NATO ohne neues Denken
Weiterer Einsatz am Hindukusch / Friedensgutachten für "gemeinsame Sicherheit"
Von Olaf Standke *
Während die NATO nach weitreichenden
Rüstungsbeschlüssen zum
Abschluss des Chicagoer Gipfels
eine neue Mission für Afghanistan
vereinbarte, plädierten führende
deutsche Institute bei der Vorstellung
des »Friedensgutachtens
2012« am Dienstag in Berlin für
radikale Abrüstung und politischdiplomatische
Konfliktlösungen.
Mit dem
Beschluss über einen
neuen Einsatz der NATO in Afghanistan
ist das bisher größte
Spitzentreffen des Nordatlantik-
Pakts am Montagabend zu Ende
gegangen. Während die Proteste
gegen den Gipfel weitergingen
und NATO-Gegner zur
Zentrale des Rüstungskonzerns
Boeing in Chicago zogen, verkaufte
Gastgeber Barack Obama
die Mission wie die vereinbarten
Rüstungsprojekte und
die in Betrieb genommene Raketenabwehr
als Beweis dafür,
dass man nach diesem Gipfel
»stärker, leistungsfähiger und
gewappnet für die Zukunft« sei.
Dabei sorgte das Ausscheren
Frankreichs aus der »Bündnissolidarität
« für Gipfelärger: Der
neue Präsident François Hollande
will die eigenen Kampfverbände
schon bis Ende 2012
nach Hause holen. Der NATO-Fahrplan
sieht das erst bis Ende
2014 vor. Dann wird eine neue
Mission mit tausenden Ausbildern
für die afghanischen Sicherheitskräfte
beginnen, wobei
weiter NATO-Spezialeinheiten
in mögliche Kämpfe eingreifen
sollen. Für die Finanzierung
sind ab 2015 jährlich 4,1 Milliarden
Dollar (3,2 Milliarden
Euro) veranschlagt, von denen
Kabul 500 Millionen Dollar
selbst aufbringen muss. Nach
Meinung von Paul Schäfer, verteidigungspolitischer
Sprecher der linken Bundestagsfraktion,
werde der Pakt so auf unbestimmte
Zeit militärisch und finanziell
in den Afghanistan-
Krieg verstrickt bleiben. Auch
der
Bundesausschuss Friedensratschlag verurteilte diesen
Kurs und forderte die NATO zugleich
auf, konventionell abzurüsten
und die US-Atomwaffen
aus Europa abzuziehen.
Militärische Überlegenheit
konnte zwar die Regime in Afghanistan
und in Irak stürzen,
heißt es im »Friedensgutachten
2012«, doch blieben beide Länder
unbefriedet. Die Konfliktforscher
verlangen von der
NATO neues Denken. »Sicherheit
ist nicht mehr gegen, sondern
nur noch miteinander zu
erreichen«, betonte Projektleiter
Bruno Schoch in Berlin. Mit
großer Sorge blicken die Institute
dabei auf die Ausweitung
des Drohnen-Einsatzes. Diese
Waffen machten den Krieg unsichtbar
und senkten so die
Hemmschwelle zur militärischen
Gewalt. Die NATO will ab
2016 ein System unbemannter
Flugkörper auf Sizilien stationieren.
Die Beschaffung durch
13 Staaten, darunter Deutschland,
kostet eine Milliarde Euro,
der Betrieb weitere zwei Milliarden.
Corinna Hauswedell vom
Bonn International Center for
Conversion bezeichnete das
Vorgehen der Bundesregierung
als unverantwortlich. Die Friedensforscher
fordern von ihr,
sich für die Aufnahme bewaffneter
Drohnen als Kategorie in
das UN-Waffenregister einzusetzen
und auf deren Ächtung
zu dringen. Geboten sei jetzt ein
neuer Schub für Rüstungskontrolle
und Abrüstung, so das
»Friedensgutachten 2012«.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 23. Mai 2012
Sieger von Afghanistan
Autosuggestion in Chicago: NATO muß Krieg am Hindukusch als Erfolg verkaufen. Kabul bekommt 4,1 Milliarden Dollar jährlich für den Aufbau einer neuen Armee
Von Rainer Rupp **
Die
Abschlußerklärung des NATO-Gipfels in Chicago vom Montag liest sich wie eine Erfolgsgeschichte des fast elfjährigen Krieges der US-geführten Kriegsallianz. Gerade so, als hätten sich die Staats- und Regierungschefs des Militärpakts in kollektive Autosuggestion versetzt. Soviel Dummheit will offensichtlich nicht einmal das Boulevardblatt Bild seinen Lesern zumuten. Unter dem Titel »Hier reden sie die Lage in Afghanistan schön« berichtete Nikolaus Blome aus der US-Metropole, wie die 28 Staats- und Regierungschefs »beste Miene zu Afghanistan« machten und »alle schrecklich nett zu Hamid Karsai, dem Premierminister des Unruhe-Landes«, seien. In weiteren Artikeln wie »Afghanistan – Das ist die grausame Wahrheit« räumt Bild mit den Ammenmärchen aus Chicago auf. »Die Sicherheitslage im Land ist verheerend«, heißt es da. »Von Februar bis Mai ist die Zahl der Taliban-Anschläge und Überfälle von 580 auf über 1000 gestiegen. 3006 NATO-Soldaten haben bisher ihr Leben gelassen. Ab Mitte 2013 sollen afghanische Truppen für die Sicherheit im Land verantwortlich sein. Die NATO nennt sie ›Verbündete‹. Aber allein in diesem Jahr starben 22 von insgesamt 159 gefallenen NATO-Soldaten durch Schüsse afghanischer Soldaten.« Tatsächlich sei die afghanische Armee hoffnungslos von Taliban und anderen Gruppen unterwandert, die nur auf den Abzug der Hauptmacht der westlichen Streitkräfte warteten. Besonderer Stein des Anstoßes: Deutschland will sich ab 2015 mit 150 Millionen Euro pro Jahr an der Finanzierung dieser Armee beteiligen.
