzt konstruktiv nicht hinausgedacht. Bei dieser Vision blieb er, auch wenn ihm die Vorstellung mehr und mehr verlorenging, wie aus diesem Nochnicht ein Jetzt werden könne, und seine Hoffnung, es werde die Entwicklung in einem »befreienden Menschentum« münden, angesichts des Sieges der Faschisten erlosch.

Zu Tucholskys Überzeugung gehörte, daß eine Sozialkritik sich vor allem auf die Zustände im eigenen Lande zu richten und diese zu bekämpfen habe. Das drückte in Wort und Bild der gemeinsam mit John Heartfield 1929 publizierte Band »Deutschland, Deutschland über alles« aus. Herbert Ihering, der Theaterkritiker, bemängelte daran, daß nicht gesagt werde, daß es in anderen Ländern genauso sei. Das akzeptierend, bemerkte der Kritisierte in einem Brief zunächst: »Lehnt einer diese deutsche Welt, so wie sie da ist, in Bausch und Bogen ab …, dann steht er jenseits der ›seriösen‹ Leute. Mir macht das nichts …«. Daran knüpfte Tucholsky die Bemerkung, er vermisse in Ihrerings Aufsätzen das »Gefühl für Blut und Tränen«. Und fragte dann: »Hören Sie das nicht? (…) Immer wenn ich schreibe, denke ich an die Anonymen, an den Proletarier, den Angestellten, den Arbeiter, an ein Leid, von dem ich durch Stichproben weiß. (…) Ich will lieber den Vorwurf auf mir sitzen lassen, künstlerisch nicht befriedigt oder aus Empörung über das Ziel hinausgeschossen zu haben, als ein Indolenter zu sein.«

Keine Frage, daß diese Parteinahme Tucholsky in eine Frontstellung gegen alle brachte, die sich mit den sozialen Zuständen der Weimarer Republik abgefunden und sich so oder so in ihnen eingerichtet hatten. Dazu zählte er die Spitzen der deutschen Sozialdemokratie. Herb seine Kritik und beißend sein Spott, ausgegossen über den Reichspräsidenten Friedrich Ebert, den Reichskanzler Hermann Müller, den Reichsminister Rudolf Hilferding. Und ebenso keine Frage, daß sein Standpunkt ihn an die Seite derer führte, die nachholen und erzwingen wollten, was 1918 nicht erreicht worden war, als, wie Tucholsky dichtete, in Preußen einmal die Erde gezittert hatte.

Tucholsky, der sich am Beginn der Republik den Unabhängigen Sozialdemokraten zugesellt hatte, später Hoffnungen auf die Kommunistische Partei setzte, ohne je ihr Mitglied werden zu wollen, hätte dort, wenn er schon nicht mit offenen Armen empfangen wurde, doch ein Willkommen zugerufen werden können. Mitnichten. Statt dessen hatte er Grund zu der Feststellung, daß es einem wie ihm in den Reihen der Arbeiterparteien »nicht leicht gemacht werde«. Als in einem kommunistischen Blatt in rüdem Stil über die linksorientierten Intellektuellen hergefallen (diese »überklugen Musensöhne« mit ihren »billigen Weisheiten und Rezepten«), ihnen die Schuld an der fortdauernden »Tragödie Deutschlands« zugeschrieben und gleichzeitig der Anspruch auf eine Führungsrolle angedichtet wurde, erbat und erhielt er an gleicher Stelle das Wort. So entstand 1929 sein Artikel »Die Intellektuellen und die Partei«, ein Zeugnis seiner tief reichenden Auseinandersetzung mit dem Widerspruch zwischen Wissenschaft und Politik, von geistiger und praktischer Gesellschaftskritik, dazu von seinen Vorstellungen, wie die sich in diesem Widerspruch Bewegenden das mit Nutzen für ihre Sache tun könnten. Was da geschrieben wurde, hätte, als es die in linken Parteien noch gab, gut in deren Bildungsabende gepaßt.

