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Lasst uns drüber reden

Edgar Wolfrum über Rot-Grün an der Macht – die Übergangsregierung

Von Tom Strohschneider *

An einem Wahlkampf sind oft die leisen Töne die interessantesten, das nicht Gesagte, die Auslassungen. Zum Beispiel Rot-Grün: Da schicken sich zwei Parteien an, die Regierungsmehrheit zu erreichen; behaupten allen Umfragen zum Trotz, diese Konstellation und nur diese sei ihr Ziel; begründen dies damit, dass mehr Gemeinsamkeit und größere Übereinstimmung nirgendwo anders zu finden seien – und reden trotzdem so gut wie nicht darüber, dass sie in dieser »Wunschkoalition« bereits sieben Jahre zusammen regiert haben. Und das ist nicht einmal lange her.

Nun gut, hin und wieder sah sich in den vergangenen Wochen ein Sozialdemokrat dazu genötigt, der Amtsinhaberin im Kanzleramt zu bedeuten, dass die »Erfolge«, deren sich Angela Merkel rühmt, in Wahrheit jene der Schröder-Fischer-Regierung der Jahre 1998 fortfolgende gewesen seien. Ab und an reagierte man auf die von links erhobene Kritik an der rot-grünen Politik mit den Worten, diese bestehe erstens nicht nur aus der Agenda 2010 und zweitens sei an diesem Reformwerk auch nicht alles schlecht gewesen.

Ansonsten aber spielt die Vergangenheit der Regierung, deren Neuauflage SPD und Grüne anstreben, in diesem Wahlkampf kaum eine Rolle. Und das wird Gründe haben. Einer davon könnte lauten: Der Preis für diese Regierung war rückblickend betrachtet zu hoch. Die Sozialdemokratie verlor die Hälfte der Mitglieder und Wähler, die Grünen ihr Gewissen als Partei, die aus der Friedensbewegung stammt. Dies wäre sozusagen die parteienegoistische Variante des Beschweigens: Lass uns lieber nicht mehr drüber reden, die Wähler könnten sich vielleicht noch zu gut daran erinnern.

Nicht egoistisch wäre, auf die sozialen und ökonomischen, die Veränderungen in Mentalitäten und politischer Kultur ehrlich zu verweisen, sich einzugestehen, dass Rot-Grün bei dem Versuch gescheitert ist, einen gesellschaftlichen Wandel wenigstens sozialer zu gestalten. Über das Drama der Leiharbeit, die Verfestigung zigtausendfacher Armut, den Anstieg der Vermögen weniger und den multiplen Irrsinn von Privatisierung, Deregulierung, Entstaatlichung ist seither viel gesprochen worden, nur eben nicht so gern von Sozialdemokraten und Grünen.

Es gibt noch einen dritten Grund, und es wäre einer, der nicht nur Sozialdemokraten und Grünen Sorgen bereiten müsste. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug hat kurz nach dem Ende der Koalition im Jahr 2005 Rot-Grün die »Linksregierung unterm Neoliberalismus« genannt und angemerkt: »Eine andere steht vorläufig noch in den Sternen, und was mit Aussicht auf Erfolg anders gemacht werden könnte, nicht weniger.«

Man lehnt sich nicht gefährlich aus dem Fenster, wenn man sagt: Viel weiter sind wir heute auch nicht. Das gilt für »die andere« Linksregierung, die nicht vor der Tür steht, weil diese Tür zugehalten wird vor allem von SPD und Grünen. Und das gilt für die viel wichtigere Frage, »was mit Aussicht auf Erfolg anders gemacht werden könnte«.

Diese Frage beantwortet Edgar Wolfrum in seinem umfangreichen Werk »Rot-Grün an der Macht« nicht. Wer aber eine Antwort auf diese Frage sucht, ist trotzdem gut beraten, das Buch von Wolfrum zu lesen. Das liegt nicht daran, dass der 1960 geborene Historiker, der in Heidelberg Zeitgeschichte lehrt, mit seiner Beschreibung brandneuen Stoff für jene liefert, die der damaligen Regierung ohnehin schon kritisch gegenüberstehen. Sondern weil das Buch eher aus der Perspektive der handelnden Akteure geschrieben ist. Jürgen Kaube hat dazu in der »Frankfurter Allgemeinen« angemerkt, Wolfrum halte sich »an die entsprechende Selbstbeschreibung des rot-grünen Personals samt befreundeten Journalisten«. Das hilft zumindest beim Verstehen.

Für Wolfrum war Rot-Grün eine »Regierung des Übergangs«, die in einer »Scharnierzeit« zur »ersten globalen Regierung in Deutschland« wurde. An solchen Superlativen mangelt es in dem Buch nicht, an einer Stelle wird das Schröder-Kabinett sogar zum Teil einer »Ausgipfelung des kulminierenden Strukturbruchs«.

Bomben auf Jugoslawien, Atomausstieg, die Anschläge vom 11. September 2001, Agenda 2010. Handwerkliche Fehler, innenpolitische Zerreißproben, außenpolitische Kurssuche. Oskar Lafontaines Rücktritt, die knappe Wiederwahl 2002, der Irakkrieg. Wolfrum versucht, zwischen diesen Wegmarken der Geschichte Felder zu erkunden, Rot-grün als Ausdruck eines größeres Ganzen zu zeichnen, das sich auf eine Weise im Räderwerk der Gesellschaft vollzieht, die in der hektischen Alltagskommentierung zu seltenwahrgenommen wird. Andererseits: Die Globalisierung, mit der Schröder und andere stets ihre »Reformen« zu begründen suchten und die Wolfrum als »alles überwölbende Grundtendenz« bezeichnet, hat ja nicht erst kurz vor dem Jahr 1998 eingesetzt. Und wer meint, Rot-Grün habe »am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert Türen aufgestoßen«, hätte auch präziser herausarbeiten können, welche besser geschlossen geblieben wären – oder ob es andere gegeben hätte.

Das Buch hinterlässt zudem den Eindruck, als habe es in den Jahren zwischen 1998 und 2005 nur Sozialdemokraten und Grüne gegeben; für ein Werk, das für sich in Anspruch nimmt, »das große Ganze« nicht aus den Augen zu verlieren, fehlen andere, vor allem außerparlamentarische und wirtschaftliche Akteure. Eine politisch-ökonomische Betrachtungsweise ist Wolfrums Sache nicht, ob und inwiefern Rot-Grün als Ausdruck der tiefgehenden Veränderungen im Akkumulations- und Energieregime erklärt werden könnte, wird kaum angesprochen.

Doch auch wenn der Untertitel von Wolfrums Buch »Deutschland 1998 – 2005« ein wenig in die Irre führt, weil es eben keine zeithistorische Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik jener Jahre ist, bleibt es ein Kandidat auf den Titel »Standardwerk«. Das gilt zwar mehr für die Fakten als für die Analyse, mehr für die chronologische Schilderung als für die Bewertung. Aber eine ähnlich umfangreiche, wissenschaftlichen Maßstäben gehorchende, auf eine Vielzahl bisher unveröffentlichter Quellen und persönlicher Gespräche mit Politikern basierende Schilderung der rot-grünen Regierung ist bisher nicht erschienen.

Edgar Wolfrum: Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 - 2005, C.H. Beck München 2013. 848 S., geb., 24,95 €.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. September 2013


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