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"Zivilbevölkerung, zivile Objekte, Kollateralschäden"

von Claudia von Werlhof

Prof. Dr. Claudia von Werlhof (Universität Innsbruck), die schon im Dezember 1999 beim Tribunal-Hearing in Wien Vorsitzende der Jury war, trat beim Berliner Internationalen (inoffiziellen) Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien am 2. und 3. Juni 2000 als Jury-Mitglied und als Sachverständige auf. In ihrem Beitrag, den wir im Folgenden dokumentieren, befasst sie sich mit der Rolle der Frauen im Krieg.

Hier sind einige Frauen, die von mir eine Stellungnahme erwarten, und ich erwarte die von mir selber auch. Ich bin aktiv in der Bewegung "Mütter gegen den Krieg" und ich bin aktiv in der "Österreichischen Bewegung gegen den Krieg". Wir haben eine Gruppe, die heißt "Alpenweiber". Wir überlegen uns Alternativen zur Globalisierung. Ich bin eine Anti-MAI-, Anti-Neoliberalismus und Anti-WTO-Aktivistin, seit wir davon wissen. Und außerdem bin ich Wissenschaftlerin, eine von den wenigen, die sich überhaupt mit diesen Themen befassen, muß ich zur Scham unserer Zunft mitteilen. Mein Thema ist eine Diskussion zum Bereich "Zivilbevölkerung, zivile Objekte, Kollateralschäden".

Angriffskrieg, das ist der Überfall auf die Unbewaffneten, sich nicht Wehrenden, die Zivilbevölkerung. Wer ist das? Das sind typischerweise Frauen, Mütter, Kinder, Alte, Babys, Kranke. 1999 nannte man ihre Beschädigung und die ihrer Lebensgrundlagen "Kollateralschäden", nämlich "unvermeidliche", angeblich "unbeabsichtigte Nebenschäden", nebensächliche Schäden - übersetzt: an der Seite befindliche, oder am Rande angehäufte, zusammengetragene Schäden, Trümmer am Highway, sozusagen. Nebenwidersprüche.

Am Ende sind es aber die Hauptwidersprüche, die Hauptschäden, nämlich die, die dazu führen, einen Krieg als Angriffskrieg zu definieren, um die Aggressoren anklagen zu können. Ohne das Opfer, das zivile Menschen-, Frauen- und Kinderopfer würden wir hier letztlich auch niemanden vor ein Tribunal holen können, das sich gegen einen Angriffskrieg wendet. Und seit Vietnam sind 80% aller Kriegsopfer weltweit Frauen und Kinder, also auch quantitativ die Hauptopfer. Die Kriege sind also allesamt Angriffskriege geworden und der Mythos vom Krieg Mann gegen Mann ist endgültig dahin. Es gilt also der Opfer zu gedenken und der Umstände, unter denen sie zu solchen wurden.

Wir reden hier zum Inbegriff des sinn- und schuldlosen Menschenopfers. In Kriegen wird das Leben zerstört, das Frauen hervorgebracht und erhalten haben. Das ist der Hauptwiderspruch. Es ist auch der Grund dafür, warum Frauen eine so lange Tradition der prinzipiellen, ja grimmigen Gegnerschaft gegen den Krieg haben. Schließlich waren sie es, die weltweit friedliche Kulturen geschaffen haben, die Jahrtausende überdauerten. Manche Männer haben dagegen eine andere Geschichte: Die der Erfindung des Krieges. Er ist eigentlich eine ihrer Haupterfindungen bzw. die Haupterfindung der herrschenden Männer gewesen. Es ist der Überfall von kriegerischen Horden auf ungeschützte Städte und Dörfer, Männer, Frauen und Kinder, Plündern, Vergewaltigen, Morden, Brennen. Vernichtung der Lebensgrundlagen in Gestalt von Häusern, Feldern, Produktionsanlagen. Die alten Methoden, wie aktuell sie doch sind! Alle Herrschaftssysteme sind auf diesen Grundlagen errichtet worden. Alle Kolonialpolitik und alle imperialistische Politik. Auch das hat sich bis heute nicht geändert. Und wie diese Grundlagen mit Gewalt aufrecht erhalten oder immer wieder hergestellt werden, das haben wir hier gerade gestern und heute auf diesem Tribunal sehen können.

