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Nato-Gipfel in Bukarest: Mehr Probleme und Konflikte, als den Strategen lieb sein kann

Mit der Stabilität des größten Militärpaktes in der Geschichte ist es schlecht bestellt

Wir setzen unsere Berichterstattung über den Nato-Gipfel mit zwei Artikeln fort, die sich kritisch mit der weiteren Ostverschiebung der Nato befassen.



NATO-Zündstoff im "Haus des Volkes"

Afghanistan, Erweiterung, Russland - für Konfliktpotenzial ist gesorgt

Von Olaf Standke *


Jede Menge Streit erwartet die Staats- und Regierungschefs der 26 NATO-Staaten beim heute beginnenden Gipfel in Nicolae Ceausescus einstigem »Haus des Volkes« von Bukarest.

Vor ein paar Wochen schien es noch so, als wäre der Streit um Afghanistan die größte Zerreißprobe für den NATO-Gipfel. Der Druck auf die »Schlappschwänze«, die da ihre Truppen am Hindukusch nicht aufstocken und endlich im gefährlichen Süden kämpfen wollten, war vor allem aus Washington groß und zu allererst auf Berlin gerichtet. Inzwischen hat USA-Präsident George W. Bush einen verbalen Rückzieher gemacht, Frankreich seine Ankündigung, der Allianz wieder voll und ganz anzugehören, mit einer Kontingentverstärkung garniert und NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer versucht, die Wogen zu glätten. Hinter den Kulissen allerdings wird weiter erbittert bis zur letzten Sekunde um jedes Wort der geplanten Afghanistan-Erklärung des Paktes gestritten, wie zu hören ist. Und was man von »deutscher Standhaftigkeit« in Sachen Afghanistan zu halten hat, zeigte der Gipfel vor zwei Jahren: Schon damals drängte Bush, Kanzlerin Angela Merkel sagte in Riga erhobenen Hauptes Nein - einige Wochen später erfüllte die Regierung pflichtschuldigst die NATO-Anforderung, Aufklärungs-Tornados der Bundeswehr nach Afghanistan zu schicken, und erhöhte die Zahl der Soldaten dann doch, von 3000 auf 3500. Das Spiel dürfte sich in ähnlicher Form im Herbst wiederholen, wenn der Bundestag das Afghanistan-Mandat verlängern soll.

Letztlich geht es auch bei dieser Debatte um die künftige Rolle des größten Militärbündnisses der Welt. Präsident Nikolas Sarkozy träumt mit der militärischen Reintegration Frankreichs in die Allianz von einer Reform des Bündnisses und einer Stärkung des europäischen Einflusses. Das sieht die linke Opposition in Paris anders. »Sarko der Amerikaner« sei bereit, sich dem Führungsanspruch Washingtons zu unterwerfen, werde zum »Lieferanten von Hilfstruppen« der USA. Für den ehemaligen Außenminister Roland Dumas deuten alle Zeichen darauf hin, dass die NATO zu einem »Instrument der Weltregierung« gemacht werden solle. De Hoop Scheffer bestritt das vor dem Gipfel heftig, man verstehe sich nicht als »Weltgendarm«, eine »globale NATO als eine Art zweite Vereinte Nationen« werde es nicht geben - doch bei globalen Herausforderungen wie dem Terrorismus und der Verbreitung von Atomwaffen brauche man eben globale Partner wie Australien, Neuseeland, Japan oder Südkorea. In der NATO-Doktrin ist die Fähigkeit zur Intervention auch außerhalb der Bündnisgrenzen längst festgeschrieben. Die NATO ist schon heute ein Kriegsbündnis zur Durchsetzung geostrategischer Interessen.

Vor diesem Hintergrund vollzieht sich auch die Ausdehnung des Paktes, die auf dem Gipfel für weiteren politischen Zündstoff sorgen dürfte. Da ist zum einen der noch immer nicht beigelegte Namensstreit zwischen der früheren jugoslawischen Republik Mazedonien und Griechenland. Athen droht mit Blick auf die hellenische Geschichte und die gleichnamige eigene Provinz im Landesnorden mit einem Veto gegen die Aufnahme des Balkannachbarn, falls die Regierung in Skopje weiterhin auf dem Namen »Republik Mazedonien« beharrt. Die aber soll mit Kroatien und Albanien zum Beitritt in die NATO eingeladen werden.

