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Warum Piraten?

Konturen einer bürgerlichen Partei neuen Typs

Von Georg Fülberth *

Die Piratenpartei gibt sich brandneu und steht zugleich in einer ehrwürdigen Tradition. Ihre wichtigste Vokabel ist: Freiheit. Sie war die Initiationsparole des Liberalismus, und dieser entstand in den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Kapitalismus benötigte freie Märkte mit freien Bürgern. Als Feind identifizierte er den absolutistischen Staat. In dessen Verteidigung entstand der Konservativismus, der die bürgerlichen Umwälzungen entweder rückgängig machen (dann war er reaktionär) oder verlangsamen wollte. Die ökonomischen Tatsachen waren stärker, und er mußte sich anpassen. Schon mit Edmund Burke (1729–1797) nahm diese Richtung die Form des Liberalkonservativismus an: für das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln, Freiheit des Individuums und der Presse, Rechtssicherheit, aber Fernhaltung des Pöbels von der Macht. Die Tradition dieser liberalkonservativen Parteien reicht bis in die Gegenwart, in Deutschland: von den Nationalliberalen der Bismarckzeit bis zu CDU und CSU in der Bundesrepublik.

Als der in der industriellen Revolution durchbrechende Manchesterkapitalismus die Arbeitskraft zu ruinieren drohte, entstand die soziale Frage. Das Korrektiv bot der Sozialliberalismus. Die Kapitalisten ließen sich ein paar Reformen abnötigen, und die Arbeiterbewegung verzichtete auf die Revolution. Im 20. Jahrhundert schlossen sich auch die liberalkonservativen Parteien für einige Jahrzehnte dieser Politik an, die deshalb zwischenzeitlich hegemonial wurde.[1]

Dies – der Sozialliberalismus – war, nach dem Manchester-Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, der zweite Liberalismusschub. Ärgerlicherweise wurden dadurch Staat und Arbeiterbewegung gestärkt, und so erhielt auch der Sozialliberalismus einen Zwillingsbruder: den Neoliberalismus, der die unbehelligte Freiheit der Märkte wiedergewinnen wollte. (Von den rabiateren Befürwortern eines besonders dynamischen Kapitalismus, da aber mit starkem Staat, also den Faschisten, reden wir heute einmal nicht.)

Sozialliberalismus war ziemlich teuer, weshalb, was der Arbeitskraft notgedrungen zugebilligt werden mußte, anderwärts wieder hereinzuholen war: Raubbau an natürlichen Ressourcen, Belastung von Boden, Wasser, Luft durch Abstoffe, Abwasser, Strom aus gefährlichen Atomkraftwerken. Auch das kann die Grundlagen des Kapitalismus – jetzt: die stofflichen – angreifen. Ihre Rettung wurde zur Mission der Umweltbewegung, deren Themen zumindest in den Metropolen ebenfalls inzwischen hegemonial sind.

Schwungkraft bekam sie auch diesmal durch die Angst vor einer Apokalypse: die Vorstellung von einer unbewohnbar gemachten Erde.

Die ökologische Frage wurde von Teilen der Intelligenz gestellt. Sie war inzwischen zu einer Massenschicht angewachsen, nicht mehr vergleichbar mit den paar Akademikern früherer Zeiten. Die fortgesetzte Steigerung der Produktivität hatte die Befreiung vieler Menschen von der Hand- und ihre Beschäftigung mit Kopfarbeit ermöglicht. Deren politische Loyalitäten verteilten sich in der Bundesrepublik über das gesamte Parteienspektrum – Ärzte, Betriebswirte, Juristen: eher CDU/CSU und FDP, Ingenieure und Naturwissenschaftler: Union, Freie Demokraten, SPD im Verhältnis zu deren sonstiger Stärke. Zugleich trieb ein ebenfalls wachsender Teil der Intelligenz – die technische – diesen Prozeß noch voran. Der produktionsfernste Sektor der neuen Massenschicht: Gesellschafts- und Geisteswissenschaftler (innen), hatte 1968 ff. eine besondere Sozialisation durchlaufen, schwankte kurz zwischen Faschismus- und Kriegsfurcht einerseits, der Vision der universellen Befreiung andererseits und landete schließlich ernüchtert bei den Grünen. So erhielt der Liberalismus seinen dritten Schub: Zum Sozialliberalismus tritt der Ökoliberalismus, der sich mit dem Neoliberalismus (dieser nagt seit Mitte der siebziger Jahre am alten Klassenkompromiß) ja ganz gut versteht.

