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Die NATO sucht eine Zukunft

Der Friedens- und Konfliktforscher Otfried Nassauer über Themen und Probleme des Gipfels in Chicago


Das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) hat sich seit seiner Gründung 1991 mit Arbeiten zu außen- und sicherheitspolitischen Themen, zu Rüstungskontrolle und Abrüstung als Einrichtung der unabhängigen Friedens- und Konfliktforschung einen Namen gemacht. Mit BITS-Direktor Otfried Nassauer sprach für "neues deutschland" (nd) Olaf Standke.


nd: Welche Themen werden die Tagesordnung in Chicago prägen?

Nassauer: Wie jeder NATO-Gipfel wird auch dieser viele Themen haben: Afghanistan, die anderen NATO-Einsätze, die geplante Raketenabwehr, »Überbleibsel« des Lissaboner Gipfels wie die Überprüfung der Abschreckungs- und Verteidigungspotenzials der Allianz im Rahmen ihrer neuen Strategie oder die sogenannte Smart Defense, die »kluge Verteidigung«.

Die NATO wollte einen Gipfel der Harmonie, der Geschlossenheit. Doch nun droht Streit. Wo sehen Sie das größte Konfliktpotenzial?

Großes Konfliktpotenzial gibt es weiterhin bei den Fragen, wie eine geeignete Abzugsstrategie für Afghanistan aussehen, wie die NATO künftig ihre militärischen Fähigkeiten entwickeln und finanzieren sollte, welche Lehren man aus Afghanistan oder Libyen für künftige Einsätze zu ziehen hat und natürlich bei allem, was mit dem Verhältnis zu Russland zu tun hat.

Der neue französische Präsident will die eigenen Soldaten noch vor dem vereinbarten Termin aus Afghanistan abziehen.

Es wird immer wieder zu Änderungen beim Abzugsszenario kommen, die sich aus den innenpolitischen Verhältnissen in einzelnen NATO-Staaten ergeben. Allerdings besteht auch das Risiko weiter, dass aus einem geordneten Abzug ein chaotischer Rückzug mit schwer kalkulierbaren Folgen wird. Die NATO hat die Probleme Afghanistans ja nicht gelöst. Sie ist sogar selbst zu einem Teil der Probleme geworden.

Selbst im Umfeld der NATO wird in Zeiten leerer Kassen und fehlender Feinde wieder einmal der Niedergang der Allianz prophezeit. Generalsekretär Rasmussen will dem u.a. mit der Strategie der »Smart Defense« begegnen. Was steckt dahinter?

Das ist der Versuch, durch die Kombination begrenzter Ressourcen aus den einzelnen Mitgliedstaaten eine stärkere Integration der militärischen Fähigkeiten der NATO abzuleiten. Es ähnelt dem Vorgehen in der EU und ist im Blick auf die Frage, wer auf diese Fähigkeiten mit Vorrang zugreifen kann, das Konkurrenzmodell dazu. Die Grundprobleme der NATO löst man damit jedoch nicht, die liegen ganz woanders.

Wo zum Beispiel?

Etwa im noch immer ungeklärten Verhältnis zu Moskau und damit beim Selbstverständnis der NATO. Ein Teil der NATO-Mitglieder will lieber Sicherheit vor Russland als mit Russland gestalten. Die Raketenabwehr, künftige NATO-Osterweiterungen, die Nuklearwaffen oder die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa - alles Themen, bei denen sich das zeigt. In der NATO gibt es keinen Konsens mehr.

Trotz finanzieller Engpässe sollen Milliarden Dollar in die Modernisierung der Kernwaffen gesteckt werden, vor allem der taktischen Atomwaffen der USA und damit auch auf deutschem Boden.

Die USA beabsichtigen, etwa sieben Milliarden Dollar in die Modernisierung ihrer Atombomben vom Typ B 61 zu stecken und ein neues Modell zu entwickeln, das künftig auch in Europa stationiert werden soll. Einige NATO-Staaten finden das gut, andere wollen, dass diese Altlasten des Kalten Krieges endlich abgezogen werden. Konsens gibt es nicht. Deshalb spielt die NATO den Ball nach Russland und sagt, wir könnten ähnlich wie beim Doppelbeschluss 1979 auf diese Modernisierungsmaßnahme verzichten, wenn Moskau entsprechende Reduzierungsmaßnahmen bei seinen taktischen Atomwaffen vornimmt.

Die USA wenden sich verstärkt dem pazifischen Raum zu, sehen mit Blick auf China und Indien dort ihre wichtigsten geostrategischen Interessen. Ist das Sprengstoff für den Nordatlantik-Pakt?

Mit Sicherheit, weil aus Sicht Washingtons die bisherige Prioritätensetzung auf Europa abgelöst werden könnte. Das ist ein langfristiger Prozess, aber erste Signale sind sichtbar, beispielsweise wenn die Republikaner im Washingtoner Kongress die Regierung beauftragen zu prüfen, ob die USA in Südkorea wieder taktische Atomwaffen stationieren sollten.

Der vorerst letzte Kriegseinsatz der NATO hieß Libyen und hat zahlreiche zivile Opfer gefordert. Er wird auch intern längst nicht mehr als großer Erfolg bewertet. Muss man trotzdem mit neuen Militäreinsätzen rechnen, beispielsweise in Syrien oder gegen Iran?

Ginge es nach der Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten, wäre der Afghanistan-Einsatz wohl erst einmal der letzte größere außerhalb des NATO-Gebietes. Das heißt aber nichts, wenn starke NATO-Staaten wie die USA, Großbritannien oder Frankreich plötzlich doch auf derartige Operationen drängen und ein öffentliches Klima schaffen, in dem sich die Allianz einem gemeinsamen Militäreinsatz scheinbar nicht entziehen kann. Diese Bereitschaft wird die NATO mit Sicherheit nicht aufgeben, weil sie ihre Existenzberechtigung in den vergangenen 20 Jahren zu stark an diese Aufgabe gebunden hat.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 19. Mai 2012


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