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Russlands Sorgen

Von Wolfgang Kötter *

Unmittelbar nach den Gipfelberatungen der 26 NATO-Mitgliedstaaten in Bukarest tritt heute (4. April) Russlands scheidender Präsident Wladimir Putin zum ersten und letzten Mal im NATO-Russland-Rat auf, bevor er am Sonntag (6. April) in Sotschi am Schwarzen Meer US-Präsident George W. Bush zum Abschiedsbesuch empfängt. Um seinen Ruf im Westen steht es jedoch nicht zum Besten und auch in der Sicherheitspolitik gilt Moskau dort als Krawallmacher und Provokateur.

Einer Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts GlobeScan zufolge finden angeblich 47 Prozent der Deutschen, Briten, Franzosen, Italiener, Japaner, Kanadier und US-Bürger, dass Putin eine schlechte Wirkung auf den Frieden und die Sicherheit in der Welt ausübt. Er habe einen „neuen Kalten Krieg“ entfacht, beklagten Medien im vergangenen Jahr, als der russische Präsident auf der Münchner Sicherheitskonferenz gegen eine von den USA dominierte „unipolare Welt“ gewettert hatte. Seine Rede markierte nach Ansicht westlicher Politologen den Beginn eines verschärften Kurses Moskaus gegenüber dem Westen. In Brüssel scheint man jetzt schon einmal prophylaktisch vorbeugen zu wollen. So warnt NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer Putin vor rhetorischen Störmanövern. Der Erfolg der Beratungen werde entscheidend davon abhängen, welchen Ton Putin anschlage. "Lassen Sie uns also versuchen, nutzlose Rhetorik nach dem Motto 'Wir werden Raketen auf die Länder A, B und C richten' vermeiden", äußerte er gegenüber der britischen Zeitung Financial Times. Wer aber genau hinhört, erkennt aus den wiederholten Äußerungen Putins in letzter Zeit eher Sorge um die eigene Sicherheit und das russische Anliegen, gleichberechtigt an einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in Europa mitzubauen. Doch der Westen scheint nicht gewillt, dieses zu respektieren. „Die NATO muss sich fragen“, so mahnt Ex-US-Senator Sam Nunn, „ob es in ihrem Interesse liegt, dass Russland buchstäblich das einzige Land in diesem Teil der Welt ist, das für das gewaltige Verteidigungsbündnis nicht tauglich ist.“

Moskau fühlt sich durch die Politik des Westens schon länger benachteiligt und provoziert. Trotz atmosphärischer Aufhellung in letzter Zeit empfindet man im Kreml beispielsweise die geplante Installierung von US-Abfangraketen in Polen und einer Radaranlage in Tschechien als Bedrohung: „Nach Ansicht unserer Experten gefährdet dieses System die Sicherheit unserer Nation“, so Putin. „Wenn dieses System aufgestellt wird, werden wir angemessen reagieren und einen Teil unserer Raketen darauf richten müssen.“ Die von Moskau vorgeschlagene Alternative, eine gemeinsame Raketenabwehr aufzubauen, ignoriert der Westen faktisch und ein rechtsverbindliches Verbot von Weltraumwaffen lehnen die USA rundweg ab. Hinzu kommt, dass auch die einseitige diplomatische Anerkennung des Kosovo unter Umgehung des UNO-Sicherheitsrats als Missachtung der Vetomacht Russland und Verstoß gegen das Völkerrecht kritisiert wird.

Auf den Trend zur Ignoranz völkerrechtlicher Normen und Prinzipien eingehend, warnte Russlands Präsident bereits Anfang des Jahres: „Wenn man sich weiter von der sogenannten politischen Zweckmäßigkeit leiten lassen wird und den politischen Interessen einzelner Staaten dient, werden dadurch das Völkerrecht und die Weltordnung zerstört.“ Der scheidende Staatschef sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Erosion der internationalen Rechtsordnung und der Militarisierung in den internationalen Beziehungen. Wenn das Völkerrecht die Interessen von Staaten nicht schütze, komme es zum Wettrüsten, andererseits hätte in einer festen Rechtsordnung niemand Angst und es bestünde keine Notwendigkeit aufzurüsten. Dazu aber sieht sich Russland geradezu gezwungen und erwartet in den Streitpunkten mit der NATO kaum eine Einigung: „Wir sehen bislang keine realen Schritte hin zu einem Kompromiss", konstatiert Putin und kündigt eine neue Rüstungsrunde für sein Land bis 2020 an: "In den nächsten Jahren soll die Produktion neuer Waffensysteme aufgenommen werden, die den Verteidigungsmöglichkeiten anderer Staaten in nichts nachstehen und in einigen Fällen sogar noch besser sind.“ Russland habe das Wettrüsten nicht ausgelöst und wolle sich daran eigentlich auch nicht beteiligen. Aber die NATO missachte fortlaufend die sicherheitspolitischen Interessen des Kremls und weiche russischen Fragen zum Thema aus. “Wenn wir wollen, dass Russland ausgeschlossen bleibt und wenn wir wollen, dass Russland die NATO als ewigen Feind ansieht, dann machen wir alles richtig”, lobt Senator Nunn sarkastisch das nordatlantische Bündnis.

