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Ewiger NATO-Bündnisfall? Keine Aufhebung der Beistandspflicht in Sicht

Ein Beitrag von Thomas Wiegold in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator):
Die Terroranschläge von New York und Washington hatten damals zu einer Solidaritätswelle mit den USA geführt. Auch die NATO wollte nicht untätig bleiben. Erstmals in der Geschichte der Militärallianz wurde der Bündnisfall ausgerufen. Und er ist bis heute in Kraft. Hören Sie Thomas Wiegold:


Manuskript Thomas Wiegold

„Uneingeschränkte Solidarität.“ Das war der Begriff, den die deutsche Politik nach den Anschlägen des 11. September 2001 fand. Uneingeschränkte Solidarität für die USA, nachdem die einstürzenden Twin Towers des World Trade Centers in New York die weltpolitische Lage dramatisch verändert hatten. Deutschland und andere Verbündete boten den Vereinigten Staaten nicht nur direkt ihre Hilfe an. Sie setzten auch die mächtigste Militärallianz der Welt in Marsch:

O-Ton Schröder
„Der NATO-Rat hat den Vereinigten Staaten seine volle Solidarität auf der Grundlage von Artikel 5 des NATO-Vertrages erklärt. Und er hat, ganz ähnlich wie der Weltsicherheitsrat, auch neu interpretiert, was denn unter einem bewaffneten Angriff auf einen Bündnispartner zu verstehen sei, nämlich nicht nur, wie bei Zustandekommen des NATO-Vertrages gedacht, der kriegerische Angriff eines Staates auf einen Staat, der NATO-Mitglied ist, sondern – ebenso wie der Weltsicherheitsrat – auch ein terroristischer Angriff, verstanden als Angriff auf einen Bündnispartner.“

Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 19. September 2001, gut eine Woche nach Nine Eleven. Die NATO, das mächtigste Militärbündnis der Welt, erinnerte sich an ihre ursprüngliche Funktion: Hilfe für ein Mitgliedsland, das von außen angegriffen wird.

Jahrzehntelang hatten vor allem die Westdeutschen von dieser Beistandsverpflichtung profitiert. Der Artikel 5 des NATO-Vertrages war die Garantie für die Bundesrepublik: Wenn sich die Truppen des Warschauer Paktes in Marsch setzen, steht ihr nicht alleine da. Amerikaner, Briten, Franzosen, selbst Belgier und Niederländer standen bereit, westdeutschen Boden zu verteidigen.

Doch was bedeutete diese Verpflichtung zur Hilfe nach den Anschlägen des 11. September 2001? Sollten sich deutsche Truppen in Marsch setzen, und wenn ja, wohin?

Das konnte damals auch der Kanzler dem Bundestag nicht sagen:

O-Ton Schröder
„Wir wissen heute noch nicht, ob und welche Unterstützung die Vereinigten Staaten von den NATO-Partnern erwarten und einfordern. Das könnte auch militärischer Beistand sein; ausgeschlossen, meine Damen und Herren, kann das nicht, und deswegen darf ich ihn auch nicht ausschließen.“

Unter NATO-Kommando allerdings passierte danach wenig. Die Allianz schickte für ein halbes Jahr AWACS-Flugzeuge in die USA, um bei der Überwachung des Luftraums zu helfen. Und im östlichen Mittelmeer kreuzten Kriegsschiffe, um dort Verbindungswege der Terroristen aufzudecken. Diese Operation „Active Endeavour“ dauert bis heute. Auch mit – gelegentlicher - deutscher Beteiligung.

Doch von den großen Militäraktionen nach Nine Eleven fand keine einzige unter dem Dach der NATO statt. Der amerikanische Krieg gegen Afghanistan, die Operation „Enduring Freedom“, ja selbst die Entsendung der Schutztruppe ISAF an den Hindukusch: Keiner dieser Einsätze hatte – rechtlich gesehen – etwas mit dem NATO-Bündnisfall zu tun. Statt auf die Allianz setzten die Vereinigten Staaten auf einzelne Koalitionspartner. „Coalition of the willing“, so der Ansatz der USA.

