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NATO-Übung für die Kriege der Zukunft

Die Grenzen zwischen "Friedensoperationen" und Einsätzen "hoher Intensität" sind fließend

Die Neue Zürcher Zeitung beschrieb Anfang Dezember 2000 eine NATO-Übung, die im November stattfand und an der bis zu 17 NATO-Staaten beteiligt waren. Es ging dabei um die Erprobung neuer operativer Konzepte, die sich aus dem neuen Strategischen Konzept der NATO vom April 1999 ergeben. Das Manöver lief unter dem Codenamen "Constant Harmony".

Das mit topographischen Karten, Computern und Bildschirmen reich dotierte Lagezentrum, in dem Nato- Offiziere aus 17 Mitgliedstaaten an diesem Herbstmorgen unter praktisch feldmässigen Arbeitsbedingungen militärische Operationen planen und leiten, entspricht dem üblichen Standard von Führungseinrichtungen der Nato. (..) «Constant Harmony» lautet der Codenamen dieser Übung, in welcher der Kommandobereich des Oberbefehlshabers der Nato-Streitkräfte Nordeuropa einem Test unterzogen wird. Im Rahmen der vor kurzem gebildeten neuen Nato- Kommandoordnung ist der frühere Bereich Europa Mitte unter der jetzt gültigen Bezeichnung Regionalkommando Nordeuropa geographisch erweitert und neu strukturiert worden. (..)

Der deutsche Viersternegeneral Joachim Spiering, der diese Übung selber konzipiert hat, führt erstaunlicherweise auch die Operationen. Als Übungsleiter fungiert sein Stellvertreter, der britische Air Marshal Sir Christopher Coville, dem unter anderem Stabsangehörige aus dem Shape, dem Hauptquartier der Nato-Streitkräfte Europa im belgischen Mons, und dem subregionalen Kommando Nordost in Karup in Dänemark für Koordination und Überwachung des Übungsgeschehens zur Verfügung stehen. Dass ein Oberbefehlshaber das Kommando führt und sein Stellvertreter die Übung leitet, ist im Bündnis, wie Spiering erläutert, nicht ungewöhnlich. (..)

Peace-Support-Operationen sind Thema von Übungen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden gemäss den standardisierten Modellen «Cooperative Guard» oder «Cooperative Determination». Im Übrigen diente auch für die Schulung eines Combined-Joint-Task-Force- Hauptquartiers (CJTF) 1997 auf dem Truppenübungsplatz im norddeutschen Munster eine Friedensoperation als «Kulisse».

Auch wenn der Verteidigungsauftrag gemäss der 1999 in Washington verabschiedeten neuen Nato-Strategie als politische Klammer des Bündnisses einen ungebrochen hohen Rang einnimmt, geht es in Brunssum keineswegs darum, Modelle aus der Zeit des Kalten Krieges wiederaufleben zu lassen und den Kampf gegen massierte, linear und staffelweise angreifende gepanzerte Kräfte zu üben. Vielmehr handelt es sich darum, neuartige Einsatzverfahren unter ebenso veränderten politischen und militärischen Rahmenbedingungen in entsprechenden Schulungssequenzen zu üben und auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. General Spiering will denn auch lieber von Konflikten von hoher Intensität («high- intensity conflicts») als von «klassischen» Artikel-5-Operationen sprechen. (..)

Auf den ersten Blick erinnert das Übungsszenario zwar an altvertraute Bilder, bilden doch weiträumig angelegte militärische Auseinandersetzungen zwischen einer Koalition und der Nato den Rahmen. Vom Konflikt betroffen ist nicht nur das europäische Festland, sondern auch der Kanal und Grossbritannien sind direkt in den Kriegsverlauf verwickelt. Alle beteiligten Konfliktparteien tragen indessen fiktive Bezeichnungen. Dieser grossräumige Ansatz ist, wie der Oberbefehlshaber zu bedenken gibt, deshalb nötig, weil nur so die übenden Stäbe der subregionalen Kommandos Nord in Stavanger und Mitte in Heidelberg sowie das Luftstreitkräfte-Kommando in Ramstein und das Seestreitkräfte-Kommando in Northwood in ihrem Zusammenwirken optimal trainiert werden können.

Erfahrungen, die während der Kriege im Golf und in Kosovo gewonnen wurden, sind in das Konzept der Übung eingeflossen. General Spiering geht in seinen Überlegungen davon aus, dass Friedensoperationen an der Peripherie des Bündnisgebietes unter Umständen rasch in einen mehrdimensionalen Krieg münden können. Dabei ist seiner Ansicht nach realistischerweise damit zu rechnen, dass auch Territorien von Allianzpartnern unverzüglich in solche Auseinandersetzungen mit einbezogen werden können. Falls die Nato im Kosovokrieg tatsächlich auch Bodenoperationen ins Auge gefasst hätte, wäre mit kriegerischen Ausweitungen, wie sie dem Übungsszenario zugrunde liegen, zu rechnen gewesen. Da klare Trennlinien zwischen Friedensoperationen und Einsätzen von hoher Intensität zuweilen kaum zu ziehen sind, will die Nato prinzipiell Soldaten einsetzen, die das gesamte Spektrum von Konfliktmöglichkeiten abdecken können. (..)

