NATO nicht belangt
Seit sieben Jahren im Gefängnis: Direktor des serbischen Senders RTS wurde statt Angriffspakt der Prozeß gemacht
Von Tiphaine Dickson *
Dragoljub Milanovic, der frühere Direktor des Senders Radio Television
Serbien (RTS), dessen Zentrale vor zehn Jahren von der NATO bombardiert
worden ist, wurde am 21. Juni 2002 vom Belgrader Bezirksgericht zu
neuneinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er das Gebäude nicht evakuiert
habe. 16 Menschen wurden getötet und ebenso viele verletzt, als am 23.
April 1999 um 2.06 Uhr eine Bombe das Gebäude im Zentrum Belgrads
zerstörte. Milanovic wurde für schuldig befunden, eine amtliche
Evakuierungsanweisung mißachtet zu haben. Aber aus glaubwürdigen Quellen
geht hervor, daß die vor Gericht vorgelegte Anweisung lediglich ein
interner Entwurf ohne Stempel und Siegel war, der zudem nicht
ausdrücklich die Evakuierung verlangte. Es ist nicht ersichtlich, wie
der RTS-Chef von ihrer Existenz gewußt haben, geschweige denn an sie
gebunden gewesen sein soll. Der Urheber der »Anweisung 37« wurde niemals
identifiziert.
Anklage abgewehrt
Milanovic ist bis zum heutigen Tag die einzige Person, die jemals wegen
eines von der NATO begangenen Verbrechens vor Gericht gestellt und
bestraft wurde. 2001 wandten sich sechs Familien, die beim
NATO-Bombardement von RTS Angehörige verloren hatten, mit einer
Entschädigungsforderung an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Sie argumentierten, daß das Recht auf Leben ihrer
Angehörigen von 17 europäischen NATO-Ländern verletzt wurde, da sie die
Verantwortung für die Bombardierung trugen. Das Gericht verfügte, daß es
über die »extraterritorialen« Handlungen der beschuldigten Staaten nicht
urteilen könne.
Ein Ausschuß der Anklagebehörde des Jugoslawientribunals in Den Haag
untersuchte im Mai 1999 Vorwürfe, wonach die NATO im Zuge der Aggression
gegen Jugoslawien Kriegsverbrechen begangen habe, darunter auch den
Angriff auf RTS. Ein Jahr später befreite er die NATO von jeder
Verantwortung für ihre »Fehler«. Wie alle anderen Angriffe rechtfertige
auch der auf RTS nicht die Einleitung von Ermittlungen wegen Verletzung
der Genfer Konventionen oder anderer Rechtsquellen.
Der britische Premier Anthony Blair befürwortete damals den Angriff: »Es
ist sehr, sehr wichtig, daß die Menschen begreifen, daß diese
Fernsehstationen Teil des diktatorischen Apparats von Milosevic sind,
und daß er diesen Apparat benutzt, um diese ethnischen Säuberungen im
Kosovo durchzuführen.« Es gelte, »seine Militärmaschine und den
kompletten Apparat dieser Diktatur ins Visier nehmen. Die staatlich
kontrollierten Medien sind Teil davon, und ich denke, sie sind ein
richtiges und berechtigtes Ziel für uns.« US-Präsident William Clinton
war ebenso deutlich geworden. Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic
benutze das Fernsehen »für die Verbreitung von Haß und Desinformation.
Daher ist es keine Medienanstalt im konventionellen Sinn.« Daß das
RTS-Personal von der NATO willentlich angegriffen wurde, gab der
britische Verteidigungsminister George Robertson unverblümt zu:
»Tatsache ist, daß viele dieser Ziele tatsächlich die Köpfe sind, die
hinter der Brutalität stecken, die heute im Kosovo herrscht, Teil des
Apparats, der den ethnischen Völkermord, der in diesem Teil des früheren
Jugoslawiens passiert, antreibt. Solange das so ist, müssen wir diese
Ziele angreifen.«
Am 29. Juni 1999 berichtete der britische Journalist Robert Fisk, daß
der damalige jugoslawische Informationsminister Aleksandar Vucic per Fax
von CNN eine Einladung zur Live-Schaltung für die Larry-King-Show für
die Nacht des Bombenangriffs erhalten hatte. Laut Fisk wurde Vucic
informiert, daß das Interview um 2.30 Uhr stattfinde und er um zwei Uhr
in der Maske erscheinen solle. Vucic sei, so Fisk, dem Angriff um 2.06
Uhr nur entgangen, weil er sich verspätet hatte. Tatsächlich zeigt eine
mir vorliegende Kopie des Faxes, daß Vucic um 2.30 Uhr für ein um drei
Uhr beginnendes Interview über »die gegenwärtige Situation in der
Bundesrepublik Jugoslawien« -- im Kontext der NATO-Bombardierung eine
rätselhaft vage Formulierung -- in den RTS-Studios eintreffen sollte.
