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Das Schengen-Regime stürzen!

Von Helmut Höge *


Helmut Höge, Jg. 1947, beschäftigt sich seit Januar fast ausschließlich mit den arabischen Aufständen (siehe dazu seine Blogeinträge »Kairo-Virus«). Anfänglich ging es ihm darum, seine innere Unruhe, hervorgerufen durch okzidentalen Liebeskummer, mit der äußeren Unruhe im Orient nach Art kommunizierender Röhren gewissermaßen auszubalancieren, d.h. aushaltbar zu machen. Inzwischen ist daraus eine ernsthafte Beschäftigung mit den islamischen Ländern bzw. Kulturen entstanden. Absurderweise nahm mit jedem Erkenntnisgewinn die Zahl seiner Blog-Visitors ab. Dafür machte er die Entdeckung, daß es so gut wie keine arabisch-islamische Schriftstellerin gibt, die nicht über »Liebeskummer« schreibt, was ihm allerdings so gut wie gar nicht half.


Den linken Intellektuellen fällt zur Unterstützung der arabischen Aufständischen bisher nur die Forderung nach Öffnung der Schengen-Grenze ein, mindestens ein Überdenken der bisherigen Abschottung Europas gegenüber den islamischen Orientalen. »Die Demokratiebewegungen inNordafrika bieten die Chance für einen Neuanfang«, heißt es z.B. in einem Appell von »medico.de«. Ein Sprecher der Bundeswehr hatte jedoch schon 1998 gegenüber der interessierten Öffentlichkeit die neue »NATO-Verteidigungsdoktrin« dargelegt: »Sie ist nicht mehr nach Rußland hin angelegt, die russischen Soldaten haben inzwischen dieselbe Einstellung zum Krieg wie wir auch – sie wollen nicht sterben! Ganz anders sieht es jedoch bei den Arabern aus, mit dem Islam. Deswegen verläuft die neue Verteidigungslinie jetzt auch« – ratsch! zog er hinter sich eine neue Landkarte auf – »etwa hier: zwischen Marokko und Afghanistan«.

Während der arabischen Aufstände seit Anfang 2011 äußerten nicht wenige Politiker öffentlich: Man müsse die inzwischen etwa 90000 jungen tunesischen, marokkanischen, libyschen und ägyptischen Flüchtlinge, die es nach Italien und Spanien geschafft haben, jetzt erst recht alle zurückschicken, da sie beim demokratischen Aufbau ihrer Länder »dringend« gebraucht würden. Populationstheoretiker wie der FAZ-Autor Gunnar Heinsohn widerlegen sie: Sie werden aufgrund des enormen »Youth-Bulge« dort gerade nicht gebraucht. Deswegen müßten in der EU Ausbildungsplätze oder Ähnliches für sie geschaffen werden. Die arabischen »Boat-People« sind jedoch bereits alle »ausgebildet«. Aber die Vagheit dieses Vorschlags ist symptomatisch.

Die Gruppe »bordermonitoring.eu« berichtet in ihrem August-Heft »Tunesien – zwischen Revolution und Migration«, daß sie kürzlich während einer Solitour durch das Land zusammen mit Gleichgesinnten dort herausfinden wollten: »Ist es gemeinsam möglich, die Installierung eines neuen Wachhund-Regimes, wie es die EU derzeit versucht, zu verhindern oder jedenfalls zu stören?«

In ihrer Broschüre lassen die drei Flüchtlings-»Netzwerke« u.a. den Arabienkenner und Mitarbeiter einer Pariser Antirassismusgruppe Bernard Schmid zu Wort kommen. Dieser berichtet, daß die derzeit zwischen Italien, Belgien und Frankreich trotz Schengen-Visa hin und hergeschobenen tunesischen »Boat-People« in Marseille auf »spontane Solidarität« stießen. Sie besetzten einige leere Häuser, wurden geräumt und suchten bzw. fanden neue »Notunterkünfte«. Es wurden Nahrungsmittel besorgt und gemeinsam gekocht – vor allem viel zusammen dsikutiert. »Dabei fiel die Verständigung nicht leicht. Es gab kaum eine gemeinsame Sprache. Handy-Videos von den Demonstrationen in Tunesien konnten für Momente eine Brücke schlagen. Aber nicht nur die Sprache war das Problem. Viele der Neuangekommenen waren zum ersten Mal weg von zu Hause, die wenigsten waren vorher politisch organisiert; anarchistische Selbstorganisation und Plenumskultur war für die meisten fremd und zweitrangig. »Ich bin nicht hier, um tagelang zu diskutieren – ich will Arbeit finden!« sagte Nasser am Rande einer Versammlung. Inzwischen sind »viele weitergereist, andere wieder zurück. Wer freiwillig ging, dem wurde [von staatlicher Seite] ein Ticket und 300 Euro mit auf den Weg gegeben.«

