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Deutschland verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen EU-Recht

UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR): Freie Wahl des Wohnsitzes für Flüchtlinge

Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) kritisiert die Praxis deutscher Behörden, anerkannten Flüchtlingen und Personen, die aus menschen-rechtlichen Gründen vor Abschiebung geschützt werden (sog. subsidiär schutzberechtigte Personen), keine freie Wahl des Wohnsitzes zu ermöglichen, wenn sie öffentliche Sozialleistungen beziehen. Diese Maßnahme sei "unvereinbar mit dem Völker- und Europarecht".

In einer heute veröffentlichten (Stellungnahme (externer Link) betont die UN-Organisation, entsprechende Auflagen für die Betroffenen würden gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie andere Menschenrechtsverträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen EU-Recht verstoßen.

Dort sei neben Diskriminierungsverboten für die betroffenen Personengruppen das Recht auf Freizügigkeit verankert worden. Nach der GFK könne man die Freizügigkeit nur dann beschränken, wenn die entsprechende Regelung gleichermaßen für alle Ausländer in Deutschland mit ähnlichem Aufenthaltstitel gelten würde, was gegenwärtig nicht der Fall sei. Darüberhinaus sind nach der EMRK Beschränkungen nur unter eng gefassten Bedingungen zulässig – z.B. um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, Verbrechen zu bekämpfen oder zum Schutz der Gesundheit.

Hintergrund der Stellungnahme ist die in vielen Bundesländern gängige Praxis, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär geschützten Personen einen Wohnsitz nur in dem jeweiligen Bundesland, dem Bezirk oder dem Landkreis zu ermöglichen, in denen die Aufenthaltserlaubnis ausgestellt wurde. Selbst eine entsprechende Beschränkung auf einzelne Gemeinden hat es mancherorts schon gegeben.

Begründet wird dies durch das Ziel, eine unkontrollierte Binnenwanderung von ausländischen Sozialhilfe-Empfängern zu verhindern. Vermieden werden soll so eine Verschiebung der hierdurch entstehenden Kosten bei Ländern und Gemeinden.

Das neue UNHCR-Gutachten betont hingegen, diese Absicht könne nicht die Anwendung der EMRK-Ausnahmeregelungen rechtfertigen. Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit dürften laut Europäischem Menschenrechtsgerichtshof nur dann erfolgen, wenn ein so genanntes "zwingendes soziales Bedürfnis" vorliege. Der Eingriff müsse ferner dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit gerecht werden.

Dabei ist laut UNHCR zu berücksichtigen, welch schwerwiegender Eingriff die Beschränkung der Wohnsitzfreiheit für die Betroffenen bedeute. Die Maßnahme könne im Einzelfall lebenslang greifen. Sie sei umso gravierender, je kleiner der mit der Auflage zugewiesene Raum für die Wohnsitzwahl sei. Erhebliche Auswirkungen würden sich u.a. bei der Arbeitsplatzsuche ergeben sowie unter familiären und sozialen Aspekten, zum Beispiel, wenn im Krankheitsfall oder bei der Verarbeitung traumatisierender Ereignisse die hiervon Betroffenen nicht in Nähe der weiteren Familie oder von Landsleuten wohnen könnten.

Daneben bezweifelt UNHCR, ob überhaupt mit einer Beschränkung der Wohnsitzauflage eine Verschiebung der Sozialhilfelasten in relevantem Umfang verhindert werden könne. Denn die örtliche Zuständigkeit für Sozialhilfe hänge nach deutschem Sozialrecht teilweise vom tatsächlichen Aufenthaltsort des Leistungsberechtigten ab. Zudem würden die anfallenden Kosten seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Reformen in erheblichem Umfang vom Bund getragen.

Zu bedenken sei ferner, dass durch den Finanzausgleich innerhalb der Bundesländer Kommunen für die bei ihnen verbleibenden Ausgaben bereits entlastet und darüber hinaus Kosten durch den Bund-Länder-Ausgleich kompensiert würden. Der Eingriff in die Wohnsitzfreiheit stehe auch aus diesem Grund nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem zu erreichenden Zweck, heißt es abschließend in dem UNHCR-Gutachten.

Veröffentlicht am Freitag, den 10. August 2007

Quelle: www.unhcr.de

Vehaltenskodex Furcht

Von Uwe Kalbe *

Das Wohnortdiktat ist eine aus der langen Reihe zweifelhafter Regelungen des Umgangs mit Flüchtlingen in Deutschland. Nach dem parteiübergreifend weithin gebilligten Grundsatz, dass nützliche Ausländer hier willkommen seien, nicht aber solche, die uns »ausnützen«, ist das Zuwanderungsgesetz erfunden und in diesem Jahr noch verschärft worden. EU-Richtlinien, von Deutschland auf europäischer Ebene erst mit der nötigen Schärfe versehen, wurden bei der Umsetzung in nationales Recht den international verankerten Standards nochmals entfremdet.

Die Zuweisung eines Wohnorts für ausländische Sozialhilfeempfänger aus Gründen einer angeblich übersichtlicheren Verwaltung ist eine nur schlecht verhohlene Variante des Generalverdachts, dass Ausländer nichts anderes im Sinn hätten, als die Sozialkassen zu plündern. Sie ist die Kehrseite der Residenzpflicht für nicht anerkannte Flüchtlinge und geduldete Ausländer, die in wenig anheimelnden Asylunterkünften mit der Aussicht auf die eigene Abschiebung in Furcht gehalten werden.

Das UNHCR hat mit seiner Kritik mehr als den einen Verstoß gegen völkerrechtliche Regeln ins öffentliche Bewusstsein gerufen. Das Zuwanderungsgesetz verdiente es, in weiteren Verästelungen auf seine Rechtmäßigkeit geprüft zu werden. Das Problem ist nur, dass Menschen unter seiner Wirkungshoheit oft weder über die nötigen Möglichkeiten noch über eine genügend einflussreiche und liquide Lobby verfügen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2007 (Kommentar)



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