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"Times": EU will Quotenregelung für Flüchtlinge

Mitgliedsländer äußern Kritik an den Plänen der EU-Kommission / London: Vorhaben Junckers "Bedrohung für die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union" *

Flüchtlingsrechtler blicken mit Skepsis auf die Verteilungs-Quote, die die EU-Kommission demnächst vorschlagen will. Angesichts der »Pegida«-Atmosphäre in Osteuropa sei ein behutsames Vorgehen nötig, meint der tschechische Experte Martin Rozumek.

London. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen will die Europäische Kommission laut einem Zeitungsbericht eine neue Quotenregelung für eine gerechtere Lastenverteilung vorschlagen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wolle das Vorhaben, ein »verpflichtendes Quotensystem bei der Einwanderung« einzuführen, am Mittwoch vorstellen, berichtete die britische Zeitung »The Times« in ihrer Montagsausgabe. Demnach müssten Lasten für die Versorgung von Migranten in Notsituationen zwischen den 28 EU-Mitgliedstaaten verteilt werden.

»Um eine faire und ausgeglichene Beteiligung aller Mitgliedstaaten an diesen gemeinsamen Bemühungen sicherzustellen (...), benötigt die EU ein permanentes System für die Aufteilung der Verantwortung für große Zahlen von Flüchtlingen und Asylsuchenden«, zitierte die Zeitung aus einem entsprechenden Papier. Die Verteilung der Flüchtlinge solle nach einem Verteilungsschlüssel erfolgen, der auf dem Bruttoinlandsprodukt, der Bevölkerungszahl, der Arbeitslosenquote und der früheren Zahl von Asylbewerbern der Mitgliedsländer beruhe.

Laut »Times« will Juncker außerdem erreichen, dass die EU künftig zusätzlich jährlich 20.000 Asylbewerber ansiedelt, die von den Vereinten Nationen benannt werden. Derzeit gilt in der EU das Prinzip, das Migranten nur in dem Mitgliedsland Asyl beantragen können, wo sie zuerst angekommen sind. Dies führt zu einer überdurchschnittlichen Belastung der Mittelmeer-Anrainer wie Italien, Griechenland und Malta.

Das britische Innenministerium weist Junckers Vorhaben dem Bericht zufolge zurück. »Das Vereinigte Königreich hat eine stolze Geschichte des Asyls für diejenigen, die es am nötigsten brauchen, aber wir glauben nicht, dass ein verpflichtendes Ansiedlungsprogramm die Antwort ist«, erklärte ein Ministeriumssprecher. London werde sich gegen jegliche derartige Vorhaben in Brüssel stellen. Die EU solle sich stattdessen auf die Bekämpfung von Schlepperbanden konzentrieren.

In einem Leitartikel schrieb »The Times«, Junckers Vorhaben sei eine »direkte Bedrohung für die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union«. Unter Druck der anti-europäischen Strömung im Land hatte der konservative Premierminister David Cameron versprochen, die Einwanderung in Großbritannien stärker zu beschränken. Außerdem will er nach dem Wahlsieg seiner Tories am Donnerstag die Bedingungen für die britische EU-Mitgliedschaft neu verhandeln, bevor spätestens Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abgehalten werden soll.

Traum oder Alptraum für Flüchtlinge?

Martin Rozumek blickt mit einiger Sorge auf die Pläne der EU-Kommission. »Ich hoffe, dass das nicht für viele Menschen zum Alptraum wird«, sagt der Rechtsanwalt. »Stellen Sie sich vor, jemand flieht unter Lebensgefahr durch Libyen und über das Mittelmeer. Und am Ende landet er an einem Ort wie Bukarest oder Sofia. Wo er keine Perspektiven hat, niemanden kennt, bei den Bürgern nicht sehr erwünscht ist.«

Rozumek leitet die Flüchtlingsorganisation OPU mit Sitz in der tschechischen Hauptstadt Prag. Gerade hat er in Brüssel mit einer Reihe von Politikern über Migrationsfragen diskutiert. Es ging dabei auch um die von Juncker vorgeschlagene Quotenregelung. »Das ist alles andere als eine Patentlösung«, sagt Rozumek zweifelnd.

