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Flucht in die Armut

Am heutigen Weltflüchtlingstag steht der deutsche Umgang mit Asylsuchenden vor Gericht

Von Markus Drescher *

Am heutigen »Welttag des Flüchtlings« (20. Juni) verhandelt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über das Asylbewerberleistungsgesetz - eine Regelung, die verdeutlicht, dass Flüchtlinge keinen Gedenktag brauchen, sondern Anerkennung, Hilfe und gleiche Rechte.

»Italienische Rettungseinheiten haben am Dienstag nach einem Schiffbruch vor der apulischen Südspitze acht vermisste Flüchtlinge gesucht. Ein mit einem Dutzend Nordafrikanern besetztes Boot war sechs Seemeilen vor der Küste untergegangen«, meldete am Dienstag die dpa unter Berufung auf eine italienische Agentur. Fast täglich laufen solche Nachrichten über den Ticker.

Wie viele Menschen unbemerkt beim Versuch sterben, auf der Flucht vor Gewalt, Hunger und den Folgen des Klimawandels irgendwie nach Europa zu gelangen, weiß niemand. Schätzungen für das Jahr 2011 schwanken zwischen 1500 Toten im gesamten Mittelmeer (UNHCR) und 2200 Toten allein in der Straße von Sizilien (Italienischer Flüchtlingsrat).

Diejenigen, die es auf das Gebiet der Europäischen Union schaffen, die sich mit Hilfe der paramilitärischen Grenztruppe Frontex abzuschirmen versucht, werden sofort wieder abgeschoben oder landen in Lagern. Auch in der Bundesrepublik, wo Flüchtlinge nur selten dezentral in eigenen Wohnungen untergebracht werden. Hinzu kommen die zahlreichen Sondergesetze für Asylsuchende, wie die Residenzpflicht, die nur in einigen Bundesländern gelockert, nicht jedoch abgeschafft wurde, oder das Asylbewerberleistungsgesetz.

Heute wird vor dem Bundesverfassungsgericht darüber verhandelt, ob dieses Gesetz verfassungsgemäß ist, das Flüchtlingen nicht einmal den normalen Hartz-IV-Satz zugesteht. Laut Deutschem Kinderhilfswerk erhalten zum Beispiel sechsjährige Flüchtlingskinder derzeit Leistungen in Höhe von 132 Euro pro Monat und damit 47 Prozent weniger, als einem gleichaltrigen Kind mit deutschem Pass nach Hartz IV zusteht.

Weltweit gibt es über 42 Millionen Flüchtlinge und nur ein Bruchteil davon gelangt in reiche Industrieländer wie Deutschland. 80 Prozent der Flüchtlinge werden von Entwicklungsländern aufgenommen. »Es sind oft die Menschen in bettelarmen afrikanischen Ländern, die die größte Solidarität mit den Opfern von Kriegen und Verfolgung zeigen«, so Oliver Müller, Leiter von Caritas international.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. Juni 2012

Unwürdig

Von Uwe Kalbe **

Eine Voraussage, wie das Bundesverfassungsgericht demnächst urteilen wird, birgt nicht allzu viel Risiko. Die Zuwendungen zum Lebensunterhalt von Flüchtlingen sind zu gering, da kann kein Zweifel bestehen. Wenn Karlsruhe den Hartz-IV-Regelsatz 2010 als Rechtsverstoß bewertet hat, muss das für den ungleich niedrigeren und willkürlich bestimmten Satz für Flüchtlinge, der seit 1993 nicht verändert wurde, erst recht gelten. Wenn Flüchtlingskinder nur zwei Drittel der Zuwendungen erhalten, die ihren deutschen Altersgefährten als Mindestleistung zugestanden werden, verstößt das gegen die Kinderrechtskonvention der UNO.

