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Welche Sicherheit und für wen?

"Wer dem Frieden dienen will, muss den Weg der UN einschlagen". Gastbeitrag zum Nato-Jubiläumsgipfel

Von Hans-C. von Sponeck *

Der Nato-Gipfel ist in mehrfachem Sinn ein Krisengipfel gewesen. Die Abschlusserklärung von Straßburg und Kehl hat viel zu sagen über den Brandherd Afghanistan, denn "unsere Sicherheit ist eng verbunden mit der Sicherheit und Stabilität Afghanistans". Hingewiesen wird auf den notwendigen Dialog mit Russland. Verschwiegen werden die Gegensätze unter den Bündnisstaaten zu diesem Thema. Die Erklärung macht deutlich, dass die Nato weiterhin auf der Suche nach ihrer Existenzberechtigung ist. Gefunden werden soll ein "neues strategisches Konzept, dass die langfristige Rolle der Nato in den neuen Sicherheitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts definiert." Sichtbar sind an diesem 4. April die Gegensätze zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Allianz. Für die einen gilt "Ohne Nato kein Frieden", für die anderen "Wegen Nato mehr Krieg".

Die Welt der 192 UN-Mitgliedstaaten ist an einer Weggabelung angelangt. Da ist der Weg in eine Welt, die sich auf das Wohl der Gemeinschaft, Konfliktabbau und Frieden konzentriert, auf ein Leben in Würde, menschlicher Sicherheit sowie sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt für alle Menschen - wie die UN-Charta es vorsieht. Auf dem anderen Weg wird das "Große Spiel" um Macht aus dem 19. Jahrhundert weitergespielt. Auf diesem Weg geht es angeblich um Demokratie, in Wahrheit aber um Macht, Kontrolle und Ausbeutung. Im 21. Jahrhundert ist dieses "Spiel" dabei, das gefährlichste Unterfangen zu werden, das es je gab.

Keine Friedensdividende

Alles über den Nato-Gipfel im Spezial 60 Jahre Nato. Aus der Friedensdividende, die am Ende des Kalten Krieges erwartet worden war, ist nie etwas geworden. Das Militärbudget aller UN-Mitgliedstaaten hat im Jahr 2007 mit 1,2 Billionen Dollar einen neuen Höchststand erreicht. Der Militärhaushalt der USA alleine beträgt davon etwa 50 Prozent; auf die Nato-Staaten entfallen 70 Prozent. Im gleichen Jahr belief sich die gesamte Entwicklungshilfe auf 103 Milliarden Dollar oder 8,3 Prozent der Militärausgaben.

Die UN wurden geschaffen zur weltweiten Friedenserhaltung und Friedensförderung. Die Nato existiert, um Eigeninteressen für eine durch Albanien und Kroatien erweiterte Staatengemeinschaft von 28 Ländern sicherzustellen. Ihr Auftrag, begründet im Washingtoner Abkommen von 1949, galt ursprünglich dem Verteidigungsschutz der Mitgliedstaaten. Am Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 schien der Auftrag erfüllt. Dies begründete die Suche nach einer neuen Nato-Rolle. Neben Verteidigung der Grenzen von Mitgliedstaaten wurden Zugang zu Energiequellen sowie das Recht zum Eingreifen bei "Bewegungen von großen Zahlen von Menschen" und in Konflikten weit entfernt von Nato-Mitgliedstaaten zu erklärten neuen Zielen.

Im Washingtoner Abkommen war die UN-Charta als rechtlicher Rahmen der Nato verbindlich anerkannt worden. Das UN-Monopol der Gewaltanwendung wurde aber seit der Nato-Doktrin von 1999 nicht länger akzeptiert. Der bis dahin auf den Euro-Atlantik begrenzte Raum wurde von den Nato-Mitgliedstaaten erweitert und mit einer Strategie des globalen Einsatzes versehen. Es sei hinzugefügt, dass das Washingtoner Abkommen in den Parlamenten der beteiligten Staaten verabschiedet worden war und internationales Recht darstellt. Dies trifft nicht auf die später formulierten Strategien und Doktrinen der Nato zu.