Noch eine ganz andere Dimension gewinnt die Absicht, die NATO-Außengrenze mittelfristig auch nach Georgien und in die Ukraine zu verschieben. Nicht nur, weil allen voran Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande im Unterschied zu den USA starke Vorbehalte gegen eine weitere Annäherung haben; etwa mit Hinweis darauf, dass ja in der Ukraine selbst eine Mehrheit gegen einen NATO-Beitritt sei oder dass im Falle Georgiens die ungelösten Probleme um die abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien erhebliches Konfliktpotenzial bergen. Es ist vor allem auch der Widerstand Russlands gegen diese neue Ostausdehnung der Allianz, der so manchem westeuropäischen Mitgliedsland Sorgen macht.

Hintergrund - Russlands Einspruch

Das Meer roter Fahnen der einstigen Sowjetunion, mit denen Gegner eines NATO-Beitritts der Ukraine den USA-Präsidenten in Kiew begrüßten, focht diesen nicht an. Er, so George Bush auf der Pressekonferenz nach Konsultationen mit seinem Amtskollegen Viktor Juschtschenko, befürworte einen NATO-Beitritt der Ukraine »voll und ganz«. Russland habe kein Vetorecht bei der Entscheidung, da werde es kein »Gefeilsche« geben.

Moskauer Medien sind sich indes weitgehend einig, dass die Allianz der Ukraine und Georgien beim Gipfel in Bukarest allenfalls die Teilnahme an einem Maßnahmeplan zur Vorbereitung von Beitrittsverhandlungen anbieten werde. Von konkreten Fristen, meint die »Nesawissimaja Gaseta«, könne in überschaubaren Zeiträumen keine Rede sein. Moskau setzt auch darauf, dass die ukrainische Verfassung das Land zu Neutralität verpflichtet. Für einen Beitritt müsste Kiew ein Referendum beschließen, bei dem eine klare Mehrheit mit Nein votieren dürfte, zumal Moskau im Falle einer NATO-Mitgliedschaft Visumszwang einführen will. Leidtragende wären vor allem rund fünf Millionen ukrainische Gastarbeiter in Russland.

Und dann seien da ja noch die Statuten der Allianz, die die Aufnahme neuer Mitglieder bei ungeklärten Grenzfragen mit Nachbarn untersagen. Russland und die Ukraine konnten sich bisher weder über die Seegrenzen im Asowschen Meer noch über die in der Meerenge von Kertsch vor der Halbinsel Krim einigen. Dazu kommt, dass Moskau die erst 2017 auslaufenden Verträge über die Stationierung seiner Schwarzmeerflotte bei Sewastopol kaum vorfristig kündigen wird. Georgien wiederum müsste wohl auf die abtrünnigen Autonomien Abchasien und Südossetien verzichten. 80 Prozent der Bürger dort haben einen russischen Pass und lehnen einen NATO-Beitritt vehement ab. Die Duma empfahl der russischen Regierung bereits, beide Gebiete als Staaten völkerrechtlich anzuerkennen.

Irina Wolkowa, Moskau



* Aus: Neues Deutschland, 2. April 2008


Testfall Afghanistan

Heute beginnt der größte NATO-Gipfel der Geschichte. In den drei Tagen von Bukarest stellt sich die Frage nach der Stabilität des Militärpakt

Von Rainer Rupp **


Unter Fanfarenklängen beginnt heute abend in der rumänischen Hauptstadt Bukarest das »größte Gipfeltreffen in der Geschichte der NATO«, wie James Appathurai stolz ankündigte. Allerdings versuchte der Bündnissprecher bereits im Vorfeld der dreitägigen Konferenz, die weithin erwarteten Schlagzeilen über Kontroversen, Uneinigkeit oder gar Spaltung der NATO zu entkräften. Das sei kein Streit; vielmehr würden die Bündnispartner so lange diskutieren, bis sie einig seien. Doch dürfte auch Appathurai wissen, daß dieses einfacher gesagt als getan ist: Der Militärpakt steht vor einer Reihe schwerer und grundsätzlicher Probleme.

