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NATO-Geheimarmeen und inszenierter Terror in Europa

Bis heute weigert sich die NATO, zu ihrem bestgehüteten Geheimnis eine klare Stellung zu nehmen

Von Michail Logvinov *

Es handelt sich dabei um die Unterhaltung einer an terroristischen Operationen und Menschenrechtsverletzungen beteiligten Geheimarmee in Europa.

Es ist noch nicht lange her, als während der Blockkonfrontation die kommunistisch regierten Länder des Terrorkriegs gegen die NATO-Staaten bezichtigt wurden. Nach heutigem Erkenntnisstand waren die von der NATO und den nationalen militärischen Geheimdiensten engagierten Konservativen und Rechtsextremisten, die nach der eventuellen Invasion der Sowjetunion hinter der feindlichen Linie als „Stay-behind-Armeen“ den Aggressor bekämpfen sollten, selbst in schwere Verbrechen und Terroranschläge in westeuropäischen Ländern verwickelt. Für diese wurde durch gezielte Medienkampagnen den Kommunisten die Schuld gegeben.

Zu diesem Ergebnis kommt der Schweizer Historiker Daniele Ganser in seinem Dissertationsprojekt zu verdeckten militär-politischen Operationen in der Nachkriegszeit. Im Buch „NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung“ (Orell Füssli Verlag, 2008) präsentiert Ganser der breiten Leserschaft erschütternde Ergebnisse seiner Recherchen und offenbart eine ungeahnte und erschreckende Ohnmacht der demokratischen Institutionen gegenüber dem weitverzweigten geheimen Netzwerk der durch die NATO, CIA und MI6 ins Leben gerufenen, finanzierten und logistisch unterstützten „Operation Gladio“.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges war es „höchst erschreckend zu sehen“, schildert der Autor seine Impressionen von zahlreichen Kontaktaufnahmen mit den Vertretern von nationalen Sicherheitsbehörden und Judikativen, „wie verschiedene Regierungen, die NATO, die CIA und andere Geheimdienste sich strikt weigerten, das Thema Geheimarmeen aufzuarbeiten, obschon das Parlament der Europäischen Union dies explizit gefordert hatte“ (S.13).

In seiner brillanten Analyse schildert Ganser aufgrund zugänglicher Quellen sowohl die Spitze des Eisbergs - die Rolle der NATO, der CIA und des MI6 beim Aufbau der geheimen Armeen und dem Militärtransfer in Form von Ausbildung, Know-how (Hightech-Kommunikationsmittel), Sprengstoff, Schusswaffen und Munition -, als auch die Entwicklung und subversive Taktiken bzw. unkonventionelle Kriegsführung der von den Regierungen der NATO-Staaten unterhaltenen und durch ihre Geheimdienste geschützten nationalen Geheimarmeen.

„Leitende Offiziere des geheimen Netzwerks wurden unter der Leitung der amerikanischen Green Berets Special Forces in den Vereinigten Staaten von Amerika und den britischen SAS-Spezialeinheiten in England ausgebildet. Zu den geheimen Gladio-Soldaten, die in den strikt antikommunistischen Teilen der Gesellschaft rekrutiert wurden, zählten sowohl moderate Konservative wie auch Rechtsextreme, etwa ehemalige Mitglieder der SS in Deutschland oder die berüchtigten rechtsradikalen Terroristen Stefano Delle Chiaie und Yves Guerain Serac in Italien und Frankreich“, so der Historiker (S. 22).

Was die nationale geheime Kriegsführung anbelangt, so liegen nachgewiesene Informationen vor, dass die verdeckten Operationen in den Territorien von 14 damaligen NATO-Staaten auf Hochtouren liefen, und zwar in Italien, Großbritannien, in den USA, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, in den Niederlanden, Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Deutschland, Griechenland, und in der Türkei. Wenig spricht dagegen, dass die Gladio-Armeen auch in den damals neutralen Ländern Europas ihren Fuß fassten.

