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Deutsches Schildbekenntnis

Bundesrepublik stellt sich erstmals öffentlich hinter US-Plan für Raketenabwehr in Europa

In der NATO deutet sich Zustimmung zum Aufbau eines Raketenschirms in Europa an. Das wurde bei Beratungen der NATO-Außenminister am Donnerstag in Brüssel deutlich.

Brüssel (Agenturen/ND). Deutschland stellte sich beim NATO-Rat in Brüssel erstmals öffentlich hinter das Projekt der US-Regierung, das der Abwehr iranischer Mittelstreckenraketen dienen soll. Auch Frankreich als größter Kritiker will einen einstimmigen Beschluss beim NATO-Gipfel in fünf Wochen in Portugal offenbar nicht blockieren. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sagte in Brüssel zum Raketenschirm, die NATO sei einer Einigung »sehr nah«. »Wir sind alle der Meinung, dass es einer Raketenabwehr angesichts der Gefährdungslage heute und morgen bedarf.« Der Schutzschirm ist Teil der neuen Bündnisstrategie, welche die Staats- und Regierungschef am 19. und 20. November in Lissabon beschließen wollen.

Die frühere rot-grüne Bundesregierung hatte Pläne des damaligen US-Präsidenten George W. Bush für eine Raketenabwehr noch abgelehnt. Bundesaußenminister Guido Westerwelle begründete das Umdenken damit, dass die USA das Abwehrsystem nun gemeinschaftlich mit allen NATO-Partnern aufbauen wollen und nicht mehr im Alleingang mit Polen und Tschechien. »Der entscheidende Durchbruch« sei zudem die US-Einladung an Russland, sich an dem Raketenschirm zu beteiligen. Der Kreml hat sich bisher nicht positiv zu dem Vorhaben geäußert.

Frankreich meldete bei dem NATO-Rat Bedenken an dem Abwehrsystem an. »Es gibt noch viele technische und finanzielle Unwägbarkeiten«, sagte Verteidigungsminister Hervé Morin. Der Minister verglich den Raketenschirm sogar mit der Maginot-Linie, dem wirkungslosen Schutzwall Frankreichs gegen Nazi-Deutschland. Frankreich dürfte dem Vernehmen nach einen einstimmigen NATO-Beschluss in Lissabon aber nicht blockieren. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen warb erneut für den Raketenschirm: »Die Bedrohung ist klar, das Potenzial ist klar, und die Kosten sind überschaubar«, sagte der dänische Generalsekretär. Während Rasmussen die nötigen Mittel auf 200 Millionen Euro beziffert, gehen die USA nach Angaben von Verteidigungsminister Robert Gates nur von 85 bis 110 Millionen Euro über zehn Jahre aus. Dies sei »wirklich sehr bescheiden«, so Gates auf dem Flug nach Brüssel.

Dazu dürften nach Diplomatenangaben allerdings Milliarden für Abfangsysteme in den einzelnen Ländern kommen.

Scharfe Kritik am neuen strategischen Konzept des Paktes kam derweil von der LINKEN. »Wenn die NATO sich die Entscheidung darüber vorbehält, ob die US-Atomwaffen in Deutschland stationiert bleiben oder abgezogen werden, läuft das auf eine Entmündigung des Bundestags hinaus«, erklärte der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Wolfgang Gehrcke. »Nicht die NATO, sondern der Bundestag und weitergehend die Bevölkerung müssen über die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik entscheiden können.« Er verwies darauf, dass von der NATO bisher kein tatsächliches Angebot über die Abrüstung taktischer Atomwaffen ausgehe. Auch im konventionellen Bereich sei das Bündnis nicht abrüstungsbereit. »Stattdessen sollen jetzt in allen Mitgliedstaaten neue Waffensysteme angeschafft werden«, so der LINKE-Sprecher.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Oktober 2010


