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Russland-Nato: Wohin werden wir jetzt hinken?

Von Andrej Fedjaschin, RIA Novosti *

Die nach dem "Kaukasus-Krieg" im August des Vorjahres angefrorenen Nato-Russland-Beziehungen wurden am 28. April "in die Mikrowelle gesteckt".

In Brüssel wurde die nach dem Südossetien-Konflikt erste Sitzung des Russland-Nato-Rats auf Botschafterebene abgehalten. Sie bereiteten die Tagesordnung für die Ratssitzung auf Ministerebene vor, die für den 19. Mai ankündigt worden ist und angeblich zum „großen Tauwetter“ nach der Eiszeit wegen des Kaukasus-Konflikts beitragen soll. Zumindest sprechen beide Seiten davon.

Es fragt sich nur, welches „Tauwetter“ sie beabsichtigen, oder genauer gesagt, in welchen konkreten Bereichen sie darauf hoffen.

Russlands Nato-Botschafter Dmitri Rogosin hat bereits vor dem Treffen versprochen, er werde die Nato wegen der geplanten Militärübung in Georgien zusammenstauchen, was er dann auch tat. Die Übung an sich sei harmlos, dennoch sei es eine große Schweinerei seitens der Allianz, eine Übung mit dem Aggressor durchzuführen, denn das werde Georgien zu neuem Unfug ermutigen und seinen Ruf der Wankelmütigkeit festigen.

Dennoch sieht all das, was gegenwärtig in Brüssel auftaut (oder, wenn man will, sich auf das Auftauen vorbereitet), sehr sonderbar aus. Aus der Nähe betrachtet ist es überhaupt unverständlich, ob es sich um eine "eingefrorene", "eingetrocknete" oder gar "verknöcherte Materie" handelt.

Der Russland-Nato-Rat entstand bekanntlich am 28. Mai 2002 beim Russland-Nato-Gipfel in Rom. Sein Hauptziel besteht (wie es auf der Webseite heißt) darin, "ein Forum für Konsultationen und ein Mechanismus für die Erreichung des Konsenses, der Zusammenarbeit und der Erarbeitung gemeinsamer Beschlüsse und Handlungen zu einer ganzen Reihe von Sicherheitsfragen in der euroatlantischen Region zu sein".

Das Papier scheint es ernst zu meinen.

Doch der Haken ist, dass sich der Russland-Nato-Rat seit seiner Gründung durch NICHTS auch nur halbwegs Bedeutsames bei der Überwindung der noch aus der Zeit des Kalten Krieges überkommenen strategischen Stereotypen ausgezeichnet hat. Es gab KEINE EINZIGE gemeinsame strategische Einschätzung der Gefahren und der Methoden zu ihrer Bekämpfung.

Schließlich gehört die Beurteilung des Terrorismus, zu welcher der Rat eigentlich nicht nötig ist, keineswegs in diese Reihe.

Die "Materie der Zusammenarbeit" war auch vor dem "Kaukasus-Krieg" dürftig, so dass ihr "Einfrieren" nach dem August 2008 keinem einzigen Aspekt auch nur etwas hinzufügte.

Jetzt aber heißt es, die Nato brauche Russland mehr als Russland die Nato. Was heißt das: Hatte Russland diese Organisation - die Nato - tatsächlich je nötig gehabt? Die Nato braucht Russland als "Straße nach Afghanistan". Aber wir haben uns auch so, ohne jegliche Nato-Bemühungen, bereit gefunden, den USA und ihren Verbündeten einen Transportkorridor für "nicht tödliche Fracht" nach Afghanistan zu überlassen.

Absolut NICHTS davon, was der Rat (wenn man von seiner offiziellen Bestimmung ausgeht) hätte tun sollen, wurde vor und nach dem Krieg in Südossetien getan. Als Vermittler zwischen Moskau und Tiflis trat die EU, namentlich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, auf.

Man möchte so gern unpersönlich bleiben, leider geht das aber nicht. Denn je mehr ich persönlich solcherlei Sitzungen und unsere kühnen Demarchen nach dem Motto "ohne Umschweife" und "direkt ins Gesicht sagen" verfolge, desto weniger verstehe ich, ja ich fühle mich irregeführt.

Es fällt zum Beispiel sehr schwer, dies zu verstehen: Wir kritisieren die Nato deswegen, weil sie, obwohl schon längst ein Anachronismus (das ist sie wirklich) ist, immer mehr davon übernimmt, was sie keinesfalls hätte beanspruchen dürfen (die Kosovo-Mission und der Versuch, sich einige UN- und OSZE-Zuständigkeiten anzueignen) - und zugleich sprechen wir von der Notwendigkeit, die Zusammenarbeit mit ihr neu zu gestalten, zu festigen, auf ein neues, konkretes Niveau zu heben, ihr einen neuen Inhalt zu geben.