Mit insgesamt 4,1 Milliarden Dollar jährlich wollen die NATO-Staaten über zehn Jahre bis Ende 2024 die afghanischen Einheiten hochpeppeln und deren Kampfbereitschaft kaufen. Allerdings bleibt die NATO die Antwort auf die Frage schuldig, wie eine solche Armee bis Ende 2014 unter ungleich schwierigeren Bedingungen aufgebaut werden soll, wenn das in den vergangenen zehneinhalb Jahren nicht möglich war.
Längst hat das westliche Marionettenregime der Karsai-Regierung auch in seinem engsten Herrschaftsbereich jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Jeder, der im Land bleiben will, macht bereits Pläne für die Zeit nach dem Abzug der westlichen Kampftruppe. Dazu gehört seit einigen Jahren, sich auf gar keinen Fall mit den Taliban anzulegen. Daher haben auch die westlichen Besatzer längst begriffen, daß sie sich in Afghanistan selbst unter größeren Opfern auf Dauer nicht halten können.
Um ein Drängeln der einzelnen Mitglieder nach einem früheren Afghanistan-Abzug zu verhindern, hat US-Präsident Barack Obama in Chicago erneut den »Fahrplan« bekräftigt, bis Ende 2014 alle Kampftruppen vom Hindukusch abzuziehen. Dieser wurde von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer schließlich als »unwiderrufbarer« Beschluß verabschiedet. Dabei hat sich Kanzlerin Angela Merkel besonders hervorgetan, indem sie sich – auf Kosten der deutschen Steuerzahler und der Knochen der Bundeswehrsoldaten – in einem Akt heroischer Nibelungentreue mit der Parole »Zusammen (in den Krieg) hinein, zusammen hinaus« fest hinter Obama und gegen den neuen französischen Präsidenten François Hollande gestellt hat. Letzterer hatte angekündigt, die Kampftruppen seines Landes bereits Ende dieses Jahres abzuziehen. Nach dem Gipfel verkündete er stolz, daß er sich in Chicago durchgesetzt habe. Von den 3400 französischen Soldaten würden nach 2012 nur noch einige wenige in der Funktion als Ausbilder für die afghanische Armee im Land bleiben. Die von Washington geforderte Finanzierung dieser Armee in Höhe von ebenfalls 150 Millionen Euro jährlich wies er im Gegensatz zu Merkel zurück. Dies könnte andere, finanziell klamme NATO-Länder zur Nachahmung anstiften und den Konsens zum bröckeln bringen.
Für die Atlantiker ist es jetzt von besonderer Bedeutung, ohne all zu großen Gesichtsverlust aus dem Afghanistan-Debakel herauszukommen. So heißt es z.B. in der »Jahresschrift 2011« des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, daß eine westliche Niederlage am Hindukusch einem »weltpolitischen Totalschaden (…) für die von den westlichen Industriestaaten konstituierte internationale Ordnung« gleichkäme, was nicht anderes bedeutet, als daß die Rechtfertigung neuer NATO-»Ordnungskriege« in Zukunft sehr viel schwerer würde.
Zugleich sorgt man sich in Washington über die Auswirkungen einer Niederlage auf den Hegemonieanspruch der USA. So konnte man z.B. schon vor Jahren in einer Analyse des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses lesen, daß durch eine Niederlage in Afghanistan »die Glaubwürdigkeit und die Zukunft der NATO und damit der Führungsanspruch der Vereinigten Staaten« auf dem Spiel stünden. Deshalb wird Washington und der NATO nichts anderes übrigbleiben, als sich am Hindukusch zu Siegern zu erklären.
** Aus: junge Welt, Mittwoch, 23. Mai 2012
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