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Einmischung ja - aber ohne Gewalt

Eine Stellungnahme von Ernst-Otto Czempiel zur Debatte um den NATO-Krieg gegen Jugoslawien

Unter der Überschrift "Vorbeugen, nicht nachkarten - Die Lehren aus dem Krieg um Kosovo: Eine moderne Außen- und Sicherheitspolitik setzt nicht auf die Feuerkraft von Armeen" gab der Frankfurter Politik- und Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel eine sehr interessante Stellunganhme ab, die wir im Folgenden dokumentieren.

Zum Thema haben wir auf unserer Homepage bisher die folgenden Stellungnahmen dokumentiert:

Ernst-Otto Czempiel: Vorbeugen, nicht nachkarten

Die von Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz angestoßene Debatte um die deutsche Außenpolitik ist mehr als überfällig. Seit 1994 marschiert der Westen wieder, leider in die falsche Richtung. Er führt internationale Kriege gegen Bürgerkriege.

In Bosnien-Herzegowina verschob die Nato mit einem kurzen, aber entscheidenden Bombardement das Kriegsglück zu Gunsten der Kroaten, die ihr das jetzt mit der Aufkündigung des Friedensschlusses von Dayton dankten. Mit dem Luftkrieg gegen Serbien griff die Nato in den laufenden Bürgerkrieg im Kosovo ein und besetzte die Provinz, ohne zuvor eine serbisch-albanische Einigung herbeigeführt zu haben.

Hatte der Vertrag von Dayton fünf Jahre lang gehalten, so gingen im Kosovo Bürgerkrieg und Vertreibung weiter, diesmal mit den Albanern als Täter und den Serben als Opfer. Der Bürgerkrieg dehnt sich unter den Augen der Nato bis nach Mazedonien aus. Weil sich die KFOR zum Konfliktpartner gemacht hat, werden ihre Soldaten über kurz oder lang in ihn hineingezogen werden.

Die Gebrauchsanweisung für derlei Einsätze hat die Nato im April 1999 in ihrem neuen strategischen Konzept vorgelegt. Die Militäraktionen der Nato gehorchen also nicht irgendeiner humanitären Not, sondern eigenem Antrieb, dem eine Deutung der Welt und ein bestimmtes Verständnis von Außenpolitik zu Grunde liegt. Es verstößt nicht nur gegen das Völkerrecht, den Nordatlantikvertrag, das Grundgesetz und das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Zivilmacht; dieses Konzept von Außenpolitik ist vor allem erfolglos und teuer. Die Verteidigungshaushalte der Nato-Staaten sind heute höher als in den siebziger Jahren des Kalten Krieges. Tendenz steigend.

Das merkwürdige Phänomen hat nicht nur die bekannten organisationssoziologischen und interessenpolitischen Ursachen, ihm liegt auch ein Lernverzicht zu Grunde. Kämpft das Militär immer den letzten Krieg nach, so bewegt sich die Sicherheitspolitik in den Szenarien von vorgestern. Sie redet zwar gern und dauernd von der Globalisierung, nimmt aber nicht zur Kenntnis, dass die Welt sich wirklich geändert hat. Die Außenpolitik spricht nicht nur, sie denkt auch in den Kategorien der Staatenwelt, in der die Politik von den Regierungen gemacht und der Krieg als Fortsetzung der Politik angesehen wurde.

Aber diesen Kriegstyp gibt es schon lange nicht mehr, er ist mit der Kadenz des Ost-West-Konflikts in den achtziger Jahren weitgehend verschwunden. Von 36 gewaltsamen Konflikten, die im vorigen Jahr registriert wurden, war nur noch einer, der zwischen Eritrea und Äthiopien, ein regelrechter Krieg. Die anderen waren sämtlich Bürgerkriege. Auch in ihnen wird gekämpft, aber aus ganz anderen Gründen und mit ganz anderen Mitteln. Gesellschaften setzen Gewalt ein gegen die sie unterdrückenden Regierungen, gesellschaftliche Gruppen bekämpfen einander.