Neben der Unterstützung der laufenden Friedensoperationen in Bosnien- Herzegowina und in Kosovo und neben der Schaffung von Voraussetzungen für das Zusammenspiel von Streitkräften unterschiedlicher Strukturen unter dem Stichwort «Interoperabilität» geht es für den Oberbefehlshaber Nordeuropa vor allem auch darum, neue Einsatzverfahren für multinationale Operationen, an denen die verschiedenen Teilstreitkräfte beteiligt sind, zu entwickeln. Solche Operationen, davon gibt sich Spiering überzeugt, werden vermehrt unter strikter politischer Kontrolle ablaufen. So gesehen kommt den politischen und juristischen Beratern in den Stäben eine wachsende Bedeutung zu. Im Stab des Regionalkommandos Nord ist deshalb ein amerikanischer Diplomat eingeteilt, der ebenfalls eine Karriere als Berufsoffizier durchlaufen hat. Im laufenden Dialog zwischen dem Oberbefehlshaber der Nato und dem Oberbefehlshaber Nordeuropa wird überdies die strategisch-operative Umsetzung der politischen Absichten besprochen. Wie General Spiering erklärt, hat er noch nie eine Übung erlebt, in welcher der juristisch-politische Einfluss auf die Operationsführung derart dominant war wie in «Constant Harmony».

Zudem werden militärische Chefs sich in der Fähigkeit ausweisen müssen, in der Informationsflut nicht unterzugehen und mit den Medien zu kommunizieren. Die in modernen Konflikten fast allgegenwärtige Präsenz von Fernsehen, Radio und Presse verlangt eine feine Abstimmung der Informationspolitik auf die Informationskriegführung, da Letztere als «nichtletales Kampfmittel» auch darauf abzielt, Massnahmen des Gegners zu unterlaufen. (..) Entscheidend ist im Weiteren, dass eigene Verluste, aber auch sogenannte kollaterale Schäden auf gegnerischem Territorium von der Öffentlichkeit - anders, als dies im Klima des Kalten Krieges noch der Fall war - nicht mehr von vorneherein akzeptiert werden. (..)

Moderne Operationen zielen demzufolge nicht auf die Vernichtung gegnerischer Kräfte in grossen Abnützungsschlachten ab. Man will im Gegenteil weiträumig angelegte Umfassungsoperationen führen, die durch Luftschläge auf Führungs- und Kommunikationszentren vorbereitet worden sind. Überlegungen dazu finden sich in der amerikanischen Konzeptskizze «Joint Vision 2020» oder in den operativ-taktischen Studien von Generalmajor Robert H. Scales Jr., dem früheren Kommandanten des US Army War College. Landesgrenzen, Transversalen und «operative Vorfelder» spielen eine weitaus geringere Rolle, als dies im Kalten Krieg der Fall war. Operatives Vorgelände kann sich, etwas prononciert ausgedrückt, unversehens sogar im Kerngebiet des eigenen Landes befinden. Mit über grosse Distanzen geführten Aktionen in der ganzen Tiefe gegnerischer Länder und Dispositive soll versucht werden, eine rasche Konfliktlösung herbeizuführen. Die Kohäsion des gegnerischen Lagers soll mit andern Worten schnell gebrochen werden. Mit dem Ziel, den Krieg rasch zu einem Ende zu führen, hat man sich bereits auch mit den Problemen einer Nachkriegssituation zu befassen.

In diesem Kontext spielt das Operationszentrum als Herz des Regionalkommandos eine Schlüsselrolle. Unter Führung des amerikanischen Generalmajors Greg Rountree, des stellvertretenden Stabschefs Operationen in Brunssum, der übrigens schon bald eine neue Funktion im Pentagon antreten wird, werden die verschiedenen Operationen zeitlich aufeinander abgestimmt und der tägliche Kampfverlauf mit den weitreichenderen Planungen koordiniert. Für diese anspruchsvolle Tätigkeit, man bezeichnet sie als Joint Coordination Process, ist eine interdisziplinäre Stabsorganisation verantwortlich. (..)

Parallel zur Übung verfasst eine Arbeitsgruppe des Hauptquartiers eine Studie über neue Formen der Kriegführung («Changing nature of warfare»), die auf Grund der erzielten Resultate verfeinert und noch vor Ende Jahr fertiggestellt werden soll. Deren Erkenntnisse sollen später in operative Konzepte der Allianz Eingang finden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des geplanten Aufbaus europäischer Kapazitäten für Kriseneinsätze bilden neuartige operative Modelle, wie sie die Nato jetzt studiert, wichtige Grundlagen für pragmatische Lösungen künftiger Kooperation und Arbeitsteilung. Wie immer auch die Entwicklung verlaufen mag: Die Krisenbewältigung mit militärischen und vor allem auch mit politischen Mitteln und Massnahmen wird auf absehbare Zeit ein Schlüsselelement im Sicherheitskonzept des Bündnisses bleiben.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 2. December 2000

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