Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die mächtigste Militärallianz der Erde ändert ihre Strategie - oder tut sie nur so?

Ausgewählte Kommentare der deutschen und internationalen Presse zum NATO-Gipfel 2010 in Lissabon

Im Folgenden dokumentieren wir eine Anzahl von Kommentaren der deutschen und internationalen Presse zum NATO-Gipfel 2010 in Lissabon. Zu Wort kommen folgende Zeitungen:

Die chinesische Zeitung RENMIN RIBAO sieht das Bündnis vor schwierigen Aufgaben:
"20 Jahre nach Auflösung des Warschauer Pakts wird die Zukunft seines Pendants zunehmend in Frage gestellt. Welche neuen Herausforderungen stehen an? Wie soll man diesen begegnen, wie den vielfältigen Interessen der nunmehr 28 Mitgliedstaaten gerecht werden? Der Lissabon-Gipfel ist entscheidend, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Auf jeden Fall muss der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen Angriffe aus dem Internet, Massenvernichtungswaffen und organisierte Kriminalität verstärkt werden", glaubt RENMIN RIBAO aus Peking.


In der norwegischen Zeitung BERGENS TIDENDE ist zu lesen:
"1999 wurde das strategische Konzept der NATO dahingehend geändert, dass Einsätze in Drittstaaten möglich wurden - etwa in Afghanistan. Inzwischen geht es vor allem darum, wie man dort wieder raus kommt, ohne das Gesicht zu verlieren. Obamas Vorgänger Bush hielt die Invasion für einen wichtigen Bestandteil des Kriegs gegen den Terror. Nach fast zehn Jahren Kampf in den afghanischen Bergen geraten immer mehr Amerikaner in Zweifel. Auch für die Europäer wird der Krieg mehr und mehr zur Belastung, und die Finanzkrise hat die Skepsis verstärkt. Selbst in Großbritannien, dem treuesten Verbündeten der USA, fordern die Menschen bereits Einschnitte beim Krieg statt beim Sozialstaat", notiert BERGENS TIDENDE.


Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG führt aus:
"Zwar wird ausgiebig über die neuen strategischen Perspektiven für die NATO, über Bedrohungsformen und Gegenmassnahmen diskutiert, und auf Wunsch namentlich Deutschlands wird man auch über eine Intensivierung der Beziehungen zu Russland reden - als hinge die Sicherheit des atlantischen Bündnisses vom Wohlwollen Moskaus ab. Das größte Problem für die Allianz tut sich aber auf, wenn man die Bündnis-Perspektiven in Beziehung setzt zu den finanziellen Belastungen, mit denen fast alle Mitglieder der NATO zu kämpfen haben. Bisher konnten die zum Teil gravierenden militärischen Defizite auf europäischer Seite, die seit Jahrzehnten bekannt sind und trotzdem nie behoben wurden, mit der Bereitschaft Amerikas kompensiert werden, die Last seines weltweiten Sicherheits-Engagements mit gewaltigen Rüstungsausgaben zu schultern. Man müsste sich freilich schwer täuschen, wenn die enormen Budgetprobleme der USA sich nicht schon bald auf das Verhalten der globalen militärischen Leitmacht auswirken. Wenn Amerikas Bereitschaft, diese Rolle zu spielen, schwindet, wird die NATO in eine wahrhaftige Existenzkrise schlittern", befürchtet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG.


Der Mailänder CORRIERE DELLA SERA geht näher auf das NATO-Mitglied Türkei ein:
"Die dortige Regierung hat - legitimerweise - neue Freunde in Teheran gefunden, in Syrien und im ex-sowjetischen Zentralasien. In Brüssel wie in Ankara schwindet der Glaube, dass das Land dereinst in die Europäische Union eingelassen wird. Und so überrascht es nicht, dass sich Ministerpräsident Erdogan eher wie ein angehender Führer unter aufstrebenden Schwellenländern verhält denn wie ein Chef eines Mitglieds der Nordatlantischen Allianz oder wie ein Aspirant auf eine EU-Mitgliedschaft", findet die italienische Zeitung CORRIERE DELLA SERA.