Wie viele von den arabischen Flüchtlingen es bis jetzt in die BRD geschafft haben, weiß man nicht. Unter 80 Millionen sind einige tausend auch nicht leicht auszumachen – obwohl hier der Verfassungsschutz sich bemüht, sämtliche Muslime zu überwachen. Gerade warnten die Innenminister vor »potentiellen islamistischen Terroristen: Mitte 20, männlich, gefährlich«. Die über die Türkei in die EU einsickernden Muslime will die griechische Regierung jetzt mit einer ähnlichen Grenzanlage wie in den USA (nach Mexiko) und in Israel (zu den Palästinensergebieten hin) abhalten. Der griechische Widerstand dagegen ist schwach. Dort kämpft man gerade gegen den ganzen halbbankrotten Staat. Zudem haben die orientalischen Männergesellschaften – spätestens seitdem man keine Gastarbeiter mehr braucht und ihre Länder nur noch als Öllieferanten und Urlaubsorte – keinen guten Ruf in Europa. Man läßt sich hier zudem nicht gerne als »Ungläubige« beschimpfen, gar bekämpfen, noch weniger die Frauen als »unreine Schlampen«. Selbst die hiesige Linke verspricht sich nicht viel von den arabischen Aufständen. Sie befürchtet mehrheitlich, daß nur die »Muslimbruderschaften« davon profitieren werden, spätestens dann, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert – nicht zuletzt dadurch, daß die Westkonzerne sich dort gründlich »einbringen«. Kurzum: Die anfängliche Begeisterung für die Aufstände ist einem »skeptischen Realismus« (Goethe) gewichen. Und hat es nicht Jahrzehnte gebraucht, bis sich z.B. die Flüchtlinge aus Somalia in Italien so weit »integriert« hatten, daß es für die Frauen nicht mehr selbstverständlich war, als fleißige Schwestern ihre trägen Brüder mitzuversorgen, als Putzfrauen, Hilfsarbeiterinnen oder Prostituierte, wie der somalische Schriftsteller Nuruudin Farah berichtete.

Aus Tunesien, Marokko etc. sind bis jetzt vornehmlich junge Männer nach Europa gekommen. Das macht das Flüchtlingsproblem nicht einfacher – im Gegenteil. Die EU muß in wenigen Jahren nachholen, wozu Rußland bzw. die Sowjetunion Jahrhunderte gebraucht hat: ein einigermaßen erträgliches Miteinander von Muslims und Christen/Kommunisten zu schaffen, wobei es auch dort immer wieder zu Pogromen, Islamverboten und öffentlichen Entschleierungen der Frauen kam (nicht unähnlich denen der Franzosen im Algerienkrieg). Umgekehrt kommt es noch heute in einigen islamischen Ländern gelegentlich zu Pogromen gegen Christen. Und hatte nicht Osama bin Laden in einer seiner Videobotschaften begründet, »Warum wir [nur] Schweden nicht angreifen«? Was den hiesigen Skandinavienexperten überhaupt nicht eingeleuchtet hat. Der Friedensnobelpreis konnte ja wohl nicht der Grund gewesen sein.

Die Antiislamischen Ausfälle der Broder, Sarrazin und unbedingten Israel-Sympathisanten wurden zwar nach Beginn der arabischen Aufstände scharf zurückgewiesen – und nach dem arischen Oslo-Attentat sogar als dessen ideologische Wegbereitung kritisiert, aber nach wie vor wählen fast fünf Prozent der Bevölkerung eine Partei, die alle hier lebenden Türken, Araber und Vietnamesen mit einem fliegenden Teppich außer Landes schaffen will. In Frankreich hat man diesbezüglich sogar noch realistischere Ideen: So schlug die Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP, Chantal Brunel, vor, alle arabischen Flüchtlinge »auf ihre Boote zu setzen und zurückzuschicken«.

