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Letzte Chance, weitere Atomwaffenstaaten zu verhindern? Auftakt der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag

Andreas Flocken (NDR) im Gespräch mit Prof. Dr. Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung *

Andreas Flocken (Moderator):

Die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern - dieses Ziel haben sich viele Staaten auf ihre Fahnen geschrieben. Als ein wichtiges Instrument gilt der Nichtverbreitungsvertrag. Oft wird er auch als NVV oder Atomwaffensperrvertrag bezeichnet. Vor 40 Jahren ist dieser Vertrag in Kraft getreten. Mehr als 180 Staaten haben ihn inzwischen unterzeichnet. Die Atommächte USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich haben sich damals verpflichtet, ihre Nukleararsenale abzurüsten. Im Gegenzug sagten die anderen Vertragsstaaten zu, ihrerseits auf Atomwaffen zu verzichten. Alle fünf Jahre findet eine sogenannte Überprüfungskonferenz statt. 2005 war diese Konferenz allerdings ein Fehlschlag. Denn man konnte sich damals noch nicht einmal auf eine Abschlusserklärung einigen.

Anfang der Woche sind in New York nun erneut Diplomaten aus aller Welt zu einer Überprüfungskonferenz zusammengekommen. Bis Ende des Monats wird darüber verhandelt, wie der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt werden könnte.

Professor Harald Müller ist Direktor der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Er ist zugleich Berater des Auswärtigen Amtes und Mitglied der deutschen Delegation in New York. Mit ihm habe ich über die Konferenz gesprochen. Professor Müller spricht allerdings nicht für das Auswärtige Amt. Ich habe ihn zunächst gefragt, ob die Konferenz diesmal erfolgreicher verlaufen wird als vor fünf Jahren:

Interview Flocken / Prof. Harald Müller

Müller: Also die Vorzeichen sind natürlich wesentlich günstiger. Wir hatten zuletzt in den Vorbereitungsausschüssen eine ausgesprochen angenehme Stimmung. Man hat sich auf eine Agenda geeinigt, auf einen zeitlichen Ablauf. Das war alles vor fünf Jahren nicht der Fall. Und wir haben natürlich, und das ist der Grund für diese bessere Stimmung, eine völlig andere amerikanische Administration in Washington, die wirklich nachhaltig daran interessiert ist, diese Sache zu einem guten Abschluss zu bringen und den Vertrag zu stärken. Ich sage aber dazu, es gibt einen großen Stolperstein, der heißt Iran. Denn in einem gemeinsamen Abschlussdokument muss nach den Regeln der Konferenz jeder anwesende Mitgliedsstaat zustimmen. Und es ist eigentlich kein substanzielles Dokument denkbar, das nicht auch sehr kritische Bemerkungen über die iranische Politik enthält. Dem müsste der Iran selbst zustimmen, und damit ist ja nicht zu rechnen.

Flocken: Das heißt, Sie befürchten, dass der Iran die Konferenz blockieren könnte?

Müller: Das ist durchaus ins Auge zu fassen. Der Iran wird einer eigenen Verurteilung nicht zustimmen. Er macht ja schon jetzt seit geraumer Zeit den Versuch, eine Art Gegenmacht in dem Nichtverbreitungs-Regime aufzubauen. Das deutlichste Zeichen in jüngster Zeit war die Gegenkonferenz, die er in Teheran zu dem Nukleargipfel in Washington gemacht hat, an der immerhin mehr als 30 Länder teilgenommen haben. Und der Iran wird diesen Versuch der Opposition, der Gegenanklage gegen die Vereinigten Staaten, gegen die Kernwaffenstaaten und Israel, auch in New York jetzt versuchen, in der Hoffnung, so viele Staaten um sich zu scharen, dass ein Konsens am Schluss auf keinen Fall zustande kommt.

Flocken: Neben der Frage des Iran. Wo sehen Sie die Hauptprobleme und Konflikte auf dieser Konferenz. Was sind die Knackpunkte?

