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Internationales (inoffizielles) Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien

Pressestimmen

Das Echo in den etablierten überregionalen Medien auf das "Europäische Tribunal" in Berlin war bescheiden bis beschämend. Manche Zeitungen hielten es für richtig, überhaupt nicht zu berichten (z.B. die liberale Süddeutsche Zeitung und der Berliner Tagesspiegel). Andere brachten wenigstens einen Extrakt aus der Presseerklärung, vermischt mit Eindrücken vom Tribunal (Frankfurter Rundschau). Wieder andere (taz) kritisierten die Einseitigkeit des Tribunals. Ausführlicher in Bild und Schrift waren das Neue Deutschland und die junge welt. Wir dokumentieren im Folgenden die wichigsten Meldungen.

In der Frankfurter Rundschau hieß es in einem Artikel von Peter Nowak u.a.:
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Selten ist sie noch zu sehen, die weiße Friedenstaube. Doch auf dem Altar der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche zog sie die Blicke auf sich. Zwei Tage tagte dort das "Europäische Tribunal gegen den Nato-Krieg in Jugoslawien" mit mehr als 300 Teilnehmern. Nach den Vorbild der Russel-Tribunale gegen den Vietnamkrieg wurde es von mehr als 60 Menschenrechts- und Friedensgruppen, darunter der Internationalen Liga für Menschenrechte, medico international sowie die Christlichen Friedenskonferenz vorbereitet. Den Vorsitz hatte der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech. Er hob hervor, dass dem Tribunal ausschließlich um die rechtliche Beurteilung des Krieges gehe. Die Anklage, die der Jurist Ulrich Dost verlas, wirft den Nato-Staaten vor, den Krieg provoziert und durch die Art und Weise der Kriegsführung massiv gegen das internationale Völkerrecht verstoßen zu haben.

Dazu hörte das Tribunal zahlreiche Zeugen, Sachverständige und Gutachter an. Die meisten ihrer Argumentationslinien sind bekannt. So warf der ehemalige DDR-Botschafter in Jugoslawien Ralph Hartmann der deutschen Bundesregierung vor, seit Beginn der 90er Jahre vorsätzlich an der Zerstückelung Jugoslawiens mitgewirkt zu haben. Die Schriftstellerin Diana Johnstone macht geostrategische Überlegungen der US-Regierung für den Krieg Anfang 1999 verantwortlich.

Angeklagt waren die Staatschef und hohen Militärs aller Nato-Staaten sowie alle Bundestagsabgeordneten, die der Intervention zugestimmt haben. Doch keiner von ihnen folgte der Einladung, sich vor dem Tribunal zu verteidigen. So übernahm die russische Juristin Valentina Strauss den Part der Pflichtverteidigung. Die Rolle internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen bei Ausbruch des Krieges sei von der Anklage zu wenig berücksichtigt worden, brachte sie vor. Doch an dem Urteil das Tribunals konnte kein Zweifel bestehen: Die Angeklagten sind schuldig im Sinne der Anklage.

Am nächsten Wochenende tagt unter Vorsitz von Ex-US-Außenminister Ramsey Clark in New York ein ähnliches Tribunal. Im Anschluss sollen die Urteile an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehen. Daran will man festhalten, obwohl vor dem Berliner Tribunal bekannt wurde, dass Den Haag auf eine Anklage gegen die Nato mit der Begründung verzichte, ein bewusster Angriff auf die Zivilbevölkerung sei nicht nachzuweisen. "Das Tribunal in Den Haag", rügte Paech, "ist ein von der Nato finanziertes einäugiges Gremium, vor dem nur die serbischen Kriegsverbrechen angeklagt werden."
Aus: Frankfurter Rundschau, 05.06.2000

Die Berliner taz gab sich weniger zugeknöpft und brachte neben einem eigenen Korrespondentenbericht auch noch ein Interview mit zwei Hauptbeteiligten am Tribunal:

"Wir bereiten den Krieg völlig einseitig auf"
Tribunal-Organisatorin Laura von Wimmersperg und Tribunal-Vorsitzender Norman Paech wollen mit voller Absicht eine radikale Gegendarstellung zum Haager UN-Tribunal

taz: Viele Opfer der Nato-Bomben, die über Jugoslawien abgeworfen wurden, waren albanischer Nationalität. Wie kommt es, dass Sie keinen einzigen Kosovo-albanischen Zeugen haben?