Dieser Politikwechsel ist die Folge grundlegenden sozioökonomischen Wandels in Europa, der sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts unter der Decke des Kalten Krieges vollzog. Die fünfziger Jahre vermehrten den Wohlstand, der die Ausbildung und die Information der Gesellschaften verbesserte. Die Demokratisierung in Westeuropa stärkte die Rechte der Gesellschaften gegenüber ihren politischen Systemen und verwirklichte damit erstmals politische Erwartungen, die in allen europäischen Gesellschaften vorhanden und aktiv gewesen sind.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit verkoppelte die bis dahin isolierten Staaten miteinander, machte sie von der wechselseitigen Zusammenarbeit abhängig. Gleichzeitig emanzipierten sich große gesellschaftliche Akteure, allen voran die transnationalen Korporationen, aus der territorial fixierten Kontrolle der Regierungen. Durch all diese Prozesse wurden in Euro-Atlantik Fremde zu Nachbarn.

Diese Gesellschaftswelt unterscheidet sich mehrfach, vor allem aber darin von der alten Staatengesellschaft, dass der Krieg funktional keinen Sinn mehr macht und der Staat große Teile seiner Souveränität gegenüber den Nachbarn und seiner eigenen Gesellschaft eingebüßt hat. Die Steigerung von Wohlstand, Einfluss und Macht hängt heute nicht mehr von der Vergrößerung des Territoriums ab, die nur mit Gewalt zu bewerkstelligen oder abzuwehren war, sondern vom Bildungsniveau, der Innovationsfähigkeit und dem wirtschaftlichen Leistungspotenzial.

Nicht Besitz ist gefragt, sondern Zugang. Im Zustand der Interdependenz kann kein Staat mehr verlangen, bei der Regelung seiner "inneren Angelegenheiten" unabhängig und völlig frei zu sein. Die Nachbarn haben ein berechtigtes Interesse an diesen Zuständen, weil sie von ihnen betroffen werden. Verteidigungsminister Rudolf Scharping hatte völlig Recht, wenn er sein Resümee des Kosovo-Konfliktes mit dem Imperativ überschrieb: "Wir dürfen nicht wegsehen."

Die Gesellschaftswelt enthält die Verpflichtung zur außenpolitischen Nachbarschaftshilfe. Das war eine ganz moderne Einsicht. Leider waren die angewendeten Strategien unmodern. Der Nato-Luftkrieg gegen Serbien hat die Gewalttaten im Kosovo zwar beendet, aber keine davon verhindert. Er hat zusätzlich mindestens sechshundert Menschenleben gefordert und die Zerstörung des Kosovo, von der Serbiens zu schweigen, noch verschlimmert. Vor allem: der Konflikt zwischen Serben und Albanern wurde nicht gelöst, nicht einmal in Arbeit genommen. Mit einer veralteten Strategie lassen sich keine guten Ergebnisse erzielen.

Der Westen musste das eigentlich wissen. Die Vereinigten Staaten hatten den Bürgerkrieg in Vietnam sieben Jahre lang mit kriegerischen Maßnahmen bearbeitet. 52.000 amerikanische Soldaten und noch sehr viel mehr Vietnamesen kamen dabei ums Leben - umsonst, wie die Verantwortlichen von damals inzwischen eingeräumt haben.

Fünf Jahre lang hatte die Sowjetunion in Afghanistan die gleiche Erfahrung gemacht. Ihr Versuch, in den afghanischen Bürgerkrieg mit kriegerischer Gewalt von außen einzugreifen, endete ebenfalls mit einer Niederlage. Allerdings wurde der Beschluss der Sowjetunion, solche Interventionen nicht zu wiederholen, mit ihrer Auflösung vergessen. Russland führt in Tschetschenien erneut Krieg gegen den Bürgerkrieg, offenbar ohne Rücksicht auf Verluste. Hier sieht der Westen ganz genau, dass das nicht nur rechtswidrig, sondern erfolglos ist. Warum wendet er diese Erkenntnisse nicht auf seine eigenen Strategien an?

Neue Einblicke

Er könnte noch zwei weitere Lehrstücke studieren. Die Friedenssicherung der Vereinten Nationen in Somalia ging in dem Moment in die Brüche, in dem sie sich mit Hilfe amerikanischer Truppen und ihrer Kampfkraft in den somalischen Bürgerkrieg einzumischen versuchte. Nicht nur mussten die amerikanischen Truppen verlustreich und gedemütigt das Experiment aufgeben. Somalia versank für lange Jahre im eigenen Blut und aus der Aufmerksamkeit des Westens.