Müller: Der traditionelle Knackpunkt Nummer 1 ist immer der Abrüstungspunkt gewesen. Die fünf Nuklearmächte haben nach Artikel 6 des Vertrages die Verpflichtung abzurüsten. Sie haben das bis jetzt in höchst unzureichender Weise getan. Ein trauriger Höhepunkt war die Verweigerung der Bush-Administration und auch der Franzosen im Jahr 2005 das anzuerkennen, was man als konkrete Abrüstungsschritte im Jahr 2000 auf der Überprüfungskonferenz verabredet hatte. Also etwa die taktischen Kernwaffen mit einzubeziehen, mehr Transparenz zu zeigen usw. usf. Und das wird ein riesiger Streitpunkt sein. Präsident Obama hat zwar für eine bessere Stimmung gesorgt und die Rahmenbedingungen verbessert. Wir haben einen neuen Abrüstungsvertrag zwischen Russland und den USA vorliegen. Aber genügt das, um das Misstrauen und die aufgestaute Wut zu überwinden, die sich bei den Blockfreien angesammelt haben? Das wird man sehen. Das wird sehr von dem Verhandlungsgeschick der amerikanischen Delegation abhängen. Dann haben wir als zweites Problem die friedliche Nutzung der Kernenergie. Die Entwicklungsländer haben das Gefühl, dass man sie von der Nutzung abschneiden will, dass man ihnen Dinge verweigern will, Technik verweigern will, die die Industriestaaten benutzen dürfen. Vor allen Dingen Anreicherungen und Wiederaufarbeitung. Und es wird hier darauf ankommen, dieses Misstrauen zu besänftigen und deutlich zu machen, dass die Anstrengungen, die unternommen werden, um diese Techniken zu kontrollieren, und dann nur multilateral zu nutzen, dass diese Anstrengungen für alle gelten, auch für diejenigen, die jetzt im Moment die Technik haben. Und das Dritte ist das Nichtverbreitungsinstrument. Dazu zählt etwa die Frage, was tun wir, wenn ein Staat, der vertragsbrüchig ist, von seinem Rücktrittsrecht Gebrauch macht. Nehmen wir das einfach so hin wie im Fall Nordkorea? Oder gehen wir dann dagegen mit Sanktionen vor? Es hängt damit auch die Frage zusammen, wie wir das Verifikationssystem im Vertrag stärken wollen. Da gibt es das sogenannte Zusatzprotokoll, das erweiterte Zugangs- und Inspektionsrechte für die Inspektoren vorsieht. Das möchten westliche Staaten zum Standard machen, das heißt, verpflichtend für alle Nicht-Kernwaffenstaaten. Während die Blockfreien Staaten Nein sagen. Sie sagen: das kann man annehmen oder auch nicht. Und es ist Sache der Souveränität des einzelnen Staates, ob er es will oder nicht. Also da gibt es auch noch diverse Streitpunkte, wo Kompromisse gefunden werden müssen.

Flocken: Sie haben bereits angesprochen, in Artikel 6 verpflichten sich die offiziellen Atommächte, also die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien, ihr Atompotenzial zu reduzieren, ja letztlich ganz abzuschaffen. Zwar gibt es den neuen START-Vertrag, aber letztlich sind die Atommächte ihren Abrüstungsverpflichtungen bisher nur unzureichend nachgekommen. Haben die Großmächte trotz eines Obamas in Fragen der atomaren Abrüstung nicht erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt?

Müller: Das haben sie ganz fraglos. Und leider ist es ja so, dass es sehr viel leichter ist, Vertrauen zu zerstören, als Vertrauen aufzubauen. Unter dieser Asymmetrie leidet im Moment die Obama-Regierung, aber man muss auch wirklich sagen, sie versucht ihr bestes. Und sie muss einen unwahrscheinlichen Drahtseilakt unternehmen zwischen der glaubwürdigen Demonstration, dass es Obama mit dem Ziel der kernwaffenfreien Welt sehr ernst ist, und zugleich der Demonstration nach innen in das amerikanische Sicherheitsestablishment hinein, dass Obama nicht darauf abzielt, die amerikanische nationale Sicherheit zu schwächen. Das in einer Lage, wo in den USA die Republikanische Rechte unverständlicherweise wieder stärker wird. Nach all den immensen Trümmern, die die Bush-Administration dieser neuen Regierung überlassen hat, haben offensichtlich viele amerikanische Wähler schon wieder vergessen, wer an der Misere wirklich schuld ist. Und da war es natürlich für Obama auch ausgesprochen schwer, kühne Schritte nach vorne zu gehen, weil ihm sonst sofort die Republikanische Meute am Rock hängt und ihn beschuldigt, eben die Sicherheit der USA aufs Spiel zu setzen. Ja, das ist sehr schwer für ihn.

Flocken: Hat der Nichtverbreitungsvertrag nicht auch eine Schieflage? Denn zu den Vertragspflichten der Nichtatomstaaten gehört, dass sie überwacht werden. Umgekehrt gilt das für die fünf offiziellen Atommächte allerdings nicht. Das kann doch auf Dauer nicht gut gehen?

