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Tod im Mittelmeer

54 Flüchtlinge verdursteten auf dem Weg nach Europa

Von Wolf H. Wagner, Florenz *

Erneut starben 54 Flüchtlinge bei dem Versuch, in einem Schlauchboot nach Europa zu gelangen. Nur ein Mensch überlebte, die anderen verdursteten während der zweiwöchigen Schreckensfahrt. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat appellierte an alle Schiffe im Mittelmeer, auf hilfsbedürftige Flüchtlinge zu achten. Flüchtlinge

Nach gut einem Tag hatten die 55 Flüchtlinge die sizilianische Küste bereits vor Augen, als starker Seegang das überfüllte Schlauchboot zurücktrieb. Offenbar manövrierunfähig, trieb es tagelang auf dem offenen Meer. Schließlich hatten tunesische Fischer das Boot, das von der libyschen Küste gestartet war, am Montagabend ausgemacht und die Küstenwache verständigt. Doch nur ein Mann war noch am Leben. Der Eritreer, der in das Krankenhaus von Zarzis gebracht wurde, berichtete dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), dass an Bord das Trinkwasser ausgegangen war und die Menschen unter der glühenden Sonne auf dem Meer verdursteten, nach 15 Tagen auf See.

Unklar ist noch, warum das Boot in dem viel befahrenen Mittelmeer zwischen Tunesien und Italien nicht früher entdeckt wurde. Vorwürfe werden gegen die im Gebiet patrouillierenden Marineeinheiten der NATO erhoben, die regelmäßig das Auftauchen von Flüchtlingsbooten ignorieren oder diese gar von den europäischen Küsten abdrängen sollen.

Der stellvertretende Flüchtlingshochkommissar T. Alexander Aleinikoff sprach von einer Tragödie. Er rief die Schiffsführer auf, bei ihrer Fahrt durch das Mittelmeer auf hilfebedürftige Boote zu achten. »Das Mittelmeer gehört zu den am meisten befahrenen Meeren der Welt, und es ist fundamental, dass die alte Tradition, Menschen auf See zu retten, weiterhin respektiert wird«, sagte Aleinikoff. Ein Flüchtlingsboot mit etwa 50 Menschen aus Eritrea und Somalia an Bord ist nach Angaben des UNHCR derzeit immer noch auf dem offenen Mittelmeer, nachdem die Insassen es am Dienstag abgelehnt hätten, sich von maltesischem Militär retten