Trotz dieser Nato-Entscheidungen, die offensichtlich nur den Interessen einer kleinen Minderheit von UN-Mitgliedstaaten dienen sollen, wurde am 23. September 2008 zwischen den Generalsekretären der UN und der Nato, Ban Ki Moon und Jaap de Hoop Scheffer, ein Abkommen unterzeichnet. Dies geschah ohne eine Vorlage im UN-Sicherheitsrat. In dem aus offensichtlichen Gründen allgemein gehaltenen Abkommen geht es um eine "erweiterte Beratung" und "operative Zusammenarbeit", wie zum Beispiel bei der "Friedenserhaltung" auf dem Balkan und in Afghanistan. Beide Generalsekretäre verpflichten sich, bei Bedrohungen und Herausforderungen gemeinsam vorzugehen. Der Nato-Gipfel von Straßburg und Kehl weist auf die Wichtigkeit dieses Abkommens mit der UN hin.

Im heutigen Zeitalter der Konfrontation wird vom Sekretariat der UN ein hohes Maß politischer Neutralität erwartet. Das UN/Nato-Abkommen ist alles andere als neutral und wird nicht ohne ernste Folgen für die Friedensarbeit bleiben. Moskaus Botschafter bei der Nato in Brüssel, Dmitry Rogozin, bezeichnet das UN-Abkommen mit der Nato, einer militärisch-politischen Struktur, als "illegal"; Sergej Lawrow, heute Außenminister Russlands und früher Botschafter bei den UN, ist "schockiert", dass ein solches Abkommen im Geheimen und ohne Konsultation unterschrieben wurde.

Es stellen sich wichtige Fragen: Steht das Abkommen der UN mit der Nato, einer militärischen Allianz mit Nuklearwaffen, im Einklang mit Artikel 2 der UN-Charta, der verlangt, dass Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen seien? Kann zwischen UN- und Nato-Einsätzen unterschieden werden, wenn drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auch Nato-Mitglieder sind? Wie können künftige Nato-Rechtsbrüche gerichtlich verfolgt werden? Ist eine Einrichtung wie die Nato, die 1999 ohne UN-Mandat völkerrechtswidrig Serbien und Kosovo bombardiert hat, ein geeigneter Partner der Vereinten Nationen?Bei der Beurteilung des UN/Nato-Abkommens sollte auch beachtet werden, dass die Nato ein Relikt des Kalten Kriegs ist, dass sie als westliche Allianz bei den meisten der anderen 164 Mitgliedstaaten ein erhebliches Vertrauensdefizit hat, dass es ein Nato-Ziel ist, durch militärische Macht energie- und machtpolitischen Interessen gegen andere UN-Staaten durchzusetzen und dass die USA, führendes Nato-Mitglied, auf skrupelloseste Weise die UN immer wieder missachtet und UN-Völkerrecht gebrochen haben.

Die UN-Charta sieht einen Generalstabsausschuss vor, der den Sicherheitsrat unterstützen und beraten soll, was "dessen militärische Bedürfnisse zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit … betrifft". Wenn es also den Nato-Staaten um das Wohl der internationalen Gemeinschaft und nicht um die Interessen einer kleinen Staatengruppe ginge, würde das UN-Mandat eine Nato unnötig machen.

Es ist dringlich, dass ein Mitgliedstaat oder mehrere den Internationalen Gerichtshof um die Auslegung des UN/Nato-Vertrags vom 23. September 2008 gemäß den Statuten des Gerichtshofes ersuchen. Die Weltöffentlichkeit hat ein Recht, eine solche Forderung zu stellen und ein Recht, Antworten zu erwarten. In der Präambel der UN-Charta heißt es: "Wir, die Völker der Vereinten Nationen..., (sind) fest entschlossen... Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen... gewahrt werden können." In der UN-Charta heißt es nicht: "Wir, die Regierungen".

Wer dem Frieden und dem Abbau von Konflikten dienen will, muss den holprigen multilateralen Weg der UN einschlagen und den geebneten Weg der Nato meiden. Der Weg wird ein langer sein, denn einen uneigenützigen Multilateralismus gab es bisher nicht.

Ab 1994 begann die UN, den Begriff der "Menschlichen Sicherheit" zu benutzen. Damit wollte sie unterstreichen, wie wichtig die Umsetzung der Menschenrechte in das tägliche Leben Einzelner ist, also die Befreiung von Angst und Leid. Erstmals in der Geschichte der UN sind im Jahr 2000 Entwicklungsziele quantifiziert worden. Das ist ein echter Fortschritt für die Stärkung der menschlichen Sicherheit. Acht "Millennium-Entwicklungsziele", darunter Armutsbekämpfung, Grundschulzugang und Kampf gegen Kinder- und Müttersterblichkeit, sollen bis 2015 erreicht werden.