Viele Menschen, insbesondere Männer, haben es sich angewöhnt, die Gewalt und die organisierte Gewalt, den Krieg, als ihr Recht, ihre "Natur", ja ihr Menschenrecht, nämlich das auf Unterwerfung zumindest der Frauen zu handhaben und anzusehen. Es ist ihnen selbstverständlich, wenn nicht heilig. Der angeblich "heilige" oder "gerechte" Krieg wurzelt hierin, und auch das männliche Unschuldsbewußtsein, das "Nicht schuldig!" für die Täter. Der bewaffnete Überfall von ausgebildeten und -gerüsteten High-Tech-Kriegern mit "konventionellen" wie ABC-Waffen auf völlig hilflose Frauen, Kinder und Alte erscheint ihnen keineswegs als das, was er ist, als ein feiger, brutaler, würdeloser Akt, der verabscheuungswürdigste Akt von allen, der absolut größte Tabubruch dem Leben gegenüber. Dieser Akt erscheint ihnen umgekehrt gerade als Heldentat!

Krieg ist Männersache. Daran ändert sich auch nichts, wenn ein paar von uns Frauen solchen Männern zujubeln, ja sogar bei ihnen mitmachen wollen oder mitmachen, wie z.B. Frau Albright, die deswegen auch Frau Everdark genannt wird. Diese Gleichberechtigung ist die größte Verhöhnung der Frauen überhaupt. Es ist wirklich der Gipfel der Verkehrung der Welt, daß man sogar Frauen dazu kriegt, sich aktiv am Krieg als einer Methode zu beteiligen, die ihr eigener Untergang gewesen ist und weiter ist. Denn das ist die neueste Kampagne des westlichen Militärs: Frauen in Uniform. Auch Bomberpilotinnen-Karrieren und die durch Krieg sollen ihnen offenstehen. Warum geht die Gleichberechtigung nicht einmal umgekehrt? Statt daß Frauen auch töten, hören Männer endlich damit auf!

Aber die westlichen Werte, die "Wertegemeinschaft", zu deren Verteidigung wir aufgerufen werden in aller Welt, besteht aus Werten, die das Leben gerade verhöhnen und bedrohen, Werte die dazu führen, daß aus Blut Geld gemacht wird. Werte, die uns höhnisch grinsend sagen: "Ja, was hast Du denn gedacht, um wessen Rechte es sich hier handelt. Etwa die Deinen?" Denn wir leben ja nicht nur in einer Gesellschaft, die auf Gewalt gegründet ist. Wir leben auch im Kapitalismus. Und das bedeutet, daß Gewalt und Krieg nicht nur stattfinden, sondern explizit zum Zwecke der Profitmaximierung stattfinden, als Investition, als Kapitalanlage! Deswegen bin ich Aktivistin gegen das MAI, das "multilaterale Abkommen über Investitionen", den extremsten Ausdruck des Neoliberalismus auf globaler Ebene. Denn dieser Vertrag hätte ein weltweites Recht, gewissermaßen eine Lizenz nicht nur zum Plündern, sondern auch eine Lizenz zum Töten, und zwar aus puren ökonomischen Interessen, dargestellt. Wäre dieser Vertrag unterzeichnet worden, er wäre die globale politische Verfassung einer Kriegswirtschaft gewesen und Menschenrechte hätten dann bedeutet: Die haben nur noch die Investoren. Ihre Objekte dagegen nicht, denn die wären, und das sind wir - sowieso nur der bloße Stoff, aus dem der Profit geschlagen werden soll. Ja, es hätte der Militarismus als der wahre Humanitarismus gegolten, als der wahre Humanismus! Das ist der Gipfel der Globalisierung des Kapitalismus weltweit. Mehr kann es nicht geben. Hier würde nämlich der Angriffskrieg auf das Leben von Menschen, Frauen und Kindern zur täglichen Normalität erhoben, und das weltweit! Nicht nur in den sog. Entwicklungsländern findet dieser Krieg statt, sondern genauso hier. Jugoslawien beweist es, der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.