Müller: Ja dieser Vertrag ist ungleich. Es gibt nicht so viele internationale Verträge, bei denen das der Fall ist, und der NVV ist unter ihnen der hervorstechendste. Der Vertrag ist ungleich, und eben deswegen ist diese Klausel des Artikels 6 ja so wichtig, weil die Abrüstungsverpflichtungen der Großmächte natürlich eine Perspektive bietet, dass diese Ungleichheit über Zeit verschwindet. Denn in dem Maße wie die Großmächte abrüsten, kämen sie ja dann auch unter die Regeln der Überprüfung.

Flocken: Aber sie rüsten ja nur unzureichend ab.

Müller: Ja eben, deswegen sage ich ja, dass das der Knackpunkt in der Aus einandersetzung in New York sein wird. Gelingt es den Großmächten, und sind sie bereit, sich auf konkrete Schritte einzulassen mit einem konkreten Zeitplan, der für die nächsten fünf Jahre deutlich macht, dass sie bereits sind in ihre Arsenale einzuschneiden, und das auch verifizieren zu lassen.

Flocken: Aber wenn Sie nur unzureichende Abrüstungsfortschritte feststellen, müsste man dann nicht auch den Vertrag reformieren, strukturell nachbessern? Denn Sie sagen ja selbst: der Vertrag ist ungleich.

Müller: Das können Sie vergessen. Die Art und Weise wie dieser Vertrag verändert werden kann, ist unendlich kompliziert. Sie brauchen zunächst mal eine Mehrheit der Vertragsstaaten, die einer solchen Änderung zustimmt. Und sie brauchen dann die Mehrheit aller Staaten, die zu dem Zeitpunkt der Änderung im Gouverneursrat der Internationalen Atomenergie Organisation IAEO sind. Und diese Staaten müssen auch alle ratifiziert haben bevor die Veränderung in Kraft tritt. Es ist infolge dessen eigentlich viel einfacher, das Regime dadurch zu ergänzen, dass man neue Verträge um den NVV herum verhandelt und abschließt, als den NVV selbst zu ändern. Also die Vertragsväter hatten offensichtlich im Sinn, dass der Vertrag möglichst nicht verändert wird.

Flocken: An welche neuen Verträge denken Sie denn?

Müller: Eine Serie von START-Verträgen, wenn Sie etwa daran denken, dass wir nach dem jetzigen Vertrag sehr bald einen haben könnten, der die Zahl aller Sprengköpfe in russischer und amerikanischer Hand auf 2.000 heruntergesetzt, die der strategischen auf 1.000. Das ist der Punkt, an dem China und auch Frankreich und England gesagt haben, dass sie an diesem Punkt in Erwägung ziehen, selber auch in die nukleare Abrüstung einzusteigen, und selbst Verpflichtungen zu übernehmen, die dann auch überwacht würden. Wenn in Genf die pakistanische Blockade gegenüber einem Vertrag, der die Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke verbietet, der sogenannte FMCT, in Gang kommt und ein solcher Vertrag abgeschlossen wird, würde auch der gesamte nukleare Komplex in den Kernwaffensaaten unter die Überwachung der IAEO kommen, das wären schon mal beträchtliche Fortschritte vorwärts. Obama hat auch gesagt, er will alles tun, damit Amerika den umfassenden Teststoppvertrag ratifiziert. Dann würde China folgen, dann würde auch Indien folgen, und irgendwann auch Pakistan. Der Vertrag könnte in Kraft treten. Damit hätte man für die nächsten fünf bis 10 Jahre schon ein sehr reichhaltiges Programm, das sehr zielsicher und deutlich auf eine kernwaffenfreie Welt zuläuft.

Flocken: Zurück zur Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag in New York. Ist es nicht ein Mangel oder ein Makel, dass die fünf offiziellen Atommächte, also die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien nicht eine gemeinsame Initiative gestartet haben, um so an Glaubwürdigkeit zu gewinnen?