Die russische Zeitung PRAWDA hebt hervor:
"Das Treffen soll in vielerlei Hinsicht zur Aufrechterhaltung des Dialogs mit Moskau dienen. Eine grundsätzliche Wende in den Beziehungen ist aber nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Man nehme das Raketenabwehrsystem. Washington setzt sich mit diesem mysteriösen Projekt durch und behauptet, es sei ein Allheilmittel gegen irgendwelche Raketen unbekannter Herkunft. Dabei weiß niemand, ob eine Abwehr überhaupt möglich ist, wie russische und amerikanische Systeme zusammenpassen und inwiefern Russland und Europa bereit zur Kooperation sind? Russland ist zudem merklich gereizt, weil die NATO das Territorium der GUS-Staaten als Ausdehnungsfläche betrachtet. Die Allianz sollte verstehen: Jede Ankündigung einer Perspektive für eine Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine wird die russischen Ambitionen kaum mäßigen. Im schlimmsten Fall geht die NATO das Risiko ein, dass Russland sich diese Länder einfach einverleibt", meint die PRAWDA aus Moskau. Damit endet die internationale Presseschau.


Nach Meinung der türkischen Zeitung SABAH hat sich die Allianz mit ihren Gipfelbeschlüssen vom Wochenende zum Weltpolizisten erklärt:
"Die Gefahr wird so dargestellt, dass sie von allen Atommächten Asiens ausgeht. Von Iran bis Nordkorea, von Pakistan bis China. Ja, China, insbesondere China. Denn für die USA ist das Land mittelfristig der größte Konkurrent, besser gesagt, Rivale. Der Verteidigungsminister der Bush-Ära, Donald Rumsfeld, sagte einst, das nächste Gerangel werde im Pazifik stattfinden. Und durch die Erhöhung der Militärausgaben ist China in den letzten fünf Jahren tatsächlich hinter den USA auf Platz zwei vorgerückt. Nur, warum wird dann in Europa ein Raketenschutzschild errichtet?", fragt die Zeitung SABAH aus Istanbul.

Alle Kommentare aus der Presseschau des Deutschlandfunks, 20. und 21. November 2010; www.dradio.de/presseschau


Süddeutsche Zeitung nicht im Bilde

"Die mächtigste Militärallianz der Erde ändert ihre Strategie: Das Bündnis will künftig nicht mehr als globale Ordnungsmacht auftreten - stattdessen soll kollektive Verteidigung im Mittelpunkt stehen."
So beginnt der Hauptartikel in der Süddeutschen Zeitung vom 20. November 2010 über den NATO-Gipfel in Lissabon ("Nato beschließt neue Strategie", von Peter Blechschmidt und Martin Winter). Da muss man sich schon die Augen reiben und in der Hoffnung weiter lesen, dass dies im Folgenden stark relativiert wird. Doch mitnichten. Die SZ fährt fort:
"Die Nato besinnt sich wieder stärker auf ihre ursprüngliche Aufgabe der kollektiven Verteidigung. Dies ist die Botschaft des neuen Strategischen Konzepts, das die Staats- und Regierungschefs der Allianz auf ihrem Gipfeltreffen am Freitag in Lissabon gebilligt haben. "Alle Verbündeten stimmen darin überein, dass das Kerngeschäft der Nato die Verteidigung ist, und das schließt die Abschreckung ein", sagte Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Abend."
Man kann den beiden Autoren nun zu Gute halten, dass sie sich auf die Worte Rasmussens verlassen haben. Besser wäre aber ein Blick in das Strategische Konzept gewesen, das sich dadurch auszeichnet, dass zwar die Verteidigung nach wie vor an erster Stelle genannt wird, dass ansonsten aber der Aktionsradius der NATO die ganze Welt und Anlässe für den Bündnisfall künftig alle möglichen Risiken bis hin zu sog. Cyber-Attacken sind.

Die Süddeutsche behauptet indessen:
"Weitere Gefahren sieht die Allianz in Angriffen auf Computersysteme (Cyber-Attacks) sowie auf Energieversorgung und Handel. Wie die Nato solchen Gefahren begegnen will, muss jeweils im Einzelfall entschieden werden. Den sogenannten Bündnisfall nach Artikel fünf des Nato-Vertrags, der alle Mitglieder zur kollektiven Verteidigung verpflichtet, sollen derartige Attacken nicht auslösen."