Fast zeitgleich erfolgte der nächste Umbruch innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise: die digitale Revolution. Mit ihr differenzierte sich eine weitere Gruppe der Intelligenz heraus: IT-Spezialisten und andere Netzaffine. Wieder wurde diese neue Situation in einer Kombination von Apokalypse und Euphorie wahrgenommen.

Die Gefahr

In dem Roman »Angst« von Robert Harris steuert ein verselbständigter Algorithmus einen Hedgefonds und bugsiert dessen Gründer in die Katastrophe. Das Buch wurde zum Bestseller nicht nur deshalb, weil sein Autor ohnehin eine Berühmtheit ist, sondern weil er eine weit verbreitete Furcht vor zunehmender informationeller Fremdbestimmung trifft. Die Enttarnung eines Geheimdienst-Trojaners in der Bundesrepublik 2011 zeigte die Gefahr des totalen Überwachungsstaats. Den Kampf gegen diesen hatte sich allezeit ein meist recht schwächlicher Nebenzweig der bisherigen Liberalismen zur Aufgabe gemacht: eine Menschenrechtsgesinnung, die in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Totalitarismus – insbesondere mit dem Kommunismus – gute Dienste tat und durch die sich in Deutschland die FDP immer wieder zu legitimieren versuchte. Nach ihren Berufsverbotsministern Genscher und Maihofer und ihrem Ja zum Großen Lauschangriff glaubt ihr das kaum noch jemand. Die Radikaldemokraten – sympathische Untermieter des Liberalismus – suchten zeitweise Zuflucht bei den Grünen. Einige von ihnen, auch dort von Zeit zu Zeit enttäuscht, versuchen es nun mit den Piraten, wo ihnen freiheitliche Technokraten Hilfe zu bieten scheinen.

Es fällt auf, daß die neue Partei gegen den Staat mit seiner – zum Beispiel – Vorratsdatenspeicherung härter auftritt als gegen die Sammelwut von privaten Unternehmen. Damit befindet sie sich in Übereinstimmung mit dem einerseits paranoischen, andererseits plapperhaften Verhalten eines Publikums, das beim Surfen im Internet, beim Einkaufen mit Scheckkarte, beim Mailen und Twittern, bei der öffentlichen Benutzung des Handys, auf Facebook und Youtube seine Daten und Intimitäten mit großer Bereitwilligkeit streut und sich zugleich die Illusion geschützter Privatheit erhalten will. Zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehört nach liberalem Verständnis eben auch, daß man es zwar hat, aber nicht unbedingt davon Gebrauch machen muß. Seine Verteidigung ist mühsam, seine Delegation an eine Partei, die in erster Linie dem Staat auf die Finger sehen will, verschafft die Illusion, sich doch etwas sichern zu wollen, was man tagtäglich aus der Hand gibt.

Das Versprechen

Ihre Schubkraft erhalten die Piraten aber nicht in erster Linie durch bürgerrechtliche Defensive, sondern durch die Aussicht, die durch technische Entwicklungen nunmehr mögliche Chance neuer Freiheiten und bisher unvorstellbarer kultureller Teilhabe gegen überholte administrative und rechtliche Hemmnisse durchzusetzen. Dieses Angebot wird von ihnen in durchaus bekannten Begriffen formuliert: Neben der Freiheit sind dies Demokratie und Transparenz. Neu sind nicht diese Ziele, sondern die Mittel, mit denen sie jetzt erreicht werden sollen. Die neue freiheitliche Politik wäre dann, so denkt man sich das, nur noch der Tritt, mit dem umgestoßen wird, was ohnehin schon zu fallen scheint: Hierarchien und Zwang.

Seit über hundert Jahren werden alle Versuche, innerparteiliche Demokratie zu verwirklichen, frustriert. Mit ihrer Software »Liquid Feedback« wollen die Piraten jetzt zumindest bei sich selbst damit Ernst machen. (Sie steht auch anderen Parteien zur Verfügung, wird aber da wohl nicht gern angenommen werden: einerseits weil bestehende Machtstrukturen dies hindern, andererseits auch, weil sich – bei anderer und durchschnittlich älterer Mitgliedschaft als bei den Piraten – dort eine jüngere, netznahe Elite Vorteile vor der Mehrheit sichern könnte.) In Parlamentarismus und Verwaltung sollen Abläufe durch digitale Zugänge transparent werden. Liquid Democracy bietet zumindest ein Instrument, Abgeordnete an imperatives Mandat zu binden. Die prinzipielle Entscheidung des Grundgesetzes für das Repräsentativsystem ist damit nicht aufgehoben. Sie berief sich nie ausschließlich darauf, daß sich eben nicht alle Staatsbürger zur selben Zeit und am selben Ort einfinden könnten, um durch Abstimmung Entscheidungen zu treffen. Immerhin ist durch die neue Technik zumindest dieser formale Einwand gegen direkte Demokratie entkräftet. Danach kann die politische Grundsatzdiskussion beginnen.