Laura von Wimmersperg: Wir haben uns während des Krieges mit unseren Mahnwachen und anderen Aktivitäten sehr bemüht, Kontakt zu hier lebenden Albanern zu bekommen. Leider haben sich sogar die, die sich auch als Opfer fühlten, immer von uns bedroht gefühlt. Aber wir haben da viel unternommen und müssen uns gar nichts vorwerfen. Zudem gibt es hier in der Stadt eine Gruppe von sehr aggressiven albanischen Akademikern, von denen wir befürchtetet hatten, dass die sich hier einstellen würden. Ich bin sehr froh, dass wir die nicht hier haben. Aber wir machen dieses Tribunal nicht, um die einen oder die anderen als die Guten oder Schlechten darzustellen. Unser Tribunal richtet sich gegen den Völkerrechtsbruch der Nato. Wenn Albaner hätten aussagen wollen, dann hätten wir die selbstverständlich mit dazu genommen.

taz:Auf dem Podium sitzen mehrere Vertreter des "Slawischen Bundes", einer Organisation, die das Vorgehen Russlands in Tschetschenien gutheißt. Wie verträgt sich das mit dem Anspruch Ihres Tribunals, die Menschenrechte zu verteidigen?

Norman Paech: Ich habe das Podium nicht ausgesucht, sondern bin hier genauso eingeladen wie die Vertreter des Slawischen Bundes. Aber das hier ist auch kein Tribunal über Tschetschenien, genauso wenig wie es ein Tribunal über die serbischen Verbrechen ist. Das wir sie hier nicht benennen heißt nicht, dass wir sie nicht zur Kenntnis genommen hätten oder rechfertigten. Wir haben uns hier einer Lücke angenommen, die in der hiesigen Öffentlichkeit besteht und auch weiter bestehen wird - gerade hat Carla Del Ponte, die Vorsitzende des UN-Tribunals in Den Haag, ja erklärt, dass sie sich nicht mit den Kriegsverbrechen der Nato beschäftigen wird. Wir haben also nur eine Kompensationsfunktion. Wir berichten über einen Krieg, der sonst völlig in Vergessenheit geraten würde, und bereiten ihn völlig einseitig auf.

taz:Seit 1991 sind durch die Kriege, die Milosevic Serbien angezettelt hat, in Jugoslawien etwa 160.000 Menschen getötet worden. Im Kosovokrieg gab es nach serbischen Angaben zwischen 2.000 und 10.000 Tote. Planen Sie ein Tribunal gegen Serbien?

Laura von Wimmersperg: Nein, wir planen kein solches Tribunal, wir können als Friedensbewegung so etwas nur einmal leisten. Es geht doch um die Zukunft: Während des Krieges waren wir eine absolute Minderheit. Dabei waren die Menschen nicht für den Krieg, sondern sie waren total verunsichert aufgrund der widersprüchlichen Informationen aus der Presse. Wir wollen die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie dieser Krieg geführt worden ist - und was uns bevorsteht, wenn Kriege in dieser Weise in Zukunft geführt werden.