Müller: Gut, ich meine das hängt natürlich immer davon ab, wer regiert diese Länder. Frankreich ist im Moment immer noch sehr zurückhaltend. In der französischen Elite hat sich leider der Glaube festgesetzt, der internationale Status Frankreichs hänge am Kernwaffenbesitz. Ich halte das für eine Sinnestäuschung, aber es wird dort vielerorts geglaubt. China fühlt sich nach wie vor von den USA bedroht, hat größere Befürchtungen, was die amerikanischen Weltraumpläne und die amerikanische Raketenabwehr angeht und ist deswegen entsprechend zurückhaltend, sich selber einzubringen, solange die russischen und amerikanischen Arsenale noch so groß sind. England ist gutwillig. Sie haben jetzt sicher gehört, dass hohe englische Militärs sogar gesagt haben, man könnte auf das Nachfolgemodell für das jetzige Atom-U-Boot Trident verzichten, was bedeuteten würde, dass Großbritannien einseitig abrüstet. Und wir haben noch Russland, das solange die NATO sich erweitert und die Amerikaner an Raketenabwehrplänen festhalten, auch zögerlich ist, zu tief hineinzuschneiden in die eigenen Arsenale, aber durchaus bereit ist, jetzt zunächst noch mal einen weiteren Vertrag mit den Vereinigten Staaten zu schließen, der weitere Reduzierungen beinhaltet. Also, Atommächte sind eine sehr gemischte Familie. Und auch da muss man sagen: die Amerikaner unter Obama haben noch ein großes Programm vor sich, bis sie Staaten wie China oder Frankreich auf Linie haben. Aber sie arbeiten immerhin daran.

Flocken: Hätten aber nicht beispielsweise die Europäer oder auch die NATO-Staaten mit dem Abzug oder mit der Ankündigung eines Abzugs der taktischen US-Atomwaffen aus Europa ein Signal setzen können, dass man zu drastischen Abrüstungsschritten bereit wäre? Hätte man so nicht ein Signal der Glaubwürdigkeit auch auf dieser Überprüfungskonferenz setzen können?

Müller: Absolut. Ich hätte es auch begrüßt, wenn die Amerikaner von sich aus zu einer Doktrin des Nicht-Ersteinsatzes übergegangen wären, was sie nicht gemacht haben. Und ich fand es vollkommen richtig, dass die Bundesregierung sehr deutlich gemacht hat, dass sie für den Abzug der restlichen taktischen Kernwaffen aus Europa eintritt.

Flocken: Aber sie konnte sich nicht durchsetzen.

Müller: Sie konnte sich nicht durchsetzen. Aber das ist sicher eine Sache, bei der man die dicken Bretter in der NATO weiter bohren muss. Es sind letztlich die kleinen osteuropäischen, jüngeren NATO-Mitglieder, deren Russlandangst sie dazu veranlasst hat, den Verbleib dieser Waffen in Europa zu fordern. Und die Vereinigten Staaten wollten da nicht einseitig über dieses Sicherheitsbedürfnis dieser Länder hinweggehen. Die Bundesregierung muss weiter versuchen, Allianz-Partner für diese Idee zu werben. Bei einigen ist das ja schon gelungen: Belgien, Niederlande, Luxemburg, Norwegen. Andere sind sicher zugänglich. Und man muss alles tun, und da sind wieder die USA gefordert, um den osteuropäischen Ländern klar zu machen, dass die Sicherheitsgarantie für sie unter allen Umständen gilt, ob nun diese Waffen in Europa sind oder nicht. Denn eine militärische Funktion haben die taktischen Atomwaffen nicht mehr. Das ist in der neuen amerikanischen Nukleardoktrin, der Nuclear Posture Review, eindeutig zum Ausdruck gekommen. Die Waffen sind auch aus amerikanischer Sicht verzichtbar und haben nur noch einen symbolischen und psychologischen Wert. Und daran kann man arbeiten.

Flocken: Aber ist der Preis dafür nicht hoch, dass durch so ein Versäumnis, ein Signal zu setzen Richtung Abzug taktischer Atomwaffen, möglicherweise ein Erfolg der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages gefährdet wird?

Müller: Also ich glaube nicht, dass der Erfolg oder Misserfolg an dieser einen Sache hängt. Sicher wäre es förderlich gewesen, das jetzt zu tun. Aber schon die Tatsache, dass die Bundesregierung sich öffentlich dazu bekennt, ist natürlich ein Fortschritt, der in Jakarta oder in Manila auch registriert und positiv bewertet wird. Man hat vieles versäumt zwischen 2005 und heute. Man hat manches gemacht und die Bilanz ist für alle Seiten ausgesprochen gemischt. Deswegen ist eben mein Optimismus für den Ausgang der Konferenz auch relativ gedämpft.