Das genaue Gegenteil ist richtig. Cyber-Attacken werden im Strategischen Konzept im Abschnitt "Defence an Deterrence" erwähnt. Dieser Abschnitt wird ausdrücklich mit dem Hinweis auf Art. 5 des Washingtoner Vertrags eingeleitet: "The greatest responsibility of the Alliance is to protect and defend our territory and our populations against attack, as set out in Article 5 of the Washington Treaty." (Ziffer 16) Und in Ziffer 19 werden dann alle Bedrohungen und Attacken aufgezählt, die den Art.5-Mechanismus auslösen können, darunter eben auch, "to prevent, detect, defend against and recover from cyber-attacks, including by using the NATO planning process to enhance and coordinate national cyber-defence capabilities, bringing all NATO bodies under centralized cyber protection, and better integrating NATO cyber awareness, warning and response with member nations;"

Wesentlich skeptischer fällt dagegen der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung aus. Martin Winter ("Zwischen Größenwahn und Katzenjammer") schreibt dort u.a.:

(...) Mit ihrer über sechs Jahrzehnte angesammelten sicherheitspolitischen Erfahrung und mit der erprobten Vernetzung militärischer Apparate fällt der Nato eine zweite Aufgabe zu: Sie muss Gefahren vermessen. Die Nato sollte der Ort sein, an dem die Bündnispartner die Probleme ihrer Sicherheit diskutieren, und wo sie sich am Ende darauf einigen müssen, ob sie die Möglichkeiten des Bündnisses gemeinsam nutzen.
Man sollte sich aber keinen Illusionen hingeben: Häufig wird diese Einigkeit nicht herzustellen sein, denn die Erfahrung zeigt, dass die Alliierten die Risiken auf der Welt sehr unterschiedlich einschätzen. Wo die einen bei der Bekämpfung des Drogenhandels, der Sicherung der Energierouten oder der Verfolgung von Daten-Hackern auf militärische Mittel setzen, sehen andere Aufgaben für die Politik oder die Polizei, bestimmt aber nicht für ein militärisches Bündnis. (...)
Als die US-Regierung nach dem 11.September dem Terror den Krieg erklärte, bezeichnete sie die Nato als einen Werkzeugkasten, aus dem sie sich nach Belieben zu bedienen gedenke. Das haben viele als arrogant und als eine Beleidigung der Europäer empfunden. Dabei sprach die Regierung Bush nur die schlichte Wahrheit aus. Die Nato ist ein Instrument. Eines, das man benutzen kann oder auch nicht. Und das es nur deswegen zu erhalten lohnt, weil es erprobt ist und noch den einen oder anderen guten Dienst leisten wird. Freilich: Gäbe es die Nato nicht, dann müsste man sie auch nicht neu erfinden.


Im Wiener "Standard" werden die Probleme der NATO ebenso wie die der EU auf die knappe Kassenlage zurückgeführt. Die Reform der NATO sei nur der Finanzierungskrise geschuldet, heißt es in dem Kommentar von Thomas Mayer ("Für Europa geht es um alles"). Er fährt fort:

Die Nato, im Gleichschritt auch die Europäische Union, haben eineinhalb Jahrzehnte eines starken Wachstums hinter sich: Einerseits ist die Militärallianz durch Erweiterung nach Osteuropa von 16 Mitgliedern noch im Jahr 1999 auf inzwischen 28 Bündnispartner angewachsen. Die EU hat sich in der gleichen Zeit von 12 auf 27 Mitglieder erweitert. Zusätzlich hat die Union mit der Einführung der Währungsunion einen beispiellosen Akt der Vertiefung gesetzt. Die nächsten Beitrittskandidaten klopfen schon lange an der Tür - in der Nato wie in der EU. Ein Erfolg also.
Genau das markiert eben auch das Problem. Beide Zusammenschlüsse, die Allianz ebenso wie die Union, leiden an den Folgen dieser Umwälzungen, die sie mangels mutiger Reformen im Inneren bisher nur schlecht verdaut haben. Die schönen Worte der wechselseitigen Zuwendung können darüber nicht hinwegtäuschen.
Beispiel Nato: Wenn Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Lissabon optimistisch davon sprach, dass die erneuerte Allianz "Fett wegschneiden und Muskeln" aufbauen werde, um noch effizienter zu sein, dann macht er unfreiwillig genau das deutlich: Die Nato bzw. die Armeen ihrer Mitglieder sind große, unbewegliche, viel zu teure Apparate geblieben. Reformen kommen aus Finanznot.
Die Heere entsprechen nicht den Anforderungen und Gefährdungen, die die moderne Welt für sie bereithält. Das Beispiel Afghanistan, ein "Ernstfall" unserer Tage, zeigt zudem, wie uneinig sich die Partner hinsichtlich des Sinns des Einsatzes sind. Der in Lissabon beschlossene Abzugsplan ist nicht Konsequenz erfolgreichen militärischen Vorgehens, sondern aus der Not geboren, dass viele Staaten so rasch als möglich weg wollen vom Hindukusch.


