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Über die NATO, die Militarisierung der EU und Jugoslawien

NATO-Generalsekretär George Robertson im Gespräch

«Die Allianz bleibt der Grundstein der europäischen Sicherheit»
Interview mit Nato-Generalsekretär George Robertson
Am 14. Oktober 1999 hat der frühere britische Verteidigungsminister George Robertson das Amt des Nato-Generalsekretärs von seinem Vorgänger Javier Solana übernommen, der heute der Koordinator der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU ist ("Mister GASP"). In seinem Büro im Nato-Hauptquartier in Brüssel nahm Robertson gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung Stellung zur Lage auf dem Balkan, zum Verhältnis zwischen der Allianz und der EU im Hinblick auf die eigenständige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zu den Zukunftsperspektiven der NATO. Die Fragen stellten der Korrespondent in Brüssel, Raul Lautenschütz, und der Auslandredaktor Markus Spillmann.

Welches sind, aus Ihrer Perspektive betrachtet, die dringlichsten Probleme auf dem Balkan?
Die Schaffung eines sicheren Umfeldes, das es den zivilen Institutionen ermöglicht, eine nachhaltige Entwicklung herbeizuführen. Aus offenkundigen Gründen sind wir dabei in Bosnien weiter als in Kosovo. Aber innerhalb eines Jahres haben wir auch dort gute Fortschritte gemacht. In Kosovo gab es die übertriebene Erwartung, dass man nach 40 Jahren Kommunismus, 10 Jahren Apartheid und 18 Monaten brutaler Gewaltausübung innert 12 Monaten etwas Entsprechendes wie die Schweiz schaffen könne. Es gibt Fortschritte, aber es muss noch viel getan werden. An beiden Orten.

Gibt es für die Kfor-Mission einen Zeitrahmen?
Nun, in Bosnien, das viermal so gross ist wie Kosovo, hatten wir 1995 60 000 Soldaten stationiert. 200 000 Personen waren tot, 1,5 Millionen befanden sich auf der Flucht. Es gab drei Volksgruppen, die sich aufs Grausamste bekämpft hatten. Heute, fünf Jahre später, unterhalten wir noch einen Drittel der damaligen Truppenstärke. Zivile Institutionen arbeiten wieder - nicht 100- prozentig, aber sie nehmen sich langsam der Probleme an. Im Vergleich zu 1997, wo ich zum ersten Mal in Bosnien war, erkenne ich das Land fast nicht wieder. Noch 1995 behaupteten viele Skeptiker, die 60 000 Soldaten müssten mindestens für eine Generation bleiben und selbst dann sei das Land noch nicht stabilisiert. Diese Stimmen hatten Unrecht. Deshalb halte ich es für sehr unklug, für Kosovo Vorhersagen zu machen. Es wird länger dauern, als die Optimisten denken - und weniger lang, als die Pessimisten meinen.

Aber nicht eine Generation?
Ich glaube nicht, dass es eine Generation dauern wird. Viel wird von Milosevic abhängen. Wir werden so lange bleiben, bis wir die Arbeit erledigt haben.

Besteht nicht ein Teil des Problems auch darin, dass die politische Zukunft Kosovos unklar ist?
Die längerfristige Zukunft ist unbestimmt; sie wird durch die Uno gestaltet werden müssen. Es ist nicht einfach, dies zu tun, solange wir nicht wissen, was mit Milosevic geschieht. Aber dies ändert nichts an unserer gegenwärtigen Aufgabe, funktionierende Institutionen in einem einigermassen sicheren Umfeld aufzubauen. Dies wird nicht dazu führen, dass sich diese Leute lieben. Aber Sie können sie daran hindern, sich gegenseitig umzubringen. Kfor, die Uno mit ihrer Polizei, die OSZE und andere internationale Organisationen helfen dabei mit, damit sich die Bewohner sicher fühlen können und eine Regierung nach multiethnischen Prinzipien ihre Arbeit tun kann.