Flocken: Es gibt inzwischen vier zusätzliche Atommächte neben den fünf offiziellen Atommächten. Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea sind Atommächte. Ist das nicht ein Hinweis, dass der Nichtverbreitungsvertrag immer mehr geschwächt wird, an Bedeutung verliert?

Müller: Also da müssen wir mal die historischen Abläufe genau anschauen. Indien, Pakistan und Israel sind schon ziemlich lange Atommächte. Indien 1974, Israel 1967, Pakistan 1983/84. Die Tatsache, dass Indien und Pakistan ihre großen Testserien erst 1998 durchgeführt haben, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon über Arsenale verfügt haben. Also ist der einzige jüngere Kandidat, der innerhalb der letzten 25 Jahre dazugekommen ist, Nordkorea. Ein zusätzlicher Staat in einem viertel Jahrhundert, in einer Zeit, wo etwa 15 andere Staaten ihre Kernwaffenprogramme oder ihre ererbten Kernwaffen im Fall der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufgegeben haben, ist für den Vertrag doch eine ganz hervorragende Bilanz. Argentinien, Brasilien, Chile, Spanien, Algerien, Libyen, Irak, Ukraine, Kasachstan und Belarus, Jugoslawien, Rumänien. All diese Staaten haben in der Zeit Kernwaffenprogramme aufgegeben. Insofern ist diese Argumentation, gestützt auf einen einzigen Fall, statistisch nicht sehr überzeugend.

Flocken: Sie sagen ein einziger Fall. Fakt ist aber, dass Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea Atommächte sind. Sehen Sie denn Chancen, dass diese Staaten dem Nichtverbreitungsvertrag beitreten oder sich diesem Vertrag annähern?

Müller: Ich halte es im Falle Nordkoreas für möglich. Was Indien, Israel und Pakistan angeht, bin ich der Auffassung, dass diese Staaten ihre Kernwaffen nur im Zuge einer Gesamtbewegung zur nuklearen Abrüstung aufgeben werden, die auch die fünf legalen Kernwaffenstaaten im NVV mit einbezieht. Sie werden nicht einseitig abrüsten und dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beitreten, sondern sie werden das nur tun, wenn der Abrüstungsprozess wirklich alle erfasst.

Flocken: Sollte nun der Iran oder sollten auch andere Staaten wie Ägypten und Saudi-Arabien in den nächsten 10 Jahren Atommächte werden. Wäre das nicht das Ende des Nichtverbreitungsvertrages?

Müller: Das ist durchaus denkbar. Wenn von den iranischen Aktivitäten ein klares Proliferationssignal im Nahen- und Mittleren Osten ausgeht, dann würden wir in einer anderen, immens viel gefährlicheren Welt leben. Übrigens ist das eines der Grundmotive, die die Obama-Regierung treibt bei ihrem Versuch, das Ziel der nuklearen Abrüstung voranzubringen. Also die ganze Iran-Frage ist eine Schlüsselfrage in der weiteren Entwicklung der Weiterverbreitung oder Nichtverbreitung von Kernwaffen und damit eben auch der nuklearen Abrüstung. Ich bin persönlich allerdings auch der Meinung, dass je näher der Iran der Bombe kommt, um so größer auch das Risiko wird, dass der davon am meisten bedrohte Staat, nämlich Israel, das Schicksal in die eigenen Hände nehmen wird.

Flocken: Wenn die Überprüfungskonferenz in New York Ende des Monats beendet wird, was muss konkret geschehen sein, um sagen zu können, diese Konferenz war ein Erfolg, der Nichtverbreitungsvertrag ist gestärkt worden?

Müller: Wir brauchen ein Aktionsprogramm für die nächsten fünf Jahre, das alle treibt, die Pfeiler des Vertrages zu bedienen, nämlich Abrüstung, Nichtverbreitung und die sichere friedliche Nutzung der Atomenergie bedient. Wenn es nicht gelingt, das in einer einvernehmlichen Schlusserklärung am Ende der Konferenz festzustellen, weil eine Minderheit von Staaten die Sache blockiert, dann muss man ein solches Dokument in die Vollversammlung der Vereinten Nationen geben. Dort wird mit Mehrheit darüber abgestimmt. Eine Zweidrittel-Mehrheit könnte man dort mit Sicherheit erreichen, und damit wäre ein solches Aktionsprogramm für die Völkergemeinschaft auch festgehalten und das wäre tatsächlich ein äußerst nützlicher Schritt vorwärts.

Aus: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 8. Mai 2010; www.ndrinfo.de


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