Während die Marineführer der EU-Länder darüber nachdenken, wie sie quasi eine Mauer durchs Mittelmeer ziehen können mittels Kanonenbooten und Hightech, plädiert die europäische Linke für ein neues »Mittelmeerkonzept«, das nicht mehr trennt. Das hat es für die westlichen Orientreisenden beiderlei Geschlechts jedoch noch nie getan. Weswegen man umgekehrt im Orient von einem Fortdauern des Kolonialismus spricht, von einer »erniedrigenden Heuchelei« – so der tunesische Migrationsforscher Mehdi Mabrouk. Er ist seit kurzem Mitglied in der »Höchsten Instanz für die Verwirklichung der Ziele der Revolution, politischer Reformen und des demokratischen Übergangs« und begreift die Abschottung der EU, die nur Waren hereinläßt, als immer weniger hinnehmbar, zumal die Arbeitslosigkeit in Tunesien infolge des Aufstands von 500000 auf 700000 gestiegen ist und das Land daneben noch etwa 150000 Flüchtlinge aus Libyen mitzuversorgen hat.

Auf der anderen Seite meinte der israelische Generalmajor Amos Gilead auf der Frühlingstagung des Interdisziplinären Zentrums in Herzlija, der prominentesten Konferenz über politische Fragen in Israel: »In der arabischen Welt ist kein Platz für Demokratie. Das ist die Wahrheit. Wir ziehen Stabilität vor«. Die Zuhörer nickten beifällig.

In seiner Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters im Oktober 2005 berichtete der iranische Schriftsteller Navid Kermani von vier arbeitslosen jungen Marokkanern, die mit einem Schlauchboot nach Spanien wollten: Alle hatten es zuvor schon mehrmals versucht. Sie waren jedoch stets von der spanischen Polizei geschnappt und zurück nach Marokko geflogen worden. Kermani erzählten sie: »Wir versuchen die Dinge realistisch zu sehen. Wir kennen das Risiko genau. Wenn wir ins Schlauchboot steigen, muß die Chance, daß wir durchkommen, groß genug sein im Verhältnis zu dem Risiko.« Aber den Tod kalkuliert ihr schon ein? frage ich. »Gut, wir kalkulieren den Tod mit ein, aber der ist auch nicht schlimmer als das Leben hier.« Wir schwiegen eine Weile. Schließlich meinte einer der Männer grinsend: »Das sind eben ›amaliyyat istischhadiya‹, was wir tun, Selbstmordattentate. Die Europäer denken doch, daß alle Araber Selbstmordattentäter sind. Ja, sie haben recht, wir sind alle hier Selbstmordattentäter. Das Paradies, für das wir unser Leben lassen, heißt Schengen.«

In Essen fand im Juli eine mehrtägige »Islam-Debatte« statt, auf der die Teilnehmer sich für einen weltoffenen, toleranten und frauenfreundlichen Islam aussprachen – einen »Euro-Islam«, wie der Politologe Bassam Tibi das nennt. Dem gebürtigen Syrer verdanken wir bereits den Begriff »Leitkultur«. Er geht in seinen 25 Büchern und 250 Artikeln in FAZ und taz davon aus, daß sich 1. der »islamische Fundamentalismus« seit dem »Sechs-Tage-Krieg« 1967 und erst recht seit dem Golfkrieg 1990 zu einem »Mainstream« unter den Muslimen entwickelt hat; 2. daß dieser das »Resultat des Mißlingens islamischer Säkularisierungs- und Modernisierungsversuche« ist; 3. daß er aufgrund seiner »Schriftgläubigkeit« unfähig zu »wissenschaftlichem Denken« macht und eine »kulturelle Wüste« um sich schafft, denn »kreativ« ist für die Gläubigen allein Allah; 4. daß der Muslim nur Interesse an »westlichen Waffen« hat, mit denen er hofft, die Ungläubigen endlich zu besiegen – was Tibi einen »Traum der orientalischen Despotie« von der »halben Moderne« nennt.

Den Muslimen gehe ansonsten jegliches »Könnens-Bewußtsein« ab, was zusammengenommen in einen »Weltkrieg mit Atombomben« münden könnte. Zwar gesteht der Autor den Muslimen zu, daß ihr fataler Hang zum »Fundamentalismus« eine Art »Aufstand« gegenüber der »unerträglichen westlichen Arroganz« ist, aber da für sie alles Wissen dem »religiösen Glauben« unterworfen sein muß, sind sie unfähig zu »Zweifel« und »Vermuten«, also vor lauter Textgläubigkeit schier verblödet. So weit so schlecht.