Alle Regierungen wollten das MAI unterschreiben. Es ist durch den Protest der weltweiten Zivilgesellschaft bisher nicht dazu gekommen. Man müßte aber die Regierungen daher auch dafür anklagen, daß sie den Angriffskrieg zum Normal-Alltag auf der Welt machen wollten und weiter machen wollen!

Und wir wissen, auch der sogenannte friedliche Alltag im Kapitalismus verläuft immer öfter tödlich, auch ohne Bomben. Wenn er nämlich auf der Politik der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des internationalen Währungsfonds bzw. der EU aufbaut. Das ist auch EU-Politik, muß man wiederholen. Diese Politik der brachialen und beschleunigten Umverteilung von unten nach oben, die sich Neoliberalismus nennt, die wollen wir Neokolonialismus, Neodespotismus und Neototalitarismus nennen.

Aber immer gilt, im Krieg wie im sogenannten Frieden, auch die Konsequenzen aus den Kriegen, seien es ökonomische oder politische, die tragen die Zivilbevölkerungen, Frauen und Kinder. Sie sind auch am meisten überlastet in dieser Zeit. Der Wiederaufbau, das Leben unter unzumutbaren Bedingungen organisieren, Umweltvergiftung, Bombengefahr, Improvisieren, aus Nichts etwas machen, bis zum Umfallen arbeiten, keine Hilfe weit und breit. Trümmerfrauen, wann hört das auf? Wann hört es auf, daß Männer durch Gewalt feige, dumm, brutal, gewissenlos, wahnsinnig, krank und jeder Kultur bar gemacht werden, zu "Helden", zu Rambos, wie es neuerdings heißt? Die werden ja geradezu gezüchtet. Und wann hört es auf, daß Kinder mit Drogen dazu gebracht werden, anderen Hände und Füße abzuhacken und mit MGs zu massakrieren, wie kürzlich in Sierra Leone, aber auch in Bosnien und in Jugoslawien? Menschenversuche mit Kindern, Drogenmafia und US-Militärberater im Einsatz. Und alle diese kaputten Menschen, die Jugendlichen und die Männer, denen man die Seele gestohlen hat, die landen am Ende wieder bei ihren Müttern und Frauen. Und was sollen die mit ihnen anfangen? Mit diesen körperlich, geistig und seelisch geschwächten und zerstörten Menschen? Den Frauen wird das alles überlassen: die Realität der Zerstörung. Sie tragen am Ende faktisch die Schäden und damit die faktische Verantwortung für die Folgen, sofern sie noch am Leben sind.

Wenn also hier über Schadensersatz und Entschädigungen geredet wird, falls es sie jemals geben wird, wer anders als gerade Frauen und Kinder hätten Anspruch darauf? Und in welchen Händen könnte er besser aufgehoben sein? Nämlich so, daß es nicht zu einem Wiederaufbau zugunsten derer kommt, die schon an der friedlichen und der kriegerischen Zerstörung Jugoslawiens verdient haben, und nun ein drittesmal zur Kasse bitten, beim Wiederaufbau als Geschäft sogenannter Investoren. Da es vor allem auch Frauen sind, die den tatsächlichen Wiederaufbau der Gesellschaft betreiben, stehen auch ihnen die Mittel zu, die dafür notwendig oder vorhanden sind bzw. irgendeinmal verteilt werden.

Und es sind auch sonst vor allem Frauen, die weltweit überall wieder ökonomische, politische, soziale und kulturelle Alternativen zu konzipieren und vor allem zu praktizieren begonnen haben. Alternativen, in denen es keinen militärisch-industriellen Komplex, keine Waffen, keine Kriege und vor allem keine Menschenopfer mehr gibt.

Weitere Beiträge zum NATO-Tribunal und zum Krieg:

Das Urteil im Wortlaut

Presseerklärung zum Abschluss des Tribunals

Weitere Beiträge zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien

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