Die Berliner Zeitung sieht die NATO in einer Sinnkrise. Thorsten Knuf schreibt über den "Gipfel der Selbstbeschwörung" u.a.:

(...) Auch das neue Strategie-Konzept des Bündnisses dient vor allem der Selbstbeschwörung. Das Grundlagenpapier soll beschreiben, was die Nato ist, und wofür sie steht. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist sich das Bündnis dessen nicht mehr ganz sicher. Nun definiert sich die Nato als Allianz, deren Kernaufgabe die gemeinsame Verteidigung bleibt, und die sich zugleich neuen Bedrohungen wie dem Terrorismus, dem Drogenhandel oder Internet-Attacken stellt. Natürlich im Verbund mit anderen Akteuren wie der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen.
Dennoch wird ein kurzes Dokument mit einem Umfang von einem guten Dutzend Seiten nicht ausreichen, um die Sinnkrise der Nato zu beenden und alle 28Mitgliedstaaten dauerhaft auf einen neuen Teamgeist zu verpflichten. Die USA sind unter Präsident Barack Obama zu mehr Multilateralismus bereit. Aber die Frage ist, ob das so bleibt, wenn Obamas innenpolitische Macht weiter schwindet. Die nächsten Konflikte im Bündnis sind ohnehin schon absehbar: Die Allianz will Hauptquartiere schließen und Personal abbauen. Sobald es um das Wie und Wo geht, wird es vorbei sein mit der neuen Harmonie.


Ganz anders wird der NATO-Gipfel und die dort verabschiedete neue Strategie in den linken Tageszeitungen kommentiert. Wir dokumentieren Kommentare aus der "jungen Welt und aus dem "Neuen Deutschland".

Faseln und Fakten

NATO blendet mit »Abzugsplan aus Afghanistan« und bereitet den Einsatz von Kampfpanzern vor

Die NATO-Mitgliedsstaaten wollen auf ihrem am Freitag nachmittag in Lissabon begonnenen Gipfel den »Plan für einen Truppenabzug aus Afghanistan bis 2014« festzurren und eine neue Strategie für die Militärallianz beschließen. US-Präsident Barack Obama versicherte am Freitag, die Afghanen stünden auch nach 2014 »nicht allein da«.

Vor seinem Abflug in die portugiesische Hauptstadt sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP), in Afghanistan werde es »keine militärische Lösung«, sondern eine politische geben. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bezeichnete den Abzugsplan für Afghanistan als »realistisch«. Der Zeitpunkt dieses Abzugs sei jedoch von den Fortschritten beim Aufbau des afghanischen Sicherheitsapparats abhängig, sagte er dem britischen Sender BBC. Der Einsatz ende erst, »wenn die Afghanen in der Lage sind, selbst Verantwortung zu übernehmen«.

In absolutem Widerspruch zu den Äußerungen der Politiker stehen wieder einmal die Fakten. Die US-Armee will einem Bericht der Washington Post zufolge in Afghanistan zum ersten Mal seit ihrem Einmarsch in das Land vor neun Jahren schwerbewaffnete Kampfpanzer einsetzen. In der südafghanischen Provinz Helmand, wo US-Streitkräfte seit geraumer Zeit immer wieder in Gefechte mit Taliban-Kämpfern verwickelt werden, solle eine Kompanie Panzer vom Typ M1 Abrams stationiert werden, berichtete die US-Tageszeitung am Freitag unter Berufung auf einen Armeeangehörigen. Die Panzer sollten »Abschreckung und Feuerkraft« in die Region bringen. Der Militärangehörige gab der Zeitung zufolge zu, daß der späte Einsatz der Panzer von vielen Afghanen und US-Bürgern als Zeichen der Verzweiflung eingestuft werden könnte. Die mit Kanonenrohren von 120 Millimetern Durchmesser ausgestatteten Panzer könnten ein Haus in mehr als eineinhalb Kilometern Entfernung zerstören und daher auf lange Distanz, mit großer Präzision und nach kurzer Vorbereitungszeit gegen Aufständische eingesetzt werden, sagte er dem Blatt.