Norman Paech: Ich habe einen anderen Grund: Das Den Haager Tribunal untersucht die serbischen Kriegsverbrechen in Kroatien, in Bosnien und im Kosovo. Ich bin sicher, dass wird eine umfassende Untersuchung werden. Wir versuchen nur, mit schwächsten Mitteln auch zu sehen, was die Nato dort getan hat.
INTERVIEW: RÜDIGER ROSSIG
Hinweise:
Laura von Wimmersperg ist seit Jahrzehnten in der Ostermarschbewegung engagiert. Sie bezeichnet sich als "Moderatorin der Friedenskoordination Berlin".
Norman Paech lehrt als Völkerrechtler an der Universität Hamburg.
Aus: taz, 05.06.2000

Der kritische Bericht über das Tribunal (Autor: Rüdiger Rossig) in der taz liest sich dann so (Auszüge):

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Die Form eines Tribunals, eines Gerichtsverfahrens, hat sich als Instrument zur Schaffung von Gegenöffentlichkeit spätestens seit dem Russell-Tribunal der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung bewährt. Es wird seither routiniert gehandhabt - auch als schlichtes Propagandaforum.
In der Heilig-Kreuz-Kirche hängt hinter dem Podium das Symbol des Verfahrens: Ein schwarzer Keil mit der roten Aufschrift "Tribunal" zerschlägt das Emblem der Nato. Im Park gegenüber spielen ein paar Flüchtlinge Boccia - sie seien Überlebende der serbischen Lager in Bosnien, sagen sie dem fragenden Journalisten. Vom Tribunal wissen sie nichts. Es kümmert sie auch nicht.

Wer ist in der Kirche? Die größte Gruppe auf Podium und im Publikum der Veranstaltung sind grauhaarige Herren, von denen viele mit sächsischem oder Thüringer Akzent sprechen. Auf Platz zwei folgen Post-Hippies zwischen zwanzig und vierzig. Hinzu kommen auffällig adrette, meist slawisch sprechende Frauen und Männer verschiedenen Alters - Diplomaten der jugoslawischen Vertretung in Berlin, serbische Journalisten und Vertreter der Anti-Nato-Tribunale des "Bundes der slawischen Staaten". Die älteren dieser Russen, Ukrainer und Weißrussen, an deren Revers Embleme der ehemals kommunistischen Parteien stecken, sprechen das Publikum schlicht als "tovarishi" - Genossen - an. Auch ansonsten hat sich ihr Vokabular seit 1989 wenig weiterentwickelt: Im Zentrum der Beiträge stehen der "Kampf gegen den US-Imperialismus" und "für den Weltfrieden".

Norman Paech, der Vorsitzende des Tribunals, umreißt das Vorhaben knapp: "Hier geht es ausschließlich um die rechtliche Verantwortung für einen Krieg, der zum ersten Mal nach 1945 mit maßgeblicher und führender deutscher Beteiligung gegen ein Nachbarland geführt worden ist." (siehe Interview oben)
Das Wort hat der Ankläger: Ulrich Dosts in der Anklageschrift vertretene Auffassung zur Nato im Allgemeinen und zu ihrer Rolle im Kosovo im Besonderen ist genauso klar wie die der "tovarishi" aus Moskau, Minsk, Kiew oder Belgrad. (siehe: www.nato-tribunal.de). Vor zwölf Jahren war Dost Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik. Dass er nun wieder in diese Rolle schlüpft, schulde er dem Umstand, so sagt er, dass in der Bundesrepublik "die normalen Gerichte versagen".

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Zeugen aus Jugoslawien sind da, denen die deutsche Botschaft in Belgrad erst in letzter Minute Visa ausgestellt hat. Es geht um "Kollateralschäden" - im Nato-Sprachgebrauch der Begriff für versehentliche Angriffe auf zivile Objekte in Jugoslawien.
Marijana Brudar, eine Postangestellte aus der Kosovo-Hauptstadt Priđtina, weint vom ersten bis zum letzten Wort ihrer Aussage. Sie berichtet, wie ihre Kinder beim Kaugummi kaufen von einer Nato-Bombe getroffen wurden. Ihr Leben im Kosovo sei vorher ruhig und normal gewesen - bis auf die ständigen Überfälle der "điptarski teroristi". "Điptar", eine Verballhornung des albanischen Wortes für Albaner, "Shqiptar", ließe sich auf deutsch etwa mit "Kanacke" für Ausländer oder auch "Itzig" für Jude vergleichen. Die Simultan-Übersetzer übergehen den Fauxpas. Das Publikum applaudiert der Zeugin lange. Sie setzt sich wieder zu den Herren von der jugoslawischen Vertretung in Berlin.