Neue Gesamtstrategie

Der NATO nahestehende Experten sehen den Grund für die Malaise darin, daß zwischen den Bündnispartnern inzwischen tiefgehende Differenzen über den Zweck und die Ziele der Allianz bestehen. So fehlt es an einer gemeinsamen Strategie bezüglich einerseits der weiteren Ausdehnung der NATO, insbesondere was die Einbeziehung der Ukraine und Georgien betrifft; andererseits des Mittelmeers und des Mittleren Ostens – und das trotz der »ungeheuren Bedeutung des Persischen Golfs für den Westen«. Und schließlich fehlt auch eine gemeinsame Strategie zur avisierten globalen Interventionsrolle mit Hilfe der sogenannten globalen Partnerschaften.

Folglich soll in Bukarest ein neues, allerdings umstrittenes Gesamtkonzept auf den Weg gebracht werden. Darin soll die NATO der US-Strategie der präventiven Angriffskriege angepaßt werden. Zugleich versucht die US-geführte ­NATO – nicht ohne Erfolg – die internationalen Organisationen wie die UNO und die EU für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Sowohl Ban Ki Moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, als auch EU-Sicherheitschef Xavier Solana und EU-Präsident José Manuel Baroso nehmen am ­NATO-Gipfel teil.

Aber trotz der weitgesteckten Pläne bestimmt die Lage in Afghanistan auch das aktuelle Treffen. Tatsächlich liegen »nach über sechs Jahren Krieg am Hindukusch in der NATO die Nerven blank«, formulierte im Dezember vergangenen Jahres die Washington Post mit Blick auf eine Zusammenkunft der NATO-Verteidigungsminister. Über alles gäbe es Streit: »Über die Art der Kriegführung, über die Truppenstärke, den Auftrag, den Wiederaufbau, die Drogenbekämpfung und sogar über die Strategie der Aufstandsbekämpfung.« Laut einem Bericht des US-Atlantikrats steht Afghanistan kurz davor, trotz US- und NATO-Engagements ein »gescheiterter Staat« zu werden. In diesem Zusammenhang warnte der wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses kürzlich, daß bei einem Scheitern der Afghanistan-Mission nicht nur »der Zusammenhalt der NATO«, sondern auch »Amerikas Führungsposition auf dem Spiel steht«.

Afghanistan belastet und lähmt. Für die ausländischen Truppen war 2007 das bisher blutigste Jahr. Die Taliban wenden immer öfter Kampftaktiken nach irakischem Vorbild an. Zugleich sind sie verstärkt in die bisher relativ sicheren Städte eingesickert, wo Anschläge den westlichen Besatzern zunehmend zu schaffen machen.

General McNeill klagt

Das »Hauptproblem« der NATO, so der kommandierende General für Afghanistan, Dan McNeill, kurz und bündig zu Wochenbeginn, liege im Mangel an Soldaten und Material. Gemäß US-Militärstudien zur Aufstandsbekämpfung müßte McNeill weit über 400000 Soldaten unter seinem Kommando haben, um gegen die Taliban erfolgreich sein zu können. Weniger als 60000 stehen ihm derzeit zur Verfügung. Und wegen der sogenannten nationalen »Caveats« (Klauseln der einzelnen Länder, die am Einsatz beteiligt sind) könne er die meisten nicht einmal in die »heißen Kampfgebiete im Süden« schicken, klagte der General.

Da Afghanistan derzeit alle anderen Probleme der NATO überschattet, wird sich Erfolg oder Mißerfolg des Gipfels in Bukarest aus Sicht der Allianz auch an diesem Thema messen lassen. Kritierien sind, ob sich die Verbündeten in Bezug auf Strategie und Taktik zur Befriedung des Landes näher kommen und ob sie ihren Lippenbekenntnissen (»eine Niederlage der NATO ist ausgeschlossen«) Taten folgen lassen, das heißt zusätzlich Soldaten und Material in die Schlacht schicken. Danach sieht es nicht aus. So erklärte US-Präsident George W. Bush unmittelbar vor dem Gipfel, die USA könnten von Deutschland nichts verlangen, wozu diese wegen ihrer Verfassung nicht fähig seien. Dieses Zugeständnis an Berlin öffnet auch anderen »Zauderern« in der ­NATO eine Hintertür. Schließlich dürfte, was den Deutschen recht ist, den anderen billig sein.

** junge Welt, 2. April 2008


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