Dies alles ist etwas für die Radikaldemokraten und sogenannten Aktivbürger – eine Minderheit mit relativ viel Zeit und nicht allzu großen Alltagssorgen. Der Appeal der Piraten beruht aber auch auf der durch das Internet eröffneten Aussicht auf kostenfreien kulturellen Konsum: Download von Videos, Musik, Bildern und – wenn es denn sein muß – Lektüre. Die Interessen von Rechteinhabern stehen ihm im Wege, die Abmahnindustrie verfolgt Halbwüchsige mit Geldstrafen. Eine Partei, die sich dagegen wendet, hat damit einen jungen Massenanhang.

Die Parole von der Freiheit gewinnt damit auch einen materiellen Aspekt. Er findet sich überdies in den Programmforderungen nach kostenlosem öffentlichen Personennahverkehr und einem bedingungslosen Grundeinkommen.

Mit der Finanzierungsfrage stellt sich ein Verteilungsproblem. Es kann links oder rechts behandelt werden.

Erweiterung der öffentlichen Güter – hier: Freifahrt für alle – ist nicht ohne ein neues Steuersystem, letztlich Steigerung der Einnahmen von Gemeinden, Ländern und Bund zu haben, dies aber entweder durch Erhöhung der Verbrauchssteuern oder durch Vermögenssteuern, eine Erbschaftssteuer, die diesen Namen verdient, und scharfe Progression der Einkommenssteuern – auf keinen Fall aber mit einem Staat, der nichts einnehmen und nichts ausgeben darf. Damit befindet sich, wer derlei fordert in einer älteren sozial- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung, auf die sich die Piratenpartei bislang noch nicht einließ. Aber immerhin bezeichnen sich einige ihrer Politiker als sozialliberal.

Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen kann sich auch auf marktliberale Vorläufer berufen. Milton Friedman erfand schon vor Jahrzehnten die »negative Einkommenssteuer«: Wer unter dem Existenzminimum verdient, erhält die Differenz aus der öffentlichen Hand, wer darüber liegt, muß zahlen. Werden dadurch die Sozialversicherungen überflüssig, haben die Unternehmen weniger Abgaben zu entrichten, ihre Lohnnebenkosten sinken.

So kann man das sehen, muß aber nicht. Die letzte und unbezweifelbare Basis eines bedingungslosen Grundeinkommens ist eine so hohe Produktivität, daß es für alle in Fülle reicht und diejenigen, deren Arbeit niemals wegrationalisiert werden kann und sogar noch zunehmen wird (zum Beispiel im Pflegebereich), nicht mit Armutslöhnen abgespeist werden. Der technische Fortschritt ist hierfür nur eine notwendige, noch nicht die hinreichende Bedingung. Daß eine junge Partei keine große Lust hat, die wahrscheinlich harten Auseinandersetzungen, in denen das erst durchgesetzt werden kann, gleich am Anfang in ihre Rechnung einzustellen, kann man irgendwie begreifen.

Mitten in der Periode des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist plötzlich ein alter Begriff wieder modern geworden: die Allmende (commons). Das ist kein Widerspruch. So wie die Sonne über Arm und Reich scheint, könnte man sich vorstellen, daß das Netz beiden offensteht, daß aber die Ausstattung der User nach wie vor klassenbedingt ist: bei den einen langt es gerade einmal zur Erweiterung ihres immateriellen Konsums, die anderen können es zur Gewinnerzielung und Ausbeutung gut gebrauchen.

Eben Moglen von der Free Software Foundation hat 2003 »The dotCommunist Manifesto« veröffentlicht. Wer aus den verblichenen oder gerade verbleichenden sozialistischen Organisationen deshalb gleich zu den Piraten überlaufen möchte, sollte sich das vorher gründlich überlegen, aus zwei Gründen:

Erstens: Diese bürgerliche Partei ist zwar für die Vergesellschaftung von geistigem Eigentum, wie sie es aber mit dem Eigentum an Produktionsmitteln, Banken und Versicherungen hält, hat sie noch nicht mitgeteilt. Es ist anzunehmen, daß sie dazu auch künftig keine Meinung haben will.