Da stimmt doch etwas nicht. Entweder ist die Nato kein Anachronismus, das heißt, dass wir an die Allianz insgeheim glauben, oder die Zusammenarbeit ist vorgespielt.

Alles verheddert sich, nichts stimmt. Schrecklich verwirrend sind selbst die Erklärungen des russischen Außenministers Sergej Lawrow, dem ich persönlich sehr hohe Achtung entgegenbringe. Trotzdem verwirren sie mich.

Ich kann nicht verstehen, was er konkret meinte, als er am 27. April in Luxemburg, nach der Sitzung des Ständigen Russland-EU-Parternschaftsrats zum Thema Nato überging und sagte, Russland hoffe, bei der bevorstehenden Ministersitzung des Russland-Nato-Rats die Allianz davon zu überzeugen, dass jeder ihrer Mitgliedsstaaten DIE EIGENE POSITION UND NICHT DIE POSITION DER NATO ALS GANZES vertreten solle.

So führte er aus: "Die Prinzipen, die der Tätigkeit des Russland-Nato-Rats zugrunde gelegt wurden, sind progressiver als unser Dialog mit der EU, weil es im Russland-Nato-Rat in gegenseitiger Vereinbarung festgeschrieben ist, dass jedermann sein Land und nicht die Nato als Allianz vertritt... Auch davon werden wir sprechen, sobald im Mai, wie ich hoffe, der Russland-Nato-Rat seine Arbeit auf Außenministerebene wieder aufnehmen wird."

Interessant: Wozu ist dann der Russland-Nato-Rat gut, wenn auch Vereinbarungen mit jedem einzelnen möglich sind. Weiß die Nato, dass in diesem Rat jedes Land für sich auftreten kann?

Zu etwas mehr Einsicht verhilft mir ein Blick auf das "Gruppenbild" Rogosins mit der Nato. Äußert sich vielleicht hier insgeheim unsere wahre Einstellung zu dem Militärbündnis und der Zusammenarbeit mit ihm?

Persönlich habe ich nichts gegen Rogosin, er ist mir sogar sympathisch als ein aufrichtiger und geradliniger Mensch, selbst wenn er es mit seiner "familiären" Schroffheit auch ein wenig übertreibt. Doch wenn ich ihn mir betrachte und seine Erklärungen höre, kann ich mich eines politisch schädlichen Gedankens nicht erwehren. Dass Rogosin nämlich mit dem Hintergedanken in die Nato "geschickt" wurde, auf den Putz zu hauen: "Schicken wir doch den Dima hin. Soll er es denen da zeigen. Das kann der Dima."

Da bin ich sogar neugierig: Irre ich mich da allein oder tun das viele?

Wenn man zum Beispiel den Russland-Nato-Rat einfach im Vorbeigehen von außen betrachtet, macht alles einen ziemlich löblichen Eindruck: Es ist ein Verhandlungsprozess im Gange, über eine gewisse Zusammenarbeit auf gewissen Gebieten. Bleibt man aber einen Augenblick lang stehen und sieht man sich diesen Organismus genauer an, so beobachtet man wenig verständliche Dinge, die ans Tageslicht treten.

Wieder einmal besuchte ich die Homepage des Rates, denn ich wollte mir selber einreden, dass ich mich doch irre - und war anschließend erst richtig verstimmt. Wie soll man zum Beispiel Folgendes verstehen. Unter den wichtigen Fragen der militärischen Zusammenarbeit, die früher im Rahmen des Russland-Nato-Rates erörtert wurden, entdeckt man unter anderem solche Themen:

"Seminar der Speziellen Arbeitsgruppe des Russland-Nato-Rats für rückwärtige Sicherstellung zum Thema: 'Operative Vereinbarkeit von Treibstoffen'";

"Zusammenhang zwischen der organisierten Kriminalität und dem Terrorismus";

"Einkäufe, Vertragsabschlüsse und Finanzplanung" (das wird in der Arbeitsgruppe des Rates für Militärreform und Zusammenarbeit erörtert);

"Geiselnahme durch Terroristengruppen im Ausland";

"Position und Rolle von Klein- und Mittelunternehmen im System der sozialen Wiedereingliederung von Wehrdienstleistenden nach ihrer Entlassung."

Dazu also war der Rat nötig? Hat er all das erörtert? Und wird er das wieder tun?

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. April 2009; http://de.rian.ru


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