Nicht also die Rechtslage birgt Diskussionsbedarf. Vielmehr ist es die Frage, wieso der Gesetzgeber, wieso die Politik sich der dringenden Anpassung so hartnäckig verweigert. Wieso es erneut die Karlsruher Richter sind, die Reparaturbedarf feststellen, dem gegenüber die Bundesregierung in wechselnder Besetzung immer mit der gleichen Blindheit geschlagen ist.

Es ist müßig, die kleinlichen Argumente über falsche Anreize und Überforderung von Sozialsystemen zu wiederholen, die hier gewöhnlich ins Feld geführt werden. Angemerkt sei nur, dass der Vorwurf des staatlichen Rassismus, der gewöhnlich Entrüstung weckt, wenn es um die befördernden Gründe von Nazigewalt gegenüber Migranten geht, genau hier eine seiner Ursachen hat.

Die Menschenwürde, Grundrecht und Verfassungsgut, wird allzu gern außerhalb Deutschlands verteidigt. Doch dazu kann man getrost hier bleiben. Am Tag des Flüchtlings und an jedem Tag.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. Juni 2012 (Kommentar)



Folter oder Flucht

Geschichten aus dem Lager Mai-Aini

Von Philipp Hedemann, Mai-Aini ***


Eritrea im Nordosten Afrikas gehört zu den wichtigsten Herkunftsländern von Flüchtlingen. Wer von dort kommt, der flieht vor Folter oder dem Tod - und landet oft in dem Flüchtlingslager Mai-Aini, in der Region Tigray in Nordäthiopien.

»Ich wollte nur noch weg. Weg oder sterben«, flüstert Yonas. Yonas ist nicht gestorben. Er ist weg. Weg aus Eritrea, weg aus einem der ärmsten und brutalsten Länder der Welt. Jetzt lebt er im Flüchtlingslager Mai-Aini im Norden Äthiopiens. Doch angekommen ist Yonas noch nicht. Er ist immer noch auf der Flucht. Yonas ist einer von Millionen Flüchtlingen weltweit.

Nach Schätzungen des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen sind weltweit 43,7 Millionen Menschen auf der Flucht. Mit dem heutigen Weltflüchtlingstag will die UNO auf das Schicksal der Vergessenen aufmerksam machen.

Yonas liegt auf dem festgestampften Lehmboden, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Beine angezogen. »So haben sie mir im von den Italienern erbauten Foltergefängnis Arme und Beine zusammengebunden. Stundenlang. Sie nannten es ›otto‹, Italienisch für ›acht‹, weil der Körper eine Acht bildet«, sagt Yonas mit kaum wahrnehmbarer Stimme. Narben an seinen Hand- und Fußgelenken zeugen noch heute von den Qualen.

Immerhin hat der 36-Jährige noch beide Hände. Einem Mithäftling sind nach dem Blutstau, der durch die bestialische Fesselung verursacht wurde, beide Hände abgefault. Yonas landete im Foltergefängnis, weil er nach 14 Jahren Wehrdienst desertierte und versuchte, nach Sudan zu fliehen. Nach einem Jahr und zwei Monaten Haft war er körperlich gebrochen - doch sein Wille, dem totalitären Regime von Präsident Isayas Afewerki mit seinem nie endenden Militärdienst zu entfliehen, war fest.

Yonas rannte erneut davon, versteckte sich vier Monate im Haus seines Onkels in der eritreischen Hauptstadt Asmara, dann wagte er einen zweiten Fluchtversuch. Diesmal mit einem Menschenschmuggler, »Pilot« genannt. 50 000 Nakfa, 2500 Euro, verlangte der Schlepper. Freunde, denen die Flucht bereits gelungen war, schickten das Geld über informelle Kanäle aus Schweden, den USA und der Schweiz nach Asmara.

Tagsüber versteckten Yonas und der Schlepper sich in Höhlen, nachts liefen sie zwischen Landminen und eritreischen Grenzsoldaten, die ohne Warnung scharf schießen. Sie erreichten den Merebe-Fluss, die Grenze zu Äthiopien. Dort gab Yonas dem »Piloten« seine Hälfte eines in der Mitte durchgerissenen Nakfa-Scheines. Die andere Hälfte hatte Yonas' bester Freund in Eritrea behalten, ebenso wie die Prämie für den Schleuser. Erst wenn der Schlepper ohne Yonas, aber mit der passenden zweiten Hälfte des Scheines zurückkehrte, sollte er die 50 000 Nakfa bekommen.