Zweitens: Die Möglichkeiten, die das Internet für demokratische Planung bietet, bleiben unbehandelt. Paul W. Cockshott und Allin Cottrell haben hierzu schon 1993 ihr Buch »Towards a New Socialism« vorgelegt. Der Untertitel der deutschen Übersetzung von 2006: »Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie« klingt für freiheitliche Piraten, die wie Margaret Thatcher keine Gesellschaft, sondern nur (wenngleich vernetzte) Individuen kennen, wahrscheinlich wie Freiheitsberaubung.

Kader und Basis

Zulauf erhält diese Partei derzeit von deutscher Wutbürgerei, die sich immer neue Advokaten sucht. Darunter sind neuerdings ausweislich der Landtagswahlergebnisse überdurchschnittlich viele Arbeiter und Erwerbslose. Sie sind anderwärts so oft und gründlich verladen worden, daß sie diese Erfahrung jetzt einmal an einer ganz neuen Adresse machen wollen.

Wutbürger sind Laufkundschaft. Wichtiger ist die Gesamtheit aller Internetnutzer, in der sich auf Dauer eine ausreichend große Minderheit finden kann, die sich durch die Piratenpartei vertreten zu sehen vermag. Einen harten Kern bilden Freiberufler im IT-Umfeld. Für die Prekären unter ihnen ist die Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen keine Nebensache: Es macht frei fürs virtuelle wahre Leben.

Dies sind gute Voraussetzungen für die Kader, die zu erheblichen Teilen aus den Funktionseliten der mittleren Ebene kommen: gut verdienend, nicht auf politische Posten zu ihrer Ernährung angewiesen. Sie haben ein Umfeld, dessen Mitglieder ihrer Partei gar nicht angehören und sie noch nicht einmal wählen müssen, um sie dennoch zu fördern: Jeder Datenschutzbeauftragte, und wäre er in der CSU, ist eine Art Ehrenpirat.

Internet- und Softwarekonzerne sowie digitale Geräteindustrie: Sie stellen jene Infrastruktur, aus deren Potential die neue Partei eine Legitimierungsressource zieht: abgeleitete Macht. Viele Piraten sind ihnen beruflich attachiert, wenngleich meist nicht als abhängig Arbeitende, sondern als Selbständige.

Ihre Partei hat die alte Grünen-Parole: »Politik der ersten Person« aktualisiert. Die Piraten vertreten nicht andere, sondern sich selbst. Dies mag auf die Dauer zu Verlusten in der Laufkundschaft führen, hält aber den Kern zusammen. FDP, Grüne, Piraten: Volksparteien müssen sie nicht werden, es genügt die kritische Masse von Teilen der Mittelschicht, die ausschließlich ihre eigenen Interessen vertreten.

Geistiges Eigentum

Wenn Produkte der sogenannten Content-Industrie (Filme, Musik, Texte) unter Bruch des Urheberrechts ins Netz gestellt werden, wird aus Privateigentum Allmende. Darüber freuen sich nicht nur die Konsumenten, sondern auch kommerzielle Zweitverwerter, die aus den kostenfrei zur Verfügung stehenden Inhalten neue Angebote machen und daran verdienen. Verlage und Musikindustrie sowie ihre Zulieferer werden geschädigt. In letzter Instanz ist nicht nur Privateigentum in öffentliches überführt worden, sondern es entsteht zusätzlich aus einer Sorte Privateigentum auf dem Umweg über die Commons eine andere.

Für die von den Piraten geforderte Aufhebung des Patentschutzes gilt Ähnliches. Auf das Gejammer der Unternehmen, dann lohne sich Forschung für sie nicht mehr, muß man nichts geben. Wer auch nur für eine kurze Frist durch Produkt- oder Prozeßinnovation eine bessere, billigere oder begehrtere Ware anbieten kann, wird daraus einen Extraprofit ziehen können. Also wird es bei dem Anreiz für Forschung bleiben. Allerdings wird das Monopol des Erstproduzenten oft nur kurz anhalten. Aufhebung des Patentschutzes wird den Markt dynamisieren. Es ist eine Deregulierung, die nicht nur formal eine Parallele zur Entfesselung der Finanzmärkte darstellt. Denkbar ist, daß aus der Brechung alter Monopole neue entstehen.