Die Vereinten Nationen wollen damit deutlich machen, dass es neben staats-bezogener (militärischer) Sicherheit auch eine Menschen-bezogene Sicherheit gibt. Verfechter der Staatssicherheit, wie zum Beispiel Regierungen, deren Ziel die militärische Sicherheit durch Stärkung von Allianzen wie der Nato ist, wissen dies. Sie sprechen offen von "militärischem Humanismus". Dies ist eine Täuschung, denn es geht darum, eigene Interessen zu wahren, und nicht darum, außenstehende Unschuldige zu schützen. Wäre dies der Fall, sähe es in Afghanistan, Darfur, Gaza, Goma, Somalia und Simbabwe anders aus.

In allen Bereichen der menschlichen Sicherheit gibt es Fortschritte. Doch es bleibt unwahrscheinlich, dass die Millennium-Ziele bis 2015 Wirklichkeit werden. 135 Milliarden Dollar werden bis 2015 gebraucht, 22,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Wer meint, das sei viel Geld, weiß wohl nicht, dass die USA pro Jahr 180 Milliarden Dollar für die Truppeneinsätze im Irak und Afghanistan ausgeben oder dass die von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffenen Länder binnen weniger Wochen etwa drei Billionen Dollar unter anderem für die Rettung reformbedürftiger Einrichtungen in ihren Ländern bereitgestellt haben.

Der Erfolg der UN-Entwicklungsziele ist keine Frage des Geldes, selbst in diesen wirtschaftlich kritischen Zeiten nicht. Fortschritt für erhöhte menschliche Sicherheit braucht politischen Willen. In den vergangenen Jahrzehnten ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es leicht möglich wäre, innovative Finanzierungsalternativen einzuführen wie etwa die "Tobin-Steuer". James Tobin, US-Wirtschaftswissenschaftler, schlug 1972 vor, eine Steuer von einem halben bis einem Prozent auf internationale Devisengeschäfte zu erheben. Mit den Einnahmen sollte unter anderem Entwicklungshilfe finanziert werden. Entsprechende Vorschläge werden ignoriert oder zurückgewiesen. Manche Regierungen fürchten, damit würde die Unabhängigkeit internationaler Einrichtungen, wie der UN, zu groß.

Wer im 21. Jahrhundert in Frieden leben will, wird keine Schwierigkeiten bei der Wahl des Weges haben. Der Zugang zu diesem Weg ist offen.

Keine Sonderrechte für Allianzen

Sieben Herausforderungen der Gegenwart ergeben sich:
  1. Fortschritt einer grundlegenden UN-Reform als Weltziel: Multilateralismus im Interesse der Menschheit kann geschaffen werden;
  2. Rückkehr zu den Grundsätzen der UN-Charta: Die UN darf nicht weiter nur als politischer Handwerkskasten dienen;
  3. Anerkennung und Förderung der menschlichen Sicherheit als Priorität für ein würdiges Überleben: Militärische Sicherheit kann kein Ersatz für menschliche Sicherheit sein;
  4. Einhaltung des internationalen Rechts: Politische Verantwortung ohne Rechenschaft für die Konsequenz der Handlung darf es nicht geben;
  5. Absage an die freie (anarchische) Marktwirtschaft: Ordnung, Aufsicht und Kontrolle von Wirtschaft und Finanz bedeuten eine Garantie, nicht eine Gefahr für die Demokratie;
  6. Dringlichkeit einer UN-Deklaration gegen Doppelmoral: Der Abbau von Sonderrechten von Allianzen ist eine Voraussetzung für Konfliktbewältigung und dient dem Frieden;
  7. Erarbeitung von Grundsätzen für eine Staats- und Regierungsinformationsethik und Medien-Standards: Organisierte Unwahrheit muss geahndet werden.
Schließlich ist da noch der Appell an die Öffentlichkeit, die Politik fortwährend zu fordern und sich am Zeitgeschehen aktiver zu beteiligen. Dag Hammarskjöld sprach von "Verhandlungen mit sich selbst".

* Hans-Christof von Sponeck war von 1968 bis 2000 UN-Diplomat, zuletzt als Beigeordneter Generalsekretär.

Dieser Beitrag erschien als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 6. April 2009.
Mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.



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