NATO sucht Strategie

Von Rainer Rupp **

Die Außen- und Verteidigungsminister aller 28 NATO-Staaten haben am Donnerstag in Brüssel das neue strategische Konzept des Militärpakts beraten. Es soll in fünf Wochen auf dem NATO-Gipfel in Lissabon verabschiedet werden. Wenn es nach den USA ginge, würde in dem neuen Grundsatzpapier die künftige Rolle der Allianz als Weltgendarm in amerikanischen Diensten festgelegt. Allerdings hat seit Beginn der Wirtschaftskrise Washington in internationalen ökonomischen Gremien zunehmend geschwächelt, bei vergleichsweiser Stärkung der deutschen Positionen. Das dürfte nicht ohne Auswirkung auf die politisch-militärischen Verhandlungen in der NATO bleiben.

Tatsächlich treffen hinter der Kulisse der Einigkeit die divergierenden nationale Interessen der NATO-Mitgliedsländer knallhart aufeinander. Das erschwert eine gemeinsame Position. Ursprünglich hätte das neue Grundsatzpapier schon beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 verabschiedet werden sollen. Aber selbst der NATO-freundliche Spiegel gestand seinerzeit eine tiefe »Sinnkrise« der Allianz ein. Damals diskutierte man nicht einmal ernsthaft über Strategien und Konzepte, aus Angst, die tiefen Risse innerhalb des Bündnisses ließen sich dann nicht länger kaschieren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Davon zeugt auch das Papier, das als Denkanstoß für das neue Grundsatzdokument der NATO von einer »Expertenkommission« unter Führung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright kürzlich dem NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vorgelegt wurde.

Was am Donnerstag (14. Okt.) in Brüssel geboten wurde, waren Geplänkel auf Nebenkriegsschauplätzen, wie z.B. die Frage, ob der von den USA in Polen und Tschechien – angeblich gegen iranische und nordkoreanische Atomraketen – geplante Raketenabwehrschirm auf ganz Europa ausgedehnt werden soll. Um der Bevölkerung in Deutschland eine solche Aufrüstung mit US-Raketen schmackhafter zu machen, griff Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zu einem billigen Trick und forderte im Gegenzug die Atommächte zur Abrüstung auf. Dem mit dem »Schutzschirm« verbundenen Aufrüstungsansinnen Washingtons will er sich nicht entziehen. »Wir sind wie alle der Meinung, daß es einer Raketenabwehr angesichts der Gefährdungslage heute und morgen bedarf«, sagte Guttenberg in Brüssel. Breit diskutiert wurde auch die Abwehr sogenannter Cyberattacken, mit denen man ganze Volkswirtschaften per Computervirus lahmlegen können soll. Rasmussen fordert dafür die Zuständigkeit der ­NATO. Aber selbst hier ist eine Einigung nicht in Sicht. Die deutschen Vertreter sprachen sich z.B. für gemeinsame Abwehrvorbereitung aus, lehnten aber die Forderung anderer Mitgliedsländer nach einer automatischen Aktivierung des Artikel 5 bzw. der gegenseitigen Beistandspflicht strikt ab.

Auch im Albright-Papier zum neuen strategischen Konzept sind gemeinsame Positionen kaum zu finden. Statt dessen werden die sich teils ausschließenden Interessen der Mitgliedsländer bedient. US-Vorstellungen werden dabei natürlich bevorzugt. In Kernfragen des Bündnisses, wie z.B. dem Umgang mit Rußland – mit dem Deutschland, Frankreich und etliche Mittelmeerländer in der EU lieber eine strategische Partnerschaft anstreben, als in der ­NATO auf Konfrontationskurs zu gehen – scheint man nicht weiter gekommen zu sein. Zugleich streben die Kernländer, insbesondere die BRD, bei US-amerikanischen Interventionen mehr Mitspracherechte ein, was Washington überhaupt nicht paßt. Von einer gemeinsamen Position bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Afghanistan-Krieg ist die NATO Lichtjahre entfernt. In Brüssel kreißte zwar der Berg, beim Gipfel in Lissabon wird die NATO als strategisches Konzept nur eine Maus gebären.

** Aus: junge Welt, 15. Oktober 2010


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