Dubiose CNN-Rolle
Eason Jordan, damals Nachrichtenchef von CNN International, dementierte
Fisks Report verärgert. Vucic habe das Interview zwölf Stunden vor
Beginn abgesagt. Jordan behauptete auch, daß Milanovic die Angestellten
trotz eines drohenden Angriffs gezwungen habe, im Gebäude zu bleiben.
Nach Jordan unterließ Milanovic die Evakuierung, obwohl »die NATO vor
aller Welt ankündigte«, die Studios anzugreifen. Ob Vucic das
Larry-King-Interview absagte oder nicht, ist unerheblich. Fakt ist: CNN
hat letztendlich die Anwesenheit von Vucic und RTS-Mitarbeitern in dem
Gebäude verlangt, von dem »die Welt wußte«, daß es in dieser Nacht
bombardiert werden würde.
Jordan hat sich bis heute nicht zu General Wesley Clarks Behauptung
geäußert, wonach Milosevic (und vermutlich Milanovic) über die
bevorstehende Bombardierung über CNN selbst informiert worden sei. Wenn
man Wesley Clark glauben darf, hat er einem CNN-Reporter »persönlich
telefonisch« mitgeteilt, daß RTS ein Angriffsziel sei, »so daß es zu
Milosevic durchsickern würde«. Entweder hat CNN die Worte des
NATO-Oberbefehlshabers nicht ernst genommen oder aber gezielt versucht
sicherzustellen, daß RTS-Mitarbeiter sowie der jugoslawische
Informationsminister in dem Gebäude sind, von dem CNN wußte, daß es
bombardiert werden wird.
Tatsächlich haben im Prozeß gegen Milanovic 52 Zeugen ausgesagt, daß
dieser keine genauen Kenntnisse von einem NATO-Angriff hatte. Auch
Amnesty International berichtet, daß von ihnen befragte NATO-Funktionäre
bestätigten, es habe keine konkrete Warnung an die jugoslawische
Regierung oder RTS gegeben, weil eine solche ihren Piloten gefährdet hätte.
Neue Vorwürfe
Gemäß Vucics Sekretärin gegenüber dem Belgrader Magazin Nin ließ der
Minister CNN wissen, daß er einem Sender eines der Aggressorstaaten kein
Interview geben würde. Trotzdem habe CNN in den Tagen vor dem Angriff
wiederholt auf das Gespräch gedrängt. Das Fax von CNN, in dem der Termin
detailliert »bestätigt« wird, habe aber Vucic nie zu Gesicht bekommen.
Angesichts der Aussage der Sekretärin, Vucics Mutter Angelina arbeitete
als Redakteurin von RTS in der Nachtschicht im Gebäude, als der
NATO-Angriff stattfand, erscheint Eason Jordans vieldeutige
Unterstellung, Vucic habe den Interviewtermin »abgesagt«, noch
befremdlicher.
Bis heute wurde die NATO nicht für den Tod der 16 RTS-Mitarbeiter zur
Verantwortung gezogen. Milanovic, der sich selbst bis eine halbe Stunde
vor dem Bombenangriff im Gebäude befand, ist eingesperrt für
Kriegsverbrechen, die von der NATO begangen wurden. Die in Serbien
übliche Praxis der vorzeitigen Haftentlassung wird Milanovic verwehrt,
weil neue Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden. Er soll RTS-Mitarbeitern zu
53 Wohnungen verholfen haben. Dem begegnete er mit der Feststellung, es
habe wohl eher 200 bis 300 solcher Fälle gegeben und er sei stolz
darauf. »Die Anklage, die mich anwidert, ist eine Abrechnung mit dem
sozialistischen System, mit dessen Gesetzen im Einklang ich handelte.«
* Die kanadische Anwältin Tiphaine Dickson ist auf internationales
Strafrecht spezialisiert. Sie verteidigte Georges Rutaganda vor dem
Sondertribunal für Ruanda und assistierte dem ehemaligen jugoslawischen
Präsidenten Slobodan Milosevic während seines Prozesses in Den Haag.
Eine englische Langfassung des Artikels erscheint bei
www.counterpunch.org. Übersetzung und Bearbeitung: Cathrin Schütz
Aus: junge Welt, 27. April 2009
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