Nach der Operation «Allied Force» wurde viel über «lessons learned» gesprochen. Wie sieht es mit der konkreten Umsetzung aus?
Nun, viele der zu ziehenden Lehren lagen auf der Hand. Wir haben überprüft, wie wir mit Problemen umgehen wollen, wie wir die Kontrolle über Ereignisse behalten und rechtzeitig darauf reagieren können - etwa hinsichtlich des Informationsflusses und -austausches. Einige der zu ziehenden Lehren sind militärischer Natur: Wir benötigen mehr Präzisionswaffen, mehr mobile und flexible Truppen in erhöhter Bereitschaft. Einige Mitglieder haben sich dieser Probleme bereits angenommen. Eine direkte Folge des Kosovo-Konflikts ist auch die Defence Capabilities Initiative der Nato.
Was ich aber unbedingt sicherstellen will, ist, dass wir nicht nur Lehren ziehen, sondern diese auch umsetzen. Unser Problem ist, dass eine Reihe von Schlüssen, die wir aus Bosnien gezogen haben, nicht in konkrete Massnahmen gemündet haben. Ich werde mich nicht mit Planungsübungen zufrieden geben. Ich will die Umsetzung in die Praxis sehen, damit die Allianz fähig ist, mit einer vergleichbaren Situation fertig zu werden, ohne sich Optionen zu vergeben.

Es könnte sich schon bald eine vergleichbare Situation einstellen, sind doch die Beziehungen zwischen Belgrad und Montenegro alles andere als gut. Was für Optionen hat die Nato, sollte es zum offenen Konflikt kommen?
Wir haben mehrere Optionen - aber wir sprechen nicht darüber. Die Gründe liegen auf der Hand: Es wäre töricht, im Voraus festzulegen, wie wir reagieren werden, sollte die Autonomie Montenegros durch Milosevic bedroht werden.

Ist dies eine der Lehren, die man aus dem Kosovo-Konflikt gezogen hat - nicht in der Öffentlichkeit über Optionen zu diskutieren?
Ja, teilweise - wobei ich glaube, dass es damals bis zu einem gewissen Grad unausweichlich war, dies zu tun. Aber einer der Schlüsse, die aus Kosovo gezogen werden können, ist sicher, dass man die Bandbreite der Optionen möglichst lange möglichst gross halten soll. Es ist ein fundamentales militärisches Prinzip, dem Gegner nicht zu sagen, was ihn erwartet. Wir sagen Milosevic nicht, was wir tun werden. Aber wir warnen ihn davor, die konstitutionellen Rechte des gewählten Präsidenten Djukanovic zu beschneiden - und wir werden die Situation sehr genau beobachten.

Seit April übt der Stab des Eurokorps das Kommando über die Kfor-Truppen aus. Erachten Sie dies als Test für einen möglichen Einsatz einer europäischen Streitmacht ohne die Nato?
Nein, weil das Eurokorps nur aus vier Ländern besteht. Aber es ist eine Herausforderung für das Eurokorps, das ja ursprünglich geformt wurde, um auch unabhängig von der Nato eingesetzt werden zu können. Seine Arbeit auf dem Balkan wird daher genau beobachtet werden. Das Eurokorps wollte operationelle Erfahrung sammeln - wir benötigten ein mobiles Hauptquartier. Und General Ortuńo leistet eine hervorragende Arbeit.

Im transatlantischen Verhältnis gibt es Irritationen, etwa über das amerikanische Raketenabwehr-System oder die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sind dies nicht fundamentale Probleme?
Es gibt keine fundamentalen Probleme. Es herrscht grundsätzliche Einigkeit. Es gibt keine Friktionen, wie sie durch Missverständnisse und falsche Interpretationen in der Vergangenheit aufgetaucht sind. Nichts bedroht die grundsätzliche Einigkeit der Allianz. Zu meiner Funktion als Generalsekretär gehört, die transatlantische Verbindung aufrechtzuerhalten und den Amerikanern zu versichern, dass die Europäer ihre Arbeit tun und ihre sicherheitspolitischen Anstrengungen die Nato stärken. Gleichzeitig ist es auch an mir, den Europäern zu versichern, dass den USA die Sicherheit Europas nicht egal ist und sie sich auf die Amerikaner verlassen können.

Immerhin hat sich aber doch die gegenseitige Wahrnehmung verändert. Ursprünglich war - vor allem von Seiten der USA - immer die Rede davon, dass die Europäer innerhalb der Nato mehr leisten müssen. Nun wollen sie mehr tun, aber ausserhalb der Allianz. Sie persönlich sprechen immer wieder davon, dass im Verhältnis zwischen der Nato und der EU eine «Win-win»-Situation angestrebt werden muss. Was verstehen Sie darunter?
Es handelt sich um die zwei Seiten einer Medaille. Wenn die Europäer mehr Mittel bereitstellen, um eine der sogenannten Petersberger Aufgaben erfüllen zu können, so handelt es sich genau um die gleichen Truppen, die auch die Nato benötigt. Die Schwäche der Allianz liegt ja gerade im Fehlen flexibler, mobiler und rasch verlegbarer Einheiten in ausreichendem Umfang, besonders bei den europäischen Verbündeten. Genau dies ist die Stossrichtung der Initiative der EU. Die Nato gewinnt, wenn die europäischen Partner ihre Fähigkeiten ausbauen und auf einen modernen Stand bringen, und die europäische Dimension profitiert in jenen Fällen, wo die Allianz als Gesamtes nicht involviert ist.