Ganser liefert eine Menge brisanter Informationen und prägnanter Analysen über geheime Kriege in jedem der aufgelisteten NATO-Staaten, wirft bohrende und für die Betroffenen unerquickliche Fragen, die leider ohne Kommentar durch offizielle Entscheidungsträger oder Behörden bleiben.

Da die gefürchtete großangelegte Invasion des Warschauer Blocks ausblieb, konzentrierten sich die Gladio-Netzwerke auf die Eindämmung der inneren Gefahr und führten einen Kampf gegen die starke westeuropäische politische Linke. Die geheimen Armeen seien an einer Reihe der terroristischen Anschläge beteiligt gewesen, die im Anschluss den Kommunisten vorgeworfen wurden, schlussfolgert der Autor aufgrund zugänglicher Sekundärquellen (ebd.).

Mit Hilfe der Manipulationen der Medien ist es gelungen, die spektakulären Anschläge in die Schuhe der linken terroristischen Kampfgruppen zu schieben und dadurch die rote Gefahr allgegenwärtig erscheinen zu lassen sowie die politische Linke ins Misskredit zu bringen.

Staatsstreich, Folter, Terror, Mord und Kidnapping gehörten zu Methoden, die antikommunistisch gesinnte Gladio-Gruppen ihren ideologischen Gegnern entgegenzusetzen wussten, um die Ausbreitung der „roten Pest“ in Europa zu verhindern. Hierbei galt es, innerhalb des Landes Spannungen zu erzeugen, reaktionäre politische und soziale Tendenzen zu fördern sowie diejenige, die dahinter standen, in Schutz zu nehmen. Die verantwortungslose militär-politische Unterstützung der verdeckten Operationen dauerte bis Anfang der 90er Jahre an. Das letzte bestätigte Treffen des Allied Clandestine Committee (ACC) habe am 24. Oktober 1990 in Brüssel stattgefunden (S.21).

„Die Operationen zielten immer darauf ab, unter der Bevölkerung möglichst viel Angst zu schüren. Das reichte von Bombenmassakern in Eisenbahnen und auf Märkten (Italien) über die Anwendung systematischer Folterung von Regimegegnern (Türkei), die Unterstützung rechtsradikaler Staatsstreiche (Griechenland und Türkei) bis hin zur Zerschlagung oppositioneller Gruppen (Spanien und Portugal)“ (S. 22-23).

Das Alarmierende an der Operation Gladio war, dass diese Netzwerke wie die Kommandozentralen sich jeglicher Kontrolle durch demokratische Institutionen entziehen konnten (vgl. S. 51, 53). „Die Beweise um Gladio [zeigen], dass die CIA und das Pentagon während des Kalten Krieges wiederholt außerhalb der demokratischen Kontrolle operierten und auch nach dem Kalten Krieg für ihre Aktionen nicht verantwortlich gemacht wurden“ (S. 68).

Die sich ausbreitenden Enthüllungen über die geheimen Netzwerke der „faschistischen Elemente“, die im Dienste der NATO ihre Waffenverstecke im ganzen Westeuropa eingerichtet haben, begleiteten, so der Autor, die „frechen Lügen“ und „Desinformationsstrategien“ (S. 58). Kommentare wie „keine Aussage zu militärischen Geheimsachen“ gehören zum guten Ton der kritischen Auseinandersetzung mit der Operation Gladio (S. 58, 59).

Dass es gute Gründe gibt, keine Statements abzugeben, weist Ganser an mehreren Beispielen nach. So wurden z.B. in Deutschland Schwarze Listen über Personen erstellt, die im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion als unzuverlässig erachtet würden und daher liquidiert werden müssten (S. 301). Auf dieser Liste stünden nicht nur die westdeutschen Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten, die an einem Tag X eliminiert werden müssten, wobei das Verhältnis Aufsehen erregend war: Neben 15 Karteiblätter der Kommunisten gab es 80 Einträge über führende Sozialdemokraten (S. 309).

