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Aus Deutschland wandern viele Migranten in die Türkei ab

Von Thomas Blum *

Die »qualifizierten Zuwanderer«, die man in Deutschland ausschließlich haben möchte – ob nun Deutscher oder einst hierzulande verschmähter »Ausländer« – gehen auch gerne woandershin.

Als Migrant hat man es in Deutschland für gewöhnlich nicht leicht; es sei denn, man gebärdet sich deutscher als die Deutschen selbst. Doch das dürfte bislang den wenigsten gelungen sein.

Der Statistik zufolge wandern mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei als aus der Türkei hierher. »Abzüglich der Einwanderer« seien 6000 Migranten, darunter nicht wenige »Deutsche mit türkischen Wurzeln«, im vergangenen Jahr aus Deutschland in die Türkei »abgewandert«, meldet die »Süddeutsche Zeitung«.

»Der Begriff ›Abwandern‹ vermittelt einen völlig falschen Eindruck«, sagt dazu ein deutschtürkischer Journalistenkollege, der in Westdeutschland als Kind sogenannter Gastarbeiter aufgewachsen ist, in Berlin Politikwissenschaft studierte und heute als Redakteur einer überregionalen Tageszeitung arbeitet. »Dass es Abwanderung gäbe – im Sinne von ›dauerhaft‹ –, ist eine falsche Annahme. Es liegt in der Natur der Sache, dorthinzugehen, wo es leichter fällt, eine berufliche Existenz aufzubauen. Eine deutschtürkische Freundin von mir, gut ausgebildet und mehrsprachig, ist kürzlich in die Türkei gegangen. Sie sagte mir, vielleicht bleibe sie da, vielleicht gehe sie aber auch demnächst nach Dubai.« Es seien auch Andere, die Deutschland verlassen: »Blutsdeutsche«, wie der Kollege Deutsche mit deutschen Eltern gerne scherzhaft zu nennen pflegt. »Blutsdeutsche, die jung, dynamisch, flexibel und mehrsprachig sind, gehen ja auch woanders hin.« Und, sagt er, es seien »ja nicht die Rütli-Schüler, die gehen.« Während der 60er und 70er Jahre, als viele »Gastarbeiter«, zumeist Türken, hierherkamen und die Unternehmen und Betriebe auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen waren, war fortwährend das Stammtischgenörgel des deutschen Kleinbürgers zu vernehmen. Auch die Politiker bedienten die Ressentiments: Der »Ausländer«, zumeist Türke, sei faul, integrationsunwillig und nehme Einheimischen die Arbeit weg. Auch unter Zeitgenossen, die alles andere als ausländerfeindlich waren, herrschte häufig die groteske Vorstellung vor, Einwanderer seien nicht etwa Einwanderer, sondern »Gäste« auf Zeit, die man bei Bedarf jederzeit nach Gebrauch wieder in ihrem Herkunftsland abgeben kann.

Heute dagegen beschwert man sich darüber, dass gut ausgebildete Deutschtürken – die zumeist aus sogenannten »Gastarbeiterfamilien« stammen, die man damals nicht dauerhaft im Land haben wollte – in die Türkei und andere Länder auswandern.

Das Geschrei ist groß: Dem deutschen Staat entgingen Millionen Euro Steuern. Es werde »Humankapital verschleudert«, hieß es bereits letzten Herbst in der Springer-Postille »Die Welt«. Man habe die Leute schließlich hierzulande ausgebildet, und nun gingen sie frecherweise in andere Länder. Man stelle sich das mal vor: Ausgebildete Leute gehen in andere Länder! Da schau her! Die kapitalistische Konkurrenz ist eine wundersame Sache!

Die Bundesagentur für Arbeit und deutsche Unternehmen scheinen an anderer Stelle mit dieser Tatsache kein Problem zu haben – etwa wenn sich tausende deutsche Firmen in der Türkei niederlassen und dort Geschäfte machen. Oder wenn es darum geht, ausländische Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Wenn hochqualifiziertes »Humankapital« aus dem Ausland zu uns kommt, scheint man damit einverstanden zu sein. Unzufrieden ist man nur, wenn es weggeht. Auf »Spiegel online« wird beklagt, dass oft »fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache« der Grund dafür seien, dass Facharbeiter aus dem Ausland nicht nach Deutschland kommen.

Bedenkt man, dass sich Leute wie unser Außenminister oder der EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) trotz offenbar mangelhafter Kenntnisse der englischen Sprache beruflich mit großer Regelmäßigkeit im englischsprachigen Ausland aufhalten, sollte man vielleicht auch hierzulande nicht mehr ganz so streng sein, was Deutschkenntnisse angeht. Und mit den Deutschkenntnissen der »blutsdeutschen« Bevölkerung ist es ja, um es mal vorsichtig zu sagen, auch nicht so weit her.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Juli 2011


Deutschland wirbt Fachkräfte ab

Von Sebastian Carlens **

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die südosteuropäischen Länder treiben immer mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit, darunter auch Berufsgruppen wie Ärzte, Informatiker und Ingenieure – Fachkräfte, an denen in Deutschland Mangel herrscht. Allein in Spanien liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 20 Prozent; bei jungen Menschen ist sie gar doppelt so hoch. Auf eben diese Folgen der Krise setzt nun auch die Bundesagentur für Arbeit, die gezielt um qualifizierte Zuwanderer aus den mit am stärksten von der Schuldenkrise betroffenen europäischen Ländern Spanien, Griechenland und Portugal werben will. »Es gibt ein großes Potential in Spanien«, teilte die Direktorin der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV), Monika Varnhagen, der Zeitung Die Welt am Montag mit: »Tausende von Ingenieuren sind arbeitslos, auch IT-Spezialisten.« Laut Varnhagen seien 17000 Spanier grundsätzlich an einer Arbeit in Deutschland interessiert. Auch in Griechenland und Portugal sondiere die ZAV derzeit, sagte Varnhagen weiter. So gebe es in Portugal ein großes Interesse von Pflegekräften, nach Deutschland zu kommen. Auch für griechische Mediziner sei Deutschland attraktiv.

Deutliche Kritik an der Anwerbung ausländischer Fachkräfte übt der Deutsche Pflegerat, der dieses Vorgehen als moralisch bedenklich einstuft. Verbandspräsident Andreas Westerfellhaus sagte den Zeitungen der WAZ-Gruppe (Dienstagausgaben), grundsätzlich sei zwar jede Pflegekraft aus dem Ausland in Deutschland willkommen, wenn sie qualifiziert sei und die Sprache beherrsche. »Ich finde es aber zutiefst unethisch und unmoralisch, wenn wir die Pflegekräfte dort abwerben«, fügte er hinzu. Auf diese Weise würden Lücken in die Versorgung der anderen Länder gerissen. Es sei vielmehr Aufgabe der Politik, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, sagte Westerfellhaus.

** Aus: junge Welt, 19. Juli 2011


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