Der nächste Zeuge heißt Milan Simonovic und ist Arbeiter. Simonovic hat den Nato-Angriff auf einen Personenzug überlebt. Ruhig, sehr sachlich berichtet er von der Reise, vom Angriff, von den Glasscherben und von einem Mann, dem beide Beine abgerissen wurden. Wieder Applaus, jedoch verhalten.

Der Journalist Milos Markovic war an dem Abend, als die Nato den serbischen Staatssender Radio Televizija Srbije (RTS) angriff, dort Chef vom Dienst. RTS war und ist ein Hauptherrschaftsinstrument Milođevic. Der Sender verbreitet mit Vorliebe Horrormeldungen über Gräueltaten der Feinde Serbiens. Mit den Worten und der Intonation des erfahrenen Journalisten berichtet Markovic, wie er und seine Kollegen an jenem Abend das RTS-Nachrichtenprogramm vorbereiteten - "im Gegensatz zu den Propagandisten der CNN wie immer objektiv". Das Publikum klatscht, bis die Hände schmerzen.

Auch eine Verteidigung gibt es, doch. Markovic und die anderen Zeugen sind bereits von den schwarzen Mercedessen der jugoslawischen Botschaft abgeholt worden, als Valentina Strauss aus Nowosibirsk zu Wort kommt - in bester Tradition unwilliger, bestellter Pflichtverteidiger. "Ich kann hier nicht die Verbrechen verteidigen", so die Anwältin, "sondern nur die Angeklagten." Am Aggressionskrieg der Nato könne kein Zweifel bestehen. Nur: Daran seien auch die UNO, die OSZE und das Internationale Rote Kreuz mit schuldig, die nicht rechtzeitig auf eine friedliche Konfliktbeilegung gedrängt hätten. Punkt. Die Jury tagt. Das Urteil ist, angesichts des Sinns des Tribunals, Formsache: schuldig.
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Welchen Zweck hat das Tribunal erfüllt? Die Anwesenden sahen sich bestätigt. Die jugoslawische Regierung wird die Solidarität im Lager des Feindes zu schätzen wissen. Die Chance zu kritischer Auseinandersetzung wurde allerdings dank der selbst gewählten Einseitigkeit vertan.
Aus: taz, 05.06.2000

Anders die Berichterstattung in der jungen welt. Neben einem redaktionellen Artikel findet sich hier auch als Dokumentation das Urteil des Tribunals im Wortlaut. Im Folgenden der Artikel von Rüdiger Göbel:

»Sie haben unser Leben zerstört.« Nicht die ausgefeilte umfangreiche Anklageschrift des Berliner Rechtsanwalts Ulrich Dost, nicht die lehrreiche Eröffnungsrede des Völkerrechtlers Prof. Norman Paech und wohl selbst nicht der Schuldspruch am Ende bewegte die Teilnehmer des Europäischen Tribunals über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien so wie die Schilderung von Marjana Brudar. Erst am Freitag mittag hatte sie zusammen mit sechs weiteren Überlebenden der NATO-Angriffe im vergangenen Jahr von der deutschen Interessenvertretung in Belgrad nach langem Hin und Her die notwendigen BRD-Einreisevisa erhalten, um in Berlin als Zeugin aussagen zu können.

Marjana Brudar berichtete am Samstag detailliert den mehreren hundert Anwesenden sowie dem Tribunalgericht, ins Leben gerufen von der Friedensbewegung in Europa, über einen Angriff der NATO unweit von Morina, bei dem ihre Tochter, ihre Nichte sowie 86 weitere Kinder ums Leben gekommen waren. Während des Krieges und danach habe sie zudem streßbedingt zwei Fehlgeburten gehabt, erzählte die junge Frau unter Tränen. »Ich möchte, daß Blair an meine Mutter denkt, die ihre Enkeltochter zerfetzt in einer Plastiktüte entgegennehmen mußte«, schloß Brudar ihre Zeugenaussage.