Sind die Vorwürfe Russlands nun berechtigt oder lediglich Propaganda? Die Frustration scheint tief zu sitzen und auch vom Präsidentennachfolger Dmitri Medwedjew ist keine grundlegende Positionsänderung zu erwarten. Moskau sieht sich permanenten Versuchen des Westens ausgesetzt, das postsowjetische Territorium zu infiltrieren, und die eigenen Bedrohungsängste werden trotz anderslautender Versprechungen durch mehrfache NATO-Osterweiterungen brüskiert. Mit Bulgarien, Polen, Rumänien, Tschechien, der Slowakei und Ungarn sowie den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gehören heute neun der ehemals Verbündeten zur gegnerischen Militärallianz. Als nächste wurden jetzt Albaniens und Kroatiens Beitritt eingeladen, der bis zum 60. Jahrestag der Allianz im kommenden Jahr vollzogen sein soll. Auch Mazedonien ist willkommen, sobald der Namensstreit mit Griechenland beigelegt ist. Kontrovers allerdings bleibt, wann Georgien und die Ukraine folgen werden. Dagegen hat Moskau schwere Geschütze aufgefahren. Sollte Kiew der NATO beitreten oder militärische Anlagen westlicher Länder auf seinem Territorium errichten lassen, würde das Land zum Zielobjekt russischer Atomraketen werden, droht Putin. „Wir erachten es als extrem beunruhigend für die bestehende europäische Sicherheitsstruktur“, warnt auch der ab kommenden Monat amtierende Medwedjew gegenüber der Financial Times Deutschland. Kein Staat wäre darüber erfreut, wenn „ein Militärblock, dem er selbst nicht angehört, in die Nähe der eigenen Grenzen kommt.“ Experten befürchten auch eine eventuelle politische „Spaltung“ der Ukraine und Georgiens, sollten deren Regierungen ihren Westkurs gegen den Willen der Bevölkerung fortsetzen. Die russische Minderheit in der östlichen Ukraine beispielsweise würde sich einem Beitritt zur westlichen Militärallianz niemals fügen. Die NATO könnte ein Rest-Georgien ohne die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien sowie die instabile Ukraine übernehmen, würde aber Russland für Jahre verlieren, prophezeit Moskaus NATO-Botschafter Dmitri Rogosin und bezeichnet die Aufnahme beider Länder durch das westliche Militärbündnis als Wahnsinn und ein Abenteuer, das sogar „zu Blutvergießen führen kann."

Enttäuschung ruft an der Moskwa ebenfalls die Weigerung der westlichen Seite hervor, den KSE-Vertrag über konventionelle Waffen in Europa an die auf Eins zu Drei zuungunsten Russlands veränderte Waffenarithmetik auf dem Kontinent anzupassen. Die geplante Verlegung von bis zu 10 000 US-Soldaten nach Bulgarien und Rumänien kann in diesem Licht nur als offener Affront wirken. Auch der russische Wunsch, die strategischen Abrüstungsverträge START und SORT völkerrechtlich verbindlich zu verlängern, findet bisher in Washington wenig Gehör. Ohne eine Einigung aber werden sie in den nächsten Jahren auslaufen und einen rechtsfreien Raum für das nukleare Wettrüsten hinterlassen.

Wo liegen die grundlegenden Ursachen für die gegenwärtigen Interessengegensätze und Kontroversen? Letztlich bestehen sie in einer fundamentalen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Bedrohungslage und dem sicherheitspolitischen Denken und Handeln der politischen Eliten. Während sich die Realität radikal gewandelt hat, bleibt die Reflexion immer noch in veralteten Denkschablonen und Klischees gefangen. Der Ost-West-Konflikt ist vorüber, die Blockteilung überwunden. Statt der Abschreckung eines massiven Angriffs der Gegenseite, möglicherweise sogar mit Nuklearwaffen, besteht die vorrangige Herausforderung heute darin, zu verhindern, dass Terroristen, religiöse Fanatiker oder Kriminelle Zugang zu atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungsmitteln erlangen. Ebenso gilt es, die Überflutung der Erde mit konventionellen Waffen einzudämmen, denen in unzähligen Kämpfen Millionen von Menschen zum Opfer fallen. Weltweit muss gemeinsam an den Ursachen für Gewaltkonflikte wie Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung gearbeitet werden. Dafür ist die Schaffung von politischem Vertrauen ebenso unverzichtbar wie die Stärkung völkerrechtlicher Normen und Verträge. Die gegenwärtige Remilitarisierung der internationalen Beziehungen, massive Aufrüstung, die Abkehr vom Völkerrecht und insbesondere die verstärkte Hinwendung zu Atomwaffen als vorgeblicher Lebensversicherung aber laufen der eigenen Selbsterhaltung diametral entgegen.

* Dieser Artikel erschien - unwesentlich gekürzt - am 4. April 2008 im "Neuen Deutschland"


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