Immerhin kann der Vorstoß der Piraten Bewegung in die Beziehungen zwischen Content-Industrie und den von dieser Ausgebeuteten, die von den Erstverwertern anständig bezahlt werden müssen, bringen. Ein Problem entsteht für Kleinverlage. Viele intellektuelle Produzenten haben vom jetzigen Urheberrecht kaum etwas und werden das bedingungslose Grundeinkommen attraktiver finden als die paar Euro Entgelt bei winzigen Auflagen und von der Verwertungsgesellschaft Wort oder von der GEMA.

Eine weit größere Aufgabe ist die Verteidigung noch bestehender Allmenden gegen den Privatisierungszugriff von Konzernen, für die sich Regierungen mit dem Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) und dem Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) zu Komplizen machen. Hier geht es letztlich nicht um den Schutz individuellen geistigen Eigentums, sondern um die private Monopolisierung alter kultureller Techniken, die bisher allen zur Verfügung standen (etwa in der Landwirtschaft), ja sogar von Teilen des menschlichen Genoms.[2] Dieses Feld hat die Piratenpartei allerdings nicht erst entdeckt, hier steht sie neben Grünen und Sozialisten.

Entlastende Leerstellen

Die Piraten sind nicht anti-, aber a-gewerkschaftlich. Mit Verlierern (oder solchen, die sie dafür halten) geben sie sich nicht gern ab.

Sie sind nicht frauenfeindlich, aber in ihrer übergroßen Mehrheit eine Männerpartei. Das sichert ihnen die klammheimliche Zuneigung von Typen, die schon länger finden, es müsse auch einmal genug sein mit dem feministischen Gedöns. Neuerdings gibt es auf hervorgehobenen Positionen Frauen, die sogar als Gesichter der Partei gelten. Diese interpretieren das gern als Resultat von Postgender.

Die Passagen im Parteiprogramm zur Ökologie sind ein Witz: bei den Grünen offenbar lustlos abgeschrieben. Daß das Internet ein Energiefresser ist, kümmert die Piraten zumindest bislang wenig.

Aussagen zur Außenpolitik fehlen. Ein Pfiffikus schlug vor, man solle sie im Rahmen der Piraten-Internationale klären. Eine gute Idee.

All diese Lücken – zu ihnen gehört, wie gezeigt, ja auch die Wirtschaftspolitik – sind in Wirklichkeit gar keine, sondern sie sind der ungeschriebene Teil des Programms und ein Erfolgsrezept. Es gibt Themen, an denen eine ganze Generation müde geworden ist. Wer sie ausspart, bietet Entlastung an.

Aussichten

Zurzeit haben die Piraten kaum Feinde. Das Feuilleton ist von ihnen begeistert, auch wegen des interessanten intellektuellen Potentials, das insbesondere die Frankfurter Allgemeine Zeitung sich dort für sich zu erschließen versucht. Die Kanzlerin hat die Piraten gelobt: Sie könnten so schön mit Technik umgehen. Hier hat eine Hoffnung mitgespielt: Die Erfolge der neuen Partei sollten Rotgrün verhindern. Seit Nordrhein-Westfalen sieht das auch schon wieder anders aus. Außerdem signalisieren die Piraten inzwischen Spaß an Minderheitsregierungen, die von ihnen fall- und themenweise toleriert werden können. Daß sie der Linkspartei ihren zeitweiligen Wutbürgeranhang weggenommen haben, wird von deren Feinden gern zur Kenntnis genommen, sollte aber von jener nicht falsch und wehleidig als Ursache ihrer Krise aufgefaßt werden. (Das Gegenteil ist der Fall.)

Die Frage, ob die Piratenpartei sich auf Dauer wird halten können, interessiert ihre Mitglieder und Konkurrenten. Wir haben uns vorstehend auf die Erkundigung beschränkt, wie sie denn in die gegenwärtige Periode des Kapitalismus hineinpaßt. Vorläufige Antwort: Nicht schlecht. Die Piraten sind nicht blöd und stellen sich nur Aufgaben, die sie im eigenen Interesse auch lösen können.

Anmerkungen
  1. Siehe Opitz, Reinhard, »Liberalismuskritik und Zukunft des liberalen Motivs«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1-3/1972. S. 13–43; 166–181; 294–314
  2. Paetau, Michael, »Piraten am Kreuzweg der Wissensordnung«, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozial­wissenschaften 295/2012. S. 908
* Aus: junge Welt, Samstag, 26. Mai 2012


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