Denn die Hoheit über die Antwort auf die Anschläge des 11. September wollten sich die Vereinigten Staaten nicht aus der Hand nehmen lassen. Nicht von einer Allianz, deren Mitglieder nur im Konsens über einen Truppeneinsatz beschließen können. Das bekamen selbst bedeutende Verbündete wie Deutschland zu spüren: Am Sitz des US Central Command in Tampa, Florida, wo die Befehlszentrale saß, verfolgte ein kleines deutsches Verbindungskommando in einem eilig aufgestellten Containerbüro das amerikanische Vorgehen. Der deutsche General, der die Operation „Eagle Assist“, die Entsendung der AWACS-Flotte auf den amerikanischen Kontinent, kommandierte, musste sich vor allem von US-Politikern die Frage anhören: Wofür brauchen wir euch?

Die Erklärung des Bündnisfalls, die erste in der Geschichte der NATO, hatte politische Bedeutung. Kaum eine militärische. Wäre es da nicht an der Zeit, diesen Bündnisfall zehn Jahre später für beendet zu erklären? Für die Politik, in Deutschland und anderswo, spielt er offensichtlich keine entscheidende Rolle mehr.

Der frühere Grünen-Abgeordnete Winfried Nachtwei, im September 2001 als Verteidigungspolitiker seiner Fraktion in vorderster Reihe dabei und bis heute ein engagierter Beobachter der Afghanistan-Mission, hat eine eindeutige Antwort:

O-Ton Nachtwei
„Ja, es wäre richtig, um diesen Bündnisfall, diese sicherheitspolitische Ernstfallkategorie, nicht völlig zu relativieren und wertlos zu machen, diesen aufzuheben. Weil ja das Engagement der westlichen Verbündeten, aber nicht nur der westlichen Verbündeten in Afghanistan eben auf der Grundlage eines UN-Mandats die ganze Zeit geschieht. Also das heißt, Bündnisfall, einer von uns ist angegriffen, und wir stehen ihm insgesamt in der Situation des Angriffs zur Seite, dieses ist heute materiell auch nicht mehr so gegeben.“

Die Aufhebung des NATO-Bündnisfalls - das ist aber nicht so einfach, wie der Verteidigungspolitiker Rainer Arnold von den Sozialdemokraten erläutert. Für den SPD-Abgeordneten gehört daher der Nordatlantik-Vertrag auf den Prüfstand:

O-Ton Arnold
„Als der Nato-Vertrag geschrieben wurde, ging man von einem heißen Krieg zwischen Ländern aus, wo es am Ende dann automatisch einen Sieger und einen Besiegten gibt und damit der Bündnisfall zu Ende ist. Insofern passt der Nato-Vertrag nicht mehr zur heutigen Zeit. Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Mehrzahl der Nato-Länder im politischen Sinn den Bündnisfall für sich bereits abgeschlossen haben. Und insofern könnten die Deutschen mit einer Debatte, die Deutschen steigen bei „Active Endeavour“ aus, einen zusätzlichen Impuls für die notwendige Diskussion liefern.“

Der Ausstieg aus einer Mission als Einstieg in die Debatte über das Ende des Bündnisfalls? Der Präsident der NATO-Parlamentarierversammlung, der CDU-Abgeordnete Karl A. Lamers, denkt vorsichtig in die gleiche Richtung:

O-Ton Karl A. Lamers
„Ich kann mir vorstellen, gerade jetzt im Hinblick auf den angekündigten Rückzug der dort in Afghanistan eingesetzten Nationen, dass man vielleicht im Zusammenhang damit im Jahre 2013/2014, wenn diese Mission militärisch vielleicht einem Ende zugeführt wird, dass in dem Zusammenhang auch daran gedacht werden könnte, dass die NATO als solche dann diese Ausrufung des Bündnisfalls praktisch für beendet erklärt.“

Das klingt, als könnte der Bündnisfall noch ein paar Jahre in Kraft bleiben. Die NATO selbst mag derzeit das Thema gar nicht so hoch hängen. Am 4. Oktober, auf den Tag genau zehn Jahre nach der Aktivierung des ersten Bündnisfalls in der Geschichte der Allianz, soll es jedenfalls keine große Feierstunde geben. Nur eine knappe, kurze Gedenkveranstaltung – auf Bitten des amerikanischen Botschafters.

* Quelle: NDR Info Das Forum, STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 10. September 2011; www.ndrinfo.de


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