Doch als noch schwerwiegender erscheinen die Anschuldigungen, die aus weiteren Recherchen von Ganser resultieren. Der Autor stellt fest, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Deutschlands (BfV), eine Behörde, zu deren Aufgaben die Bekämpfung des politischen Extremismus gehört, die geheime „Stay-behind-Armee“ deckte (S. 311).

Laut einem Bericht des Gladio-Insiders, waren die Amerikaner beim Aufbau einer „zuverlässigen deutschen Truppe“ „hauptsächlich an ehemaligen Wehrmachtangehörigen interessiert“ (ebd.). Es sei also plausibel, dass mit der Personalrekrutierung für den Technischen Dienst des Bundes Deutscher Jugend (BDJ), so der irreführende Name eines „Stay-behind-Netzwerkes“, SS- und Gestapo-Offizier Klaus Barbie beauftragt wurde (S. 297).

Ein noch mehr spektakuläres wie aufwühlendes Kapitel der Geschichte der NATO-Geheimarmee in Deutschland stellt die Kooperation der Amerikaner und Briten mit dem „am Mord durch Verhungern von etwa vier Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen“ schuldigen General Reinhard Gehlen in der Hitlerzeit, der einen mit der Deckung und Führung der deutschen „Stay-behind-Armee“ befassten Geheimdienst leitete (S. 298).

Die deutsche Gladio-Affäre 1952 führte nicht zur Auflösung der geheimen Armee. Nicht nur das Netzwerk, „sondern auch der deutsche Geheimdienst ORG (Abkürzung für Organisation Gehlen - M.L.) und sein Stab überlebten 1952 die Entdeckung von Teilen der deutschen Gladio fast ohne einen Kratzer, weil sie von der mächtigen CIA geschützt wurden. General Reinhard Gehlen blieb im Amt, und 1956 änderte die „Organisation Gehlen“ ihren Namen und wurde nun „Bundesnachrichtendienst“ (BND) genannt. Als der CIA-Direktor Allan Dulles einmal gefragt wurde, ob er sich nicht schämte, mit dem Nazi Gehlen zusammengearbeitet zu haben, antwortete er: „Ich weiß nicht, ob er ein Schurke ist. In den Geheimdiensten gibt es wenige Heilige … Außerdem, man musste ihn ja nicht zu sich in den Klub einladen.“ (S. 312)

Am Beispiel Deutschlands wie vieler anderer Fälle zeigt der Autor des zu besprechenden Buches auf, wie die Entscheidungsträger in Sachen Gladio-Operation unbestraft davon kommen konnten. Keiner der bedeutenden Geheimdienste konnte öffentlich zur Rechenschaft gezogen werden. „Auch nach Jahren der Entdeckung des höchst geheimen Netzwerks ist die offizielle Antwort der NATO, etwa wie im Jahr 1990, durch Schweigen und Leugnen charakterisiert“ (S. 65). Freche Lügen scheinen also die Oberhand zu gewinnen.

Seit den Römern gilt: Historia est magistra vitae. Das Buch des Historikers Daniele Ganser „Nato-Geheimarmeen in Europa“ lehrt seine Leser nicht nur den kritischen Umgang mit der Geschichte, es klärt über die großen Lügen auf, die durch die Feindkonstruktionen und den großen Propagandaaufwand zur Historie zu werden droh(t)en.

Es sind viel zu viele Lügengeschichten, die uns für wahre Münze verkauft werden. Es ist wieder einmal gelungen, einem großen historischen Schwindel nachzugehen. Das ist das größte Verdienst des Autors. Dennoch lehrt uns seine gründliche historische Untersuchung noch eins: Und zwar die Notwendigkeit, die eigenen Feindbildkonstruktionen, die für Propaganda und suggerierte mediale Weltbilder ein fruchtbarer Boden sind, zu hinterfragen und beharrlich auf dem Wege der Wahrheitsfindung zu bleiben. Das ist es, was dieses Buch so unentbehrlich in der heutigen politischen Realität macht.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 3. April 2008; http://de.rian.ru


Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung", aus dem Engl. von Carsten Roth, Orell Füssli, Zürich 2008 , 446 Seiten 29,80 Euro; ISBN: 3280061067


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