Aber die EU wird für die Petersberger Aufgaben doch andere Einheiten bestimmen müssen als die bereits für die Nato festgeschriebenen . . .
Nein.

Es handelt sich um die gleichen Truppen?
Ja, deshalb arbeiten wir eng zusammen - um zu verhindern, dass es zu einer Konkurrenzierung auf diesem Gebiet kommt. Sie wäre tödlich, für beide Seiten. Jedes Land besitzt nur eine Armee; wir haben bereits jetzt die Situation einer Streitkräfte-Überdehnung, und die Verteidigungsausgaben nehmen nicht zu oder jedenfalls nicht so schnell wie die Ansprüche. Ein Teil der Initiative ist, die Planung im Hinblick auf die sogenannten Headline-Goals der EU voranzutreiben und gleichzeitig die Bedürfnisse der Nato abzudecken. Beides zielt in die genau gleiche Richtung. Daher sollte die Zusammenarbeit problemlos verlaufen, und beide werden profitieren.

Was aber geschieht, wenn wir zwei Krisen zur gleichen Zeit erleben? Zum Beispiel einen Konflikt in der Golfregion, wo die USA von ihren Verbündeten ein klares Bekenntnis erwarten, und ein Szenario ŕ la Kosovo, wo die Europäer glauben, intervenieren zu müssen.
Zunächst glaube ich nicht, dass die Golfregion im Aufgabenbereich der Nato liegt. Aber es ist nicht unmöglich, eine Krise wie in Kosovo zu bewältigen, wo die Allianz als Ganzes aktiv wird, und eine von der EU geführte Operation im Rahmen der Petersberger Aufgaben ohne Nato-Beteiligung durchzuführen. Allerdings müssen wir uns darauf vorbereiten. Derzeit ist ein Abseitsstehen der USA in einer Krise in Europa undenkbar, weil die Vereinigten Staaten den Grossteil der benötigten Kapazitäten besitzen. Den Europäern fehlt es noch an geeigneten Truppen und der Infrastruktur. Es muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass die EU in einer klar begrenzten Mission aktiv werden kann und gleichzeitig die Nato etwas anderes tut.

Sind Sie der festen Meinung, dass im Falle einer Krise zuerst die Nato darüber diskutiert und eine Entscheidung für oder wider eine Intervention fällt - und erst dann die EU?
Nun, der Vertrag von Washington, die Helsinki- und jüngst die Färöer-Deklaration halten klar fest, dass es sich bei EU-Operationen um Petersberger Aufgaben handelt, bei denen die Allianz nicht aktiv werden will. Dies lässt nur einen Schluss zu: Die Nato besitzt den Primat. Allerdings glaube ich nicht, dass es so schematisch abläuft. Ich sehe eher einen organischen Prozess, ähnlich der Situation, wie wir sie bei den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Albanien von 1997 erlebt haben. Die Nato wollte nicht intervenieren, die WEU war nicht bereit dazu - am Ende war es eine Koalition der Willigen, die sehr erfolgreich operiert hat.

Die EU hat vier Ad-hoc-Komitees geschaffen, in denen mit der Nato über die verschiedenen Aspekte der Zusammenarbeit diskutiert werden soll. Was sind die wichtigsten Fragen, die dabei beantwortet werden müssen?
Nummer eins: Fähigkeiten. Wir können es uns nicht erlauben, einen weiteren Papiertiger zu gebären. Wir haben bereits einen: 2 Millionen Soldaten, von denen nur 40 000 mit einigen Schwierigkeiten rasch in eine Krisenregion wie Kosovo transportierbar sind. Wir besitzen bereits sehr ausgeklügelte, wunderbare Institutionen in der WEU, und auch diese funktionieren nicht. Für die 60 000 Soldaten der europäischen Streitmacht benötigen wir die richtige Ausrüstung; Probleme wie Ausbildung, Bereitschaft und Rotation müssen gelöst werden. Das ist ein Schlüsselelement. Zum zweiten müssen jene europäischen Nato- Staaten, die Nicht-EU-Mitglieder sind, in den Prozess integriert werden. Auch wenn sie nicht in die eigentliche Entscheidung über einen Einsatz einbezogen sein sollen, weil die EU das allein für sich beansprucht, müssen sie politisch und militärisch am Projekt beteiligt werden.
Dann ist wichtig, dass die Absprache zwischen der EU und der Nato funktioniert. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Union Mittel anschafft, die die Allianz bereits besitzt. Das können sich die Europäer nicht leisten.
Schliesslich ist das Prinzip der Untrennbarkeit fundamental. Die Nato bildet den Grundstein der europäischen Sicherheit.

