Grenzenloser Krieg
NATO kämpft in Afghanistan ums Überleben
Von Christine Buchholz und Claudia Haydt *
Seit neun Jahren führt die NATO Krieg in
Afghanistan. Keines der Kriegsziele, die im
Laufe der Zeit angeführt wurden, konnte
sie erreichen. Die brutale Kriegführung der
Allianz hat den »Terror« nicht bekämpft, im
Gegenteil die NATO agiert selbst mit Methoden,
die in der afghanischen Bevölkerung
als terroristisch empfunden werden.
Die soziale und die Sicherheitssituation der
Frauen ist – auch wenn dies kaum vorstellbar
ist – noch schlechter als zu Zeiten der
Talibanherrschaft. Weder Demokratie noch
Rechtsstaatlichkeit wurden etabliert. Stattdessen
wurden die NATO und die Europäische
Union faktisch zu Komplizen beim
Abbau von Rechtsstaatlichkeit und massivem
Wahlbetrug. Durch die forcierte Ausbildung
und Ausrüstung von afghanischen
Soldaten und Polizisten wird nicht die Sicherheit
»afghanisiert«, wie die NATO gerne
behauptet, sondern der Krieg. So wird
die Grundlage für weiteren Bürgerkrieg und
für ein autoritäres Militärregime gelegt.
Frei nach dem Motto »Wo Gewalt nicht
hilft, da brauchen wir eben noch mehr Gewalt
« versucht die NATO unter Aufbietung
von immer mehr Soldaten, unter Missachtung
von Landesgrenzen und Grenzen des
Völkerrechts einen Sieg herbei zu bomben.
Sie kämpft nicht für die Frauen oder die
Demokratie in Afghanistan, die NATO verteidigt
auch nicht die »westliche Freiheit«
am Hindukusch.
Der frühere Botschafter der USA bei der
NATO, David M. Abshire, schreibt ganz offen:
»In Afghanistan kämpft die NATO um
ihr Leben.« Recht hat er. Als USA-Präsident
Barak Obama im Dezember 2009 entschied,
Zehntausende zusätzlicher Soldaten
nach Afghanistan zu schicken, da erklärte
er: »Denn was auf dem Spiel steht,
ist nicht nur ein Test der Glaubwürdigkeit
der NATO – was auf dem Spiel steht, ist die
Sicherheit unserer Verbündeter und die
gemeinsame Sicherheit der Welt.«
Die USA und der Nordatlantik-Pakt haben
zur Durchsetzung ihrer Sicherheitsvorstellungen,
die vor allem Sicherheit des
Zugangs zu Ressourcen und Märkten bedeuten,
Afghanistan und große Teile Pakistans
zu einem Schlachtfeld gemacht. Während
in Afghanistan die Bevölkerung mit
Angriffen aus der Luft und durch Bodentruppen
rechnen muss, kommt die Gefahr
in Pakistan vor allem aus der Luft. Besonders
der Einsatz von Drohnen hat in den
letzten Monaten die Situation an der afghanisch-
pakistanischen Grenze massiv eskaliert.
Allein im Zeitraum von Anfang September
bis Anfang Oktober 2010 fanden in
Pakistan nach BBC-Angaben 26 Drohnenangriffe
statt, wobei mindestens 140 Menschen
ums Leben kamen. Auf welcher
Grundlage die Opfer dieser Angriffe durch
die NATO und US-Armee ausgewählt werden,
ist unklar. Man kann davon ausgehen,
dass für die Erstellung der Listen über mögliche
Zielpersonen die westlichen Geheimdienste
verantwortlich sind und schlussendlich
ein bloßer Verdacht zum Todesurteil
werden kann. Am 4. Oktober 2010
wurden auch acht deutsche Staatsbürger in
Nord-Waziristan zu Opfern von US-Drohnenangriffen.
Man stelle sich einmal vor
was geschähe, wenn die iranische Armee
auf puren Verdacht hin US-amerikanische
Bürger in einem Drittland aus der Luft
»eliminieren« würde.
Der Abschied selbst von Mindeststandards
bei Menschen- und Völkerrecht findet
einerseits systematisch durch die Einsatzstrategie
der NATO in Afghanistan
statt, erfolgt aber auch individuell bei den
eingesetzten Soldaten. Zu welcher Verrohung
der Kriegseinsatz auch bei deutschen
Soldaten führt, macht ein Kriegstagebuch
deutlich, das die Nachrichtenagentur dapd
jüngst veröffentlichte: »Man baut einfach
einen Hass gegen die Bevölkerung auf...
Man möchte am liebsten auch alle normalen
Afghanen ins Jenseits befördern.« Eine
Armee kann unmöglich Widerstand, der
von breiten Teilen der Bevölkerung getragen
wird, bekämpfen ohne dass diese Bevölkerung
dabei auch ins Visier der Besatzungsarmee
gerät.
Der Widerstand gegen die NATO erfährt
so, gespeist aus der Trauer und der Wut
der Betroffenen, noch weitere Unterstützung.
Die einzige logische Konsequenz aus
diesem Dilemma, ist der sofortige Abzug.
Doch die deutsche Regierung und die Regierungen
der meisten anderen NATO-Staaten
ziehen es bis jetzt vor, weiterhin auf
Kosten der afghanischen Zivilbevölkerung,
aber auch auf Kosten der eigenen Soldaten
einen aussichtslosen Krieg zu führen.
Afghanistan ist und bleibt die Achillesferse
der NATO. Unsere Aufgabe als Friedens-
und Antikriegsbewegung ist es deswegen,
den politischen Preis für die Fortsetzung
des Afghanistankrieges in den jeweiligen
Heimatländern der NATO-Truppen
voranzutreiben. Wir müssen die schweigenden
Antikriegsmehrheiten in den verschiedenen
NATO-Ländern für unüberhörbarem,
breiten und entschiedenen Protest
gegen diesen Kriegswahnsinn aktivieren.
Wenn ein Abzug aus Afghanistan gelingt,
und dies dann bedeutet, dass die Existenz
der NATO gefährdet ist – umso besser,
dann hätten wir es tatsächlich erreicht,
zwei entscheidende Schritte in Richtung
auf eine friedlichere Welt zu gehen.
* Christine Buchholz
gehört zum geschäftsführenden
Parteivorstand der
Partei DIE LINKE
und ist Mitglied im
Kundus-Untersuchungsausschuss
und im Verteidigungsausschuss
des Bundestages.
Die Soziologin und
Religionswissenschaftlerin
Claudia
Haydt ist Mitglied
im Vorstand der
Informationsstelle
Militarisierung
Tübingen.
Aus: Neues Deutschland, 12. November 2010 (Beilage)
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