In einigen Ländern, auch in Tschechien, sei die Ausländerfeindlichkeit zu hoch für eine konfliktfreie Ansiedlung der Menschen, befürchtet Rozumek. Die Regierung in Prag hat bereits vor Wochen Widerstand gegen Junckers Quote signalisiert. Große Vorbehalte gibt es auch im östlichen Nachbarland Slowakei und erst recht in Ungarn. Auch die baltischen Länder sind skeptisch. Während auch einige westliche EU-Länder sehr kritisch gegenüber Flüchtlingen sind, sitzen die meisten Abschotter derzeit im Osten der EU.

Dabei hat die dortige Debatte mit realen Problemen nur bedingt zu tun. In Tschechien etwa beantragten 2014 gut 1.000 Menschen Asyl, darunter rund 100 Syrer und noch weniger Iraker. Doch das reichte, um für Aufregung zu sorgen, vor allem in sozialen Internetmedien. Die Staatsspitze selbst goss Öl ins Feuer. Tschechien müsse die islamische Bedrohung abwehren, warnte Staatspräsident Milos Zeman im vergangenen Jahr: »Das ist eine schräge Fläche, auf der man immer weiter abrutscht!«

Das Klima in Tschechien und anderen östlichen EU-Ländern sei der »Pegida«-Atmosphäre in deutschen Städten nicht unähnlich, erklärt Rozumek. »Es ist offenbar die Angst vor dem Unbekannten. Die meisten Bürger kennen selbst keine Muslime, sie lesen über sie in der Zeitung.« Bei vielen Menschen herrsche das Gefühl: Wer weiß, wer da über Italien in die EU kommt? Armutsmigranten, gar Islamisten?

Der Terroranschlag von Paris im Januar verschärfte die Sorgen, ebenso die Horror-Propaganda des Islamischen Staates. Viele Bürger im Osten der EU fühlten sich auch einfach selbst benachteiligt, erklärt eine Mitteleuropa-Expertin der EU-Kommission in Brüssel. »Sie sind der Meinung, dass sie nach den entbehrungsreichen Jahrzehnten erst einmal selbst dran sind mit ein bisschen Wohlstand.«

Im Fall Tschechiens fände er es sinnvoller, das Land würde mittels humanitärer Visa und Arbeitsvisa einige Menschen bei sich aufnehmen, sagt Rozumek. Damit wäre die Akzeptanz wohl etwas größer als bei einer EU-Zuteilung: »Die Bürger brauchen das Gefühl, dass ihre Regierung kontrolliert, wie viele Menschen kommen und wer genau das ist.« In jedem Fall brauche es viel mehr Geld für Integrationsprojekte.

Doch es gibt auch Fachleute, die dafür plädieren, dass die östlichen EU-Länder sich jetzt einen Ruck geben und zumindest eine kleinere Zahl Menschen über das EU-Verteilsystem aufnehmen sollten. »Fünfzig bis hundert Flüchtlinge würden das Rückgrat Estlands nicht brechen«, wirbt etwa der estnische Politikanalyst Ahto Lobjakas in der Zeitung »Postimees«. »Sie wären aber ein mächtiges Argument für unsere Zugehörigkeit zu Europa!« Gerade im Konflikt mit Russland sei diese Zugehörigkeit sehr wichtig, unterstreicht er.

EU-Kommissionspräsident Juncker möchte ohnehin nicht alle EU-Länder gleich belasten, sondern die Wirtschaftskraft, die Bevölkerungsgröße und die Arbeitslosigkeit berücksichtigen. Es gehe zunächst einmal darum, ein europäisches Zuständigkeitsgefühl herzustellen, argumentiert der Luxemburger. »Es ist klar, dass wir mit den anderen EU-Staaten Solidarität zeigen müssen«, sagte auch die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma in der vergangenen Woche.

* Aus: neues deutschland, Montag, 11. Mai 2015


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