Wir wissen, dass Sie sich regelmässig mit Javier Solana zum Frühstück treffen. Bis vor kurzem war dies die einzige institutionalisierte Gesprächsplattform zwischen der EU und der Nato. Welche Bedeutung hat dieser Kontakt?
Es ist ein wichtiger informeller Gedankenaustausch; eine Art Rückversicherung dafür, dass die beiden Institutionen nicht getrennte Wege beschreiten. Aber die Treffen waren zu Beginn auch wichtig, weil einige EU-Länder befürchteten, eine frühzeitige Etablierung formeller Kontakte zur Nato würde zu einer Einmischung der Allianz führen. Der Prozess ist nun fortgeschritten, und wir haben gemeinsame Arbeitsgruppen.

Wird am Ende dieses Prozesses eine Art formelles Abkommen über die Arbeitsteilung zwischen der EU und der Nato vorliegen?
Ja, wir werden Abmachungen haben, die die Theorie mit der Praxis verbinden. Wir müssen im Fall einer Krise wissen, wie die Strukturen aussehen, wie die EU mit ihren Gremien auf Mittel und Wissen zugreifen kann, die nur die Nato hat.

Als Beobachter hat man etwas den Eindruck, die Osterweiterung sei in erster Linie eine politische Konzession an Polen, Ungarn und die Tschechische Republik gewesen - dass aber die Allianz nicht wirklich weitere Mitglieder möchte.
Das ist falsch. Es gibt keine Entscheidung über diese Frage, wohl aber das Bekenntnis der Nato, 2002 an einer Regierungskonferenz über die Aufnahme weiterer Kandidaten zu beraten. Und es gibt den Mitgliedschafts-Aktions-Plan (MAP), der den neun Kandidaten helfen soll, Nato-Vollmitglied zu werden. Es handelt sich hier nicht um Wunschdenken, sondern um einen Prozess, der pragmatisch durchgeführt werden muss. Die Tür der Allianz steht offen.

Bei der Nato scheint es aber ganz ähnlich wie bei der EU eine Tendenz zu geben, vor den Kandidaten immer neue Hürden aufzubauen. Zuerst hiess es, die aktive Teilnahme am Programm «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) sei der Weg zur Mitgliedschaft. Dann kam PfP «enhanced»; und seit Washington ist es der MAP. Wäre es nicht redlicher, eine grundsätzlich politische Entscheidung nach politischen Kriterien zu fällen?
Natürlich ist es eine politische Entscheidung. Aber sie besitzt militärische Implikationen. Keine Bewerbung wird daher auf den Tisch gelangen, wenn nicht sichergestellt ist, dass der militärische Teil von MAP erfolgreich umgesetzt worden ist. Im Übrigen hat sich PfP in einem Prozess weiterentwickelt; es soll Staaten individuell erlauben, soweit sie möchten, mit der Nato zu kooperieren, ohne der Allianz beizutreten. MAP hingegen ist für Kandidaten gedacht.

Die Nato zählt heute 19 Mitglieder, die im Konsens entscheiden. Wird die Allianz bei einer nächsten Erweiterung - ähnlich wie die EU - nicht neue Entscheidungsmechanismen entwickeln müssen, etwa Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit?
Wir werden den Entscheidungsfindungsprozess überprüfen müssen. Konsens unter 19 herzustellen ist schwierig genug. Wenn es 28 sind, ist es noch schwieriger, wenn auch nicht unmöglich. Es gab Stimmen, die das bereits befürchtet haben, als die Nato von 13 auf 16 Mitgliedsstaaten anwuchs. Verteidigung ist eine Angelegenheit der echten Besorgnis - wenn diese von allen geteilt wird, dann lässt sich eine Entscheidung herbeiführen. Aber es wird nicht mit einer qualifizierten Mehrheitsabstimmung funktionieren. Wie viele Stimmen hätten etwa die USA? Wir werden nach anderen Methoden suchen müssen. Es hängt am Ende auch vom politischen Willen neuer Mitglieder ab, ob die Allianz handlungsfähig bleibt.

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