Die Übersetzerin Irena Dinic berichtete über die Bombardierung eines Belgrader Krankenhauses am 20. Mai, wo sie ihre Tochter Jelena als Frühgeburt per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte. Vier Menschen waren bei diesem Angriff ums Leben gekommen. »Ich hatte überlebt und wurde zusammen mit meiner Tochter in ein anderes Hospital gebracht.« Die Angst sei aber geblieben, »wenn mich die NATO-Bomben in diesem Krankenhaus ereilten, warum dann nicht auch in einem anderen«.

Der Schaffner Milan Simonovic schilderte die Bombardierung des Personenzuges in Grdelica, der Journalist Milos Markovic den Angriff auf das RTS-Gebäude in Belgrad und der Arzt Dejan Sumrak die NATO-Attacke auf sein Krankenhaus in der jugoslawischen Hauptstadt. Djordje Ivic bezeugte einen Angriff mit Splitterbomben auf das Dorf Kosovska-Vitina. Sein elfjähriger Sohn Danilo hatte dabei beide Beine sowie ein Auge verloren. »Wir haben alles verloren und wissen nicht, wie wir die Bedingungen wiederherstellen können, unter denen wir zuvor gelebt haben«, schloß der Kosovo-Vertriebene. Spontan sammelten die Tribunalteilnehmer 1 400 DM für die notwendig gewordenen Beinprothesen seines Jungen.

Ein kleiner Ausschnitt nur dessen, was die NATO bei ihrem 78 Tage und Nächte andauernden Bombardement in Jugoslawien angerichtet hatte, war an diesem Samstag in der Berliner Kirche zum Heiligen Kreuz zu hören. Doch nicht von Emotionen oder der Moral wollte sich die zehnköpfige Richterjury des Tribunals bei der Urteilsfindung leiten lassen. Kriterien seien einzig »die internationalen Normen, die sich die Staaten selbst zur Regelung ihrer Beziehungen untereindander gegeben haben«, erklärte der Vorsitzende des Verfahrens, Prof. Norman Paech. Diese seien in internationalen Konventionen festgehalten und daher nachprüfbar. Vor allem aber gälten sie für alle Staaten gleich. Vom Tribunal behandelt würden schließlich nur jene Anklagen, die keine Aussicht hätten, vor dem Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen verhandelt zu werden. Tatsächlich hatte die Chefanklägerin des Haager Tribunals, Carla del Ponto, erst am Freitag vor dem UN-Sicherheitsrat in New York erklärt, daß es keine »hinreichende Grundlage für Ermittlungen gegen die NATO« gebe.

Deutlicher hätte die Notwendigkeit eines »Tribunals von unten« nicht formuliert werden können. Die Berliner Versammlung wurde von Friedens- und Menschenrechtsgruppen aus mehr als 15 europäischen Ländern initiiert. Vorbild waren die Russel-Tribunale gegen den Vietnamkrieg Ende der 60er Jahre. Vor einem Jahr hatten sich Organisationen und Parlamentarier zusammengefunden, um die Verantwortlichkeit der Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten sowie ihrer Militärs für ihre Verbrechen beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien vor einem »Gericht der Völker« zu benennen. Im Vorfeld gab es Tribunalveranstaltungen und Hearings in Berlin, Hamburg, Rom, Oslo, Kiew, Athen, Belgrad und anderen europäischen Städten.