» … die gemeinsame Sache«

Fern jedes Gedankens, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, unterbreitete Tucholsky einen Vorschlag, was sich die Intellektuellen und die Partei jeweils »hinter die Ohren« schreiben könnten. Von jenen meinte er, daß nur der einen Platz in der Führung der Partei beanspruchen könne, der soziologische Kenntnisse besitze und für die Sache der Arbeiter auch persönliche Opfer brächte. Wer diese Bedingungen nicht erfülle, könne »allenfalls als bescheidener Helfer in den Reihen des Proletariats mitkämpfen«, ein »Sympathisierender« sein. Und die Partei wiederum könne den »entlaufenen Bürgern«, also den Intellektuellen, die wie er selbst den bürgerlichen Schichten entstammten, ein »gewisses Mißtrauen entgegenbringen«, das indessen nicht jedes Maß übersteigen dürfe.

Dann folgt Klartext: Es seien nicht die Arbeiter, die den linken Intellektuellen mit Mißtrauen begegneten, denn die wüßten mit dem »todsicheren Instinkt ihrer Klasse«, wer da zu ihnen komme, sondern die Viertel- und Halbgebildeten in der Parteibürokratie, die eine Konkurrenz wittern und den Hinzustoßenden mit versteckter oder offener Feindseligkeit begegnen würden. »Man mißtraut uns von der Funktionärseite der Arbeiterparteien her.« Sie schüfe eine Atmosphäre, die Tucholsky so beschreibt: »Tritt nun ein flammender, feuriger, starker Kerl in die Organisation, dann werden die Listenmenschen unruhig. ›Was will der hier?‹ Nichts. ›Einen Posten für sich?‹ Nein. ›Dann soll er uns auf alle Fälle hier nicht unsern Laden durcheinanderbringen (…) keine neuen Sachen (…) wie sieht überhaupt sein Mitgliedsbuch aus … ?‹«

Auf diese Weise entstünden Folgen, schreibt Tucholsky den Kommunisten ins Stammbuch, die sich an der Sozialdemokratie studieren ließen, in der das Mittelmaß in persona von Ebert, Wels und Noske zur Macht kommen konnte. Und dann und weiter über dieses lähmende Parteiwächtertum: »Ich habe niemals irgendeinen ›Krach‹ mit Parteiinstanzen gehabt; aber es gehört eine unbändige Geschicklichkeit dazu, nicht anzuecken. Guter Stil? Mißtrauen. Scharfe Formulierung, die ›sitzt‹? Der Bursche geistreichelt.« Er glaube ja nicht, daß seine »Gedichtlein« das wichtigste auf der Welt seien. Aber er war doch davon überzeugt, daß er und seinesgleichen die Arbeiterzeitungen besser machen könnten, als sie eben seien. Doch »Ihr laßt uns nicht heran. Ihr wißt es alles besser.« Damit schließt er nicht. Da ist seine Hand, ausgestreckt: »Wir sind weit voneinander. Wir sollten zueinander.« Und: »Es kommt nur auf eins an: zu arbeiten für die gemeinsame Sache.«

* * *

Was Tucholskys Hinterlassenschaft anlangt, so besaßen jene, die sich als seine Erben verstehen konnten, in allen Generationen »offene Konten«. Zeitweilig sind zu den ohnehin unerledigten gar neue noch hinzugekommen. Ungestraft hat sich diese Rechnung nie ignorieren lassen. Und nun zum Schluß und nur damit der vorstehende Text kein Mißverständnis und den Vorwurf verursacht, es sei der Dichter und Publizist auf andere Weise amputiert worden: Das hier ist gedacht als eine notwendig erscheinende »Ergänzung«. Der Autor möchte im Werk Kurt Tucholskys die Geschichten und Gedichte von Liebe und Liebenden so wenig missen wie alles, was er zu den Kämpfen seiner Zeit beigetragen hat.

Kurt Pätzold hat soeben veröffentlicht: Mit Lateinisch überzeugt man keine Indianer. Nachdenken mit Kurt Tucholsky an seinem 75. Todestag, edition bodoni, Berlin 2010, 66 S., 9 Euro, ISBN 978-3-940781-17-8

* Aus: junge Welt, 13. Dezember 2010


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