Tibi hat jedoch auch das Gute fest im Blick: Diesem ganzen epistemologischen Elend der Orientalen und ihrer dogmatisch-menschenrechtsverachtenden Verblendung hält er die lichte Vernunft und »Kreativität« des Westens entgegen – dem sie sich wohl oder übel anzupassen haben – d.h. der »kulturellen Moderne« als ein emanzipatorisches »Projekt«, dem das »Subjektivitätsprinzip« sowie die »Wissenschaft und Technologie« zugrundeliegt. Dazu reiche es aber nicht, bestimmte für den Glauben unverfängliche Wissensbereiche einfach auswendig zu lernen, wie es an islamischen Universitäten noch gang und gäbe ist: Das »arabo-islamische Denken müsse vielmehr vom »text-« zum »vernunftzentrierten Lernen« übergehen. Abgesehen davon, daß das auch für das christlich-abendländische Denken gilt, merkt man dem syrischen Schriftsteller an, daß der Westen ihm (in Göttingen) gründlich das Gehirn gewaschen hat! Diesen Eindruck bekam man schon 1981 von V.S. Naipauls großem Bericht über seine »Islamische Reise«, erst recht jetzt von seinem zweiten Reisebericht »Afrikanisches Maskenspiel«.

So wie der Theoretiker des algerischen Befreiungskrieges Frantz Fanon es den Kolonialisten heimzahlte – »wenn du einen Franzosen tötest, dann befreist du dich gleich zweimal« – und der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said die Sichtweise der westlichen »Orientalisten« scharf zurückwies, bleibt umgekehrt auch die westliche Öffentlichkeit und Polizei den Arabern nichts schuldig. So berichtet der ägyptische Autor Chaled Al-Khamissi, der ein Buch über Kairoer Taxifahrer veröffentlichte: »Ich bin mit französischen Filmteams durch Kairo gelaufen. Wenn sie unter 2000 Gesichtern eines mit einem langen Bart gesehen haben, filmten sie dieses, nicht die 1999 anderen. Der Westen sucht diese Bilder. Aber sie sind eine Verzerrung der Wirklichkeit.«

Es hilft nichts, wir müssen diesen ganzen Kampf als Bürgerkrieg annehmen, um ihn »in Richtung seiner erhabensten Erscheinungsweisen« auf uns zu nehmen. Das heißt: unserem »Geschmack entsprechend«, wie die autonome Pariser Gruppe Tiqqun vorschlägt.

In einer antirassistischen Perspektive gehört dazu eine Überwindung der bloß verbalen oder bestenfalls »spontanen Solidarität« – was in bezug auf die Fluchthilfe heißt, daß sie von hier ausgehen muß (und nicht wie kürzlich romantisch-abenteuerlich geplant: von See aus), d.h. es müssen halbwegs sichere Institutionen geschaffen werden. Auch wenn die spontane Aktion mitunter hilfreich sein kann – wie gerade der neue Film von Aki Kaurismäki »Le Havre« vorführt.

Die türkischen Linken haben es bitter bereut, daß sie in den achtziger Jahren die Nöte der kurdischen Migranten (in Istanbul z.B.) den Mullahs und Rechten überließen. Ähnlich meinte Daniel Cohn-Bendit 2009 während eines Interviews über das vermeintlich gescheiterte Multikulti-Modell der BRD: »Wir haben den Fehler gemacht, uns nicht genug um die Ausländer gekümmert zu haben«.

An emphatischen Bekenntnissen, es anders, besser, zu machen als bisher, fehlt es unterdessen nicht: »Die Fackel der Befreiung« ist von den seßhaften Kulturen an »unbehauste, dezentrierte, exilische Energien« weitergereicht worden, »deren Inkarnation der Migrant« ist, meint auch der Exil-Palästinenser Edward Said. Auch für den Engländer Neal Ascherson sind es die »Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen«, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: »Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte«.

Seltsamerweise war der gute Wille dazu anfänglich noch durchaus vorhanden – als die ersten Gastarbeiter kamen. Auch wenn ihre Kinder dann hier kein Handwerk lernen durften und die Diskos für sie tabu waren (damit sie uns dort nicht die besten Frauen wegschnappten?). Jüngst hat der Berliner »Clubrat« ein kollektives Lokalverbot für Araber verhängt. Mit solchen »low-intensity weapons« läßt sich das »Schengen-Paradies« aber nun gar nicht halten.

* Aus: junge Welt, 24. September 2011


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