Neben den Zeugen aus Jugoslawien hörte das Tribunal in Berlin zahlreiche Sachverständige zum Thema, darunter den ehemaligen DDR-Botschafter in Jugoslawien, Ralph Hartmann. Er führte aus, daß die NATO den Krieg mit »lang gehegten Vorsätzen gegen Jugoslawien geführt« habe. Die Bundesregierung könne für sich nicht reklamieren, in den »Krieg hineingeschlittert zu sein, wie man uns weismachen will«. Die Pariser Publizistin Diana Johnstone zeigte die geopolitischen Hintergründe des Krieges auf. Diese seien nicht allein auf dem Balkan zu suchen, vielmehr reichten sie bis tief in den Kaukasus. Prof. Ernst Woit und Prof. Claudia von Werlhof refererierten zum Komplex »Kollateralschäden« und Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die NATO-Aussage, in Diktaturen gebe es keinen Unterschied zwischen militärischer und ziviler Infrastruktur, habe ganz Jugoslawien zum legitimen Angriffsziel erklärt. »Das haben sich nicht einmal die Hitlerfaschisten getraut«, so Woit.

Dr. Ljiljana Verner von der medizinischen Hochschule Hannover und Mitglied der Ärztevereinigung IPPNW sprach über die Folgeschäden eingesetzter geächteter Waffen, insbesondere der Munition mit abgereichertem Uran. Der Krieg sowie die zehnjährigen Sanktionen hätten in Jugoslawien eine »medizinische Katastrophe« angerichtet. Paech würdigte die bisherige Arbeit der »Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges« über die krankmachenden Folgen der Uran- Munition insbesondere im Irak und forderte dazu auf, das Kosovo in die Untersuchungen mit aufzunehmen.

In ihren Schlußplädoyers forderten die Vertreter der Anklage die Verurteilung der Beschuldigten. Der französische Rechtsanwalt Pierre Kaldor umriß die Dimension des Tribunals mit wenigen Worten: »Die Antwort des Gerichts ist der Zukunft verpflichtet«. Der bulgarische Völkerrechtler und Spiritus rector der Tribunalbewegung, Prof. Welko Walkanoff, meinte, »alle Angeklagten sind strafrechtlich verantwortlich für die Aggression gegen Jugoslawien«. Doch auch diejenigen, die der NATO ihre Logistik für den Angriff zur Verfügung gestellt hätten, seien schuldig.

Warum Berlin der richtige Ort für das europäische Tribunal sei, führte Rechtsanwalt Ulrich Dost aus. »Deutschland hatte die Chance zu zeigen, daß es die Lehren aus zwei Weltkriegen gezogen hat. Sie wurde nicht gezogen.« Trotz des im NATO-Krieg zutage getretenen Rechtsnihilismus gelte es, das Grundgesetz zu verteidigen und alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die Angeklagten auch vor einem ordentlichen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. »Recht muß der Macht vorgehen und nicht die Macht vor dem Recht«, so Dost.

Erwartungsgemäß waren die Angeklagten weder persönlich noch in Vertretung zum Tribunal erschienen. Das Gericht sah sich mithin gezwungen, eine Pflichtverteidigerin zu benennen. Daß mit der Rechtsanwältin Walentina Strauss in Berlin ausgerechnet eine Russin zur Verteidigerin der NATO wurde, war eine Spitze der besonderen Art. Nach den vorliegenden Fakten handele es sich beim Krieg auf Jugoslawien zwar eindeutig um eine Aggression. Strauss betonte in ihrer Verteidigungsrede allerdings die Mitschuld der UNO, der OSZE und des Internationalen Roten Kreuzes, die nicht rechtzeitig Maßnahmen zur friedlichen Konfliktlösung ergriffen hätten. Überdacht werden müsse darüber hinaus die Moral von Gesellschaften, die dazu in der Lage seien, ihre Soldaten gegen Länder in den Krieg zu schicken, die ihnen nichts getan hätten.

Auch wenn die Verteidigung »durchaus mit Eleganz« (Paech) vorgetragen wurde, das Urteil der Jury war am Samstag abend einstimmig: Schuldig im Sinne der Anklage.



Das Urteil im Wortlaut

Presseerklärung zum Abschluss des Tribunals

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