Als der Schleuser den Rückweg antrat, durchquerte Yonas den ausgetrockneten Grenzfluss, wurde von äthiopischen Soldaten aufgegriffen und ins Flüchtlingslager Mai-Aini im äthiopischen Hochland gebracht.

Drei Jahre ist das her. »Ich kann nicht schwimmen und die Boote nach Italien sinken oft. Seitdem Gaddafi gestürzt ist, glauben die Revolutionäre, wir seien seine Söldner gewesen und töten uns. Wer es über den Sinai nach Israel versucht, trifft oft auf Banditen, die uns töten, um unsere Organe zu verkaufen. Für eine Niere soll es Tausende Dollar geben. Mein Freund Ambesajer hat gesagt, ich soll es nicht versuchen. Zu gefährlich«, sagt Yonas. Er bleibt. Vorerst.

Habtu Russom jedoch erschienen die Verheißungen des Lebens im Westen größer als die Risiken der Flucht. Sieben Jahre lang versuchte der 30-jährige Informatikstudent zu fliehen. Immer wieder landete er in Foltergefängnissen, mehrmals wäre er beinahe gestorben, einmal hätte er es fast ins vermeintliche Paradies geschafft. Fast.

Bei seinem vorerst letzten Versuch, nach Europa zu gelangen, überquerte Russom zu Fuß die sudanesische Grenze. Auf der anderen Seite traf er auf Menschenhändler. 300 Dollar, 240 Euro, die er sich von seiner Familie geliehen hatte, zahlte er den Schmugglern, damit sie ihn in die sudanesische Hauptstadt Khartoum bringen. Dort werde er gut bezahlte Arbeit finden oder könne die Reise nach Europa fortsetzen, hatten die skrupellosen Geschäftemacher ihm erzählt. 24 Männer und Frauen, die auf das Versprechen reinfielen, pferchten sie auf der Ladefläche eines Toyota zusammen. Die menschliche Schmuggelware deckten sie mit einer Plane ab und rasten mit den blinden Passagieren jenseits der Hauptstraßen gen Westen, nach Khartoum.

Nur 23 der 24 Passagiere erreichten das erste Ziel ihrer Odyssee lebendig. »Eine Frau erstickte unter der Plane. Sie hieß Tsigue. Sie war 24 Jahre alt«, erzählt Russom. Mit anderen Schmugglern ging es bis nach Libyen. Dort sollte das Schlimmste noch kommen. In der Nähe der libyschen Küstenstadt Zliten ging Russom nachts an Bord eines schrottreifen Fischerboots. 518 andere Flüchtlinge will er gezählt haben.

Nach rund 20 Stunden Fahrt geriet das völlig überladene Boot in einen Sturm und in Seenot. Weil der irakische Kapitän und seine drei Besatzungsmitglieder kein Wort Englisch sprachen, war es Russom, der per Funk einen Notruf absetzte. »Nach mehreren Stunden kamen endlich Schiffe. Doch sie hatten Angst vor uns. Erst als die Frauen die Babys in die Höhe hielten, nahmen sie uns an Bord«, erinnert sich Russom, der schon fest damit gerechnet hatte, auf der Flucht zu ertrinken.

2009 gelang ihm erneut die Flucht. Diesmal blieb er im Flüchtlingslager in Äthiopien. Die Odyssee durch die Wüste und übers Meer will er nicht noch einmal wagen. Wie die anderen rund 15 000 Bewohner des Flüchtlingslagers Mai-Aini hofft er, dass der eritreische Diktator Isayas Afewerki irgendwann gestürzt wird und er in ein demokratisches Eritrea zurückkehren kann.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. Juni 2012


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