Aus: junge Welt, 20. November 2010


Militärpakt auf Samtpfoten

Von Peter Strutynski *

Das neue strategische Konzept der NATO ist ein Dokument des Übergangs. Es enthält weder Überraschungen noch wirkliche Neuerungen. Vielmehr werden die Praxis der NATO bestätigt und künftige Einsatzbereiche nur vage angedeutet. Vor allem aber beginnt es mit einer faustdicken Lüge, wenn festgestellt wird, die NATO sehe ihren vornehmsten Zweck in der Verteidigung der Mitgliedstaaten gegen Angriffe von außen. Die hatte es nicht in der Zeit des Kalten Kriegs gegeben, spätestens mit Auflösung des Warschauer Pakts sind sie undenkbar geworden. Seit dem NATO-Gipfel 1991 in Rom galten der Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die militärische Absicherung des freien Welthandels und des Zugangs zu lebenswichtigen Rohstoffen sowie die Sicherung der Energieversorgung als erklärte Ziele des Militärbündnisses. Festgehalten wurde an der Doktrin der atomaren Abschreckung einschließlich des Vorbehalts eines »Erstschlags«. Mit dem Krieg um Kosovo wurde zudem die strikte geografische Eingrenzung des Aktionsradius der NATO auf den atlantischen Raum aufgegeben. Und in Afghanistan zieht die NATO alle Register völkerrechtswidriger Kriegführung.

Die neuen Elemente des Konzepts von Lissabon beziehen sich auf eine erweiterte Bedrohungswahrnehmung. Da sind einmal die »feindlichen« Mittel- und Langstreckenraketen, die das Bündnis erreichen können und gegen die ein gemeinsames Raketenabwehrsystem installiert werden soll. Dafür hatte Kriegspräsident Bush vorsorglich den ABM-Vertrag einseitig gekündigt – eine Maßnahme, die von seinem Amtsnachfolger Obama nicht rückgängig gemacht wurde. Gegen Bushs Raketenabwehrpläne hatte sich Widerstand geregt – nicht zuletzt auch von der Bundesregierung; der neue Plan – in der Sache vergleichbar mit dem alten – wird von den 28 NATO-Staaten abgenickt und erhält den Segen Russlands. Die opponierende Türkei wurde dadurch zufrieden gestellt, dass Iran im Dokument nicht ausdrücklich erwähnt wird. Alle Welt weiß aber, dass der Feindstaat Nr. 1 gemeint ist. Die zweite neue Bedrohung seien Cyber-Attacken, die sich gegen Mitgliedstaaten oder NATO-Einrichtungen richten könnten. Die aufgeregte Debatte, ob ein Militärbündnis die richtigen Instrumente bereithält, um mit dem Problem umzugehen, ist von der Realität überholt: Zwei Tage vor dem Gipfel in Lissabon begannen NATO-Übungen, in denen die Chancen der Reaktion auf mehrfache, gleichzeitig vorgetragene Cyber-Attacken durchgespielt werden.

Die NATO präsentiert sich gern als ein »System kollektiver Sicherheit«, das den grundlegenden Werten von Demokratie, Freiheit und der Wahrung von Menschenrechten verpflichtet sei und auf völkerrechtlicher Grundlage der UN-Charta operiere. Sie kommt auf Samtpfoten daher, bleibt aber ein bis an die Zähne bewaffnetes Bündnis, das 75 Prozent der weltweiten Rüstungs- und Militärausgaben auf sich vereinigt. Ihre scharfen Krallen zeigte sie im Krieg gegen Jugoslawien und seit neun Jahren im Afghanistankrieg. Längst ist aus dem einstigen Verteidigungsbündnis ein Militärpakt geworden, der nach innen Sicherheit verspricht, nach außen aber jederzeit zum Angriff fähig und bereit ist. Die Welt kann erst aufatmen, wenn sich diese Kriegsallianz aus der Geschichte verabschiedet hat. Daran müssen wir arbeiten.

* Der Politologe ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

Aus: Neues Deutschland, 20. November 2010



Zurück zur NATO-Seite

Zur Sonderseite "Die neue NATO-Strategie"

Zurück zur Homepage