Reiches Erfahrungsmaterial enthält das Ende des Ost-West-Konflikts. Der ihm ursprünglich zu Grunde liegende Wettbewerb zwischen dem liberalen und dem kommunistischen Herrschafts- und Gesellschaftssystem war alsbald überlagert worden von der in der Staatenwelt wohl bekannten klassischen Konfrontation zweier Militärallianzen.

Die Rüstungsdynamik zwischen den beiden Lagern dominierte lange Zeit das Verständnis der Konfliktformation. Die Nato deutete sogar das Ende der Konfrontation als ihren militärischen Sieg. Es ist das gute Recht der Politik, sich auch fremde Federn an den Helm zu stecken. Zwar muss man der Allianz bescheinigen, dass sie sich während des Konfliktes zurückhaltend und klug verhalten und unter dem Einfluss der Europäer 1967 die militärische Konfrontation mit einer Entspannungskomponente ergänzt hat. Aber dass Warschauer Pakt und Kommunismus implodierten, verdankte der Westen dem von den Europäern seit 1975 vorangetriebenen Helsinki-Prozess. Er setzte 1975 eine höchst moderne, auf die wirtschaftlich-gesellschaftliche Überlegenheit des Westens gegründete Strategie in Gang. Sie zeigte den kommunistisch regierten Gesellschaften, dass ihre Entwicklungserwartungen in dem demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Westen längst verwirklicht worden waren. Damit war der dem Ost-West-Konflikt zu Grunde liegende Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen wieder aktiviert worden.

Die Staaten des Warschauer Paktes waren im Sachbereich der Sicherheit den Nato-Ländern absolut ebenbürtig. Unterlegen aber waren die kommunistischen Herrschaftssysteme in den beiden Sachbereichen der wirtschaftlichen Wohlfahrt und der Partizipation an der Herrschaft. An der Unfähigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand und demokratische Teilnahme an der Herrschaft in einem zureichenden Maß zu bieten, ist der Warschauer Pakt gescheitert.

Dieses Ende des Kalten Krieges und seine Ursachen zu untersuchen, wäre eine Hauptaufgabe der westlichen Außen- und Sicherheitspolitik nach 1990 gewesen. Gerade weil das Ende so unerwartet, so unkonventionell und so unblutig erfolgte, hätte es als Hinweis aufgefasst werden müssen, dass die europäische Welt sich verändert hatte. Der Umbruch hätte Einblicke in die neuen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse erlaubt, die in der Gesellschaftswelt entstanden waren.

Der Westen hätte lernen können, dass nicht die Feuerkraft von Armeen, sondern der Konsens der Gesellschaften für den Erfolg der Außen- und Sicherheitspolitik maßgebend geworden war. Militärische Fähigkeiten wurden deswegen nicht überflüssig, bleiben als Reserve für den Verteidigungsfall unentbehrlich. Sie sind aber - jedenfalls in Euro-Atlantik - kein Instrument der Politikgestaltung mehr. Sie muss Strategien anheim gegeben werden, die durch die Förderung von Demokratisierung und wirtschaftlichem Wohlstand den Interessen der Gesellschaft dienen und damit deren Konsens erzeugen.

Ein wenig von dieser Einsicht war 1990 durchaus vorhanden, führte auf der Konferenz von Paris im November 1990 zur Verabschiedung der Charta für ein neues Europa, für ein "neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit". Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit wurde als europäische Organisation institutionalisiert. Nato und Warschauer Pakt verabredeten mit dem Vertrag über konventionelle Sicherheit in Europa ein umfangreiches Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Verifikationssystem - ein absolutes Novum auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik.

Aber die Einsicht wurde nicht vertieft. Niemand bemühte sich um eingehende Analysen der politischen Prozesse, die den Kalten Krieg beendet hatten. Welche Folgen daraus für eine moderne Außen- und Sicherheitspolitik unter den Bedingungen der Gesellschaftswelt erforderlich waren, wurde nicht studiert, nicht einmal thematisiert. Die politisch-militärischen Eliten, die den Kalten Krieg geführt hatten, beschränkten sich darauf, die nächsten Jahre schweigend auszusitzen. Als mit der Wende Präsident Bill Clintons 1994 hin zur Nato-Osterweiterung diese Zurückhaltung überflüssig geworden war, stellte diese Elite ihren Führungsanspruch in der gewohnten Form wieder her. Das Fenster der strategischen Erfahrung, das vier Jahre lang ungenutzt offen gestanden hatte, schloss sich wieder.

Damit kamen die vertrauten Strategien der Abschreckung (Nato-Osterweiterung), der Gleichgewichtsbildung (Nato-Russland-Grundakte) und der Gewaltanwendung wieder zur Geltung. Die Demokratisierungspolitik wurde vernachlässigt, die OSZE nach Wien abgeschoben und das vertrauensbildende Netz der KSE, das durch das Wiener Dokument von 1994 noch verstärkt worden war, schlicht vergessen. Am 25. April 2001 feierte das Zentrum für Verifikationsforschung der Bundeswehr sein zehnjähriges Jubiläum und gleichzeitig eine Dekade höchst erfolgreicher moderner Sicherheitspolitik zwischen Ost und West - ohne dass die Öffentlichkeit oder gar die Politik davon auch nur Notiz genommen hätten.

Angesichts dieses Lernverzichts wundert es nicht, dass die westliche Politik gegenüber dem Konfliktphänomen der Moderne, den Bürgerkriegen, so erfolglos bleibt. Inzwischen wird erneut klar, dass die Militärintervention im Kosovo - schrieb Steven Erlanger in der International Herald Tribune -, "wie alle anderen Interventionen der Großmächte auf dem Balkan im vergangenen Jahrhundert möglicherweise mehr dazu beigetragen hat, die Region zu destabilisieren, als sie zu stabilisieren". Es hat also wieder einmal, wie es ein prominenter amerikanischer Diplomat ausdrückte, "die Hoffnung über die Erfahrung triumphiert".

Da die Intervention in Serbien und im Kosovo nun schon zwei Jahre alt ist, ohne dass die Motive und Entscheidungsprozesse diskutiert worden wären, muss man befürchten, dass das systematische Schweigen System hat. Es soll die Gesellschaften an die Wiederkehr der Gewalt als politisches Mittel gewöhnen und jede kritische Nachfrage, vor allem jede Aufwand-Erfolg-Rechnung verhindern. Je weniger diese Negativ-Bilanz analysiert wird, desto eher lässt sie sich vergessen, wenn nach einer Schamfrist ein neuer Interventionsanlass gefunden wird.

Veränderte Umstände

Das dazugehörige Nato-Konzept von 1999 ist nicht revidiert worden, sondern nach wie vor in Kraft. Bei aller Kritik der Europäer diesem Programm gegenüber haben sie einen ähnlichen Auftrag ihren 1999 beschlossenen Krisenreaktionsstreitkräften mitgegeben. Sie sollen die 1992 auf dem Petersberg der Westeuropäischen Union zugewiesenen "humanitären Aufgaben und Rettungseinsätze, die friedenserhaltenden Aufgaben, die Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens" übernehmen - also genau die militärischen Expeditionen, die im neuen Nato-Konzept stehen. Hält die Lernschwäche des Westens an, muss befürchtet werden, dass er sich auch durch den sich abzeichnenden Misserfolg auf dem Balkan kaum von weiteren Expeditionen dieser Art abhalten lassen wird.

Natürlich müssen die Wege, die zum Nato-Luftkrieg gegen Serbien und zur Besetzung des Kosovo geführt haben, auch im Einzelnen untersucht werden. Der Westen hat viele handwerkliche Fehler gemacht; vor allem hat er zugelassen, dass das aussichtsreiche Abkommen zwischen Milosevic und dem amerikanischen Botschafter Holbroke vom Oktober 1998 von der OSZE nicht richtig ausgestattet und von der UCK unterlaufen wurde. Die Konferenz von Rambouillet wurde von den europäischen Mitgliedern der Kontaktgruppe stümperhaft, von den USA durch ihre Bevorzugung der UCK höchst einseitig gesteuert.

Damit stellt sich eine weitere Frage: Wie wird eigentlich im "Westen" Außenpolitik konzipiert und implementiert? Sicherlich nicht als koordinierte Zusammenarbeit zwischen dem Hohen Beauftragten der Europäischen Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und dem amerikanischen Außenminister. Auch nicht in einer organisierten Beziehung zwischen EU und Nato. Zwischen beiden gab es lange Zeit überhaupt keine Beziehung. Die Atlantische Gemeinschaft hat noch immer kein politisches Entscheidungsgremium. Die einzige atlantische Institution ist die Militärallianz, und ihr Monopol wird von Washington eifersüchtig gehütet. Die Entscheidungsprozesse der Nato laufen im Verborgenen ab.

Im Serbienkrieg hat sich gezeigt, dass die von den westlichen Demokratien gebildete Allianz nicht schon deswegen eine demokratische Allianz ist. Wie bei der Europäischen Union führt die sich verfestigende Kooperation der Regierungen zu Institutionen im zwischenstaatlichen Raum, die von den im Nationalstaat verbleibenden Parlamenten nicht mehr kontrolliert werden können. Funktionale Integration enthält die Tendenz zur Entdemokratisierung. In der Europäischen Union wird sie durch die Neigung der Regierungen zu immer mehr intergouvernementaler Zusammenarbeit explizite verstärkt.

In der Nato war das gar nicht nötig, weil sie immer eine Regierungsorganisation gewesen war. Im Kollektiv des Nordatlantikrates verschwindet die Einzelverantwortung der Regierungsvertreter und ihre Rückbindung an die demokratischen Kontrollprozesse zu Hause. Bei der Ausführung der Grundsatzbeschlüsse des Rates durch die Militärorganisation spielt dieser Rat keine Rolle mehr. Wie sich beim Luftkrieg gegen Serbien gezeigt hat, fasst die Nato ihre Entscheidungen in einer Nachtschaltung zwischen dem Pentagon und dem amerikanischen Oberbefehlshaber in Europa. In der Europäischen Union wird über das durch die Integration ausgelöste Demokratiedefizit wenigstens diskutiert, gegenüber der Nato fehlt selbst ein Problembewusstsein.

War während des Kalten Krieges das Demokratiedefizit des Bündnisses nicht aufgefallen, weil der Verteidigungsauftrag evident und seine Ausführung durch die Nato problemgerecht war, so tritt es nach 1990 deutlich in Erscheinung. Die Verteidigungsnotwendigkeit existiert nicht mehr, und der Gewalteinsatz zu humanitären oder politischen Zwecken ist infolge der soziopolitischen Veränderung des operativen Umfeldes nicht mehr erfolgreich. Dass dennoch die während des Kalten Krieges errichteten Institutionen und die von ihnen eingesetzten Strategien unter so gänzlich veränderten Umständen beibehalten werden, zeigt das Hauptproblem des Westens: Er muss, wie er es von 1990 bis 1994 versucht und dann aufgegeben hat, ein modernes Konzept von Außen- und Sicherheitspolitik konzipieren, das den veränderten Bedingungen entspricht und deswegen erfolgreich sein kann.

Theoretisch wird dieser Bedarf von der Politik anerkannt. Hatte Verteidigungsminister Rudolf Scharping richtig darauf hingewiesen, dass Bürger- und Menschenrechtsverletzungen in unserer Nachbarschaft die Einmischung erfordern, so haben die beiden früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker und Herzog mit ihrem Begriff der "Weltinnenpolitik" die jedenfalls in Euro-Atlantik eingetretenen neuen Zustände adäquat beschrieben.

Daraus ergeben sich für die neue Außenpolitik zwei radikale Neuerungen. Ebenso wie in der Innenpolitik Polizei und Feuerwehr nur im Notfall eingesetzt werden, wohnt der militärischen Gewalt nur noch eine Reservefunktion, keine politikgestaltende Kraft mehr inne. Sie ist übergegangen an eine der Innenpolitik ähnelnde Strukturpolitik, die aber nur dann möglich wird, wenn das in der Staatenwelt geltende Interventionsverbot zu den Akten gelegt wird. Die Einmischung der Nachbarn in das Herrschafts- und Politiksystem eines Problemstaates gehört zur Tagesordnung der Gesellschaftswelt. Freilich muss diese Einmischung, wie in der Innenpolitik auch, rechtzeitig und absolut gewaltlos erfolgen.

Dass gegenüber Jugoslawien nicht diese neue Politik, sondern die ganz alte betrieben wurde, bezeichnet das eigentliche Versagen der westlichen Politik. Sie hätte nach Titos Tod 1980 den Zerfall des jugoslawischen Kunststaates und nach 1986, dem Herrschaftsantritt von Milosevic, seine Unterdrückungspolitik im Kosovo und das Aufziehen des Bürgerkrieges vorhersehen können. Warnungen seitens der Fachwelt und der Wissenschaft gab es genug. Stattdessen hat der Westen auf jede Steuerungspolitik verzichtet, um dann, als der Bürgerkrieg im Kosovo 1996 offen ausbrach, mit der militärischen Intervention von 1999 die zweite traditionelle Antwort zu geben.

Dass sich diese "schiefe Schlachtordnung", wie sie schon im 19. Jahrhundert kritisiert wurde, bis heute erhalten hat, zeigt, wie groß der Nachholbedarf der westlichen Außenpolitik ist. 1992 gab der UN-Sicherheitsrat dem Generalsekretär den Auftrag, die Vorbeugung als Konzept und die dazugehörigen Strategien und Instrumente zu entwickeln. Das hat Boutros Boutros-Ghali auch getan.

In den Außenpolitiken der Staaten hat sich indes nichts geändert. Die Tradition und die in ihr eingewurzelte Interessenkonstellation wirken wie Mühlsteine um den Hals der Modernisierung. Noch schwerer zu beheben ist ein gerade in Demokratien auftretendes Handicap. Die "Kultur der Prävention" verlangt von den Politikern, Leistungen zu erbringen, die nicht ihnen, sondern ihren Nachfolgern zugute kommen. Solche Selbstlosigkeit müsste eigens honoriert werden. Vielleicht sogar mit bedeutenden Friedensprämien. Geld genug dazu wäre vorhanden.

Der Hochkommissar für nationale Minderheiten der OSZE Max van der Stoel hat vorgerechnet, dass die acht Jahre seiner Amtstätigkeit, in der er zahllose Minderheitenkonflikte in den osteuropäischen Staaten aufgelöst, also mögliche Gewaltausbrüche vermieden hat, weniger gekostet haben, als der Erwerb von zwei Cruise Missiles. Vorbeugung ist nicht nur besser als Nachkarten, es ist auch preisgünstiger.

Die Instrumente vorbeugender Einmischung sind im Zeitalter der Interdependenz reichlich vorhanden. Wirtschaftliche Vorteile lassen sich an demokratische Reformen knüpfen, wie sie die Europäische Union von den Beitrittskandidaten verlangt. Auslandshilfe sollte prinzipiell nur für konsumentenorientierte Strukturpolitik gegeben werden, Militärhilfe überhaupt nicht. Kredite, wie sie Jugoslawien nach 1980 reichlich bekam, lassen sich mit Bedingungen ausstatten. Partnerschaften zwischen Städten, Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsunternehmen exportieren ganz unpolitisch Normen und Praktiken der Demokratie.

Im Jahr 2000 hat der Westen erstmals die serbische Opposition mit Rat und Tat unterstützt. Prompt war sie erfolgreich. Hätte der Westen schon 1996 geholfen, als die Studenten in Belgrad auf die Straße gegangen waren, wäre Milosevic vielleicht schon damals gestürzt worden. Der Stabilitätspakt für den südlichen Balkan, ebenfalls 1999 von der EU beschlossen (glücklicherweise auf deutsche Anregung hin), ist Vorbeugung pur. Er brauchte nur etwas weniger Organisation und dafür mehr Geld.

Das neue Paradigma vorbeugender Außenpolitik ist also im Kern schon vorhanden, es muss nur noch durchgesetzt werden. Dazu brauchen wir die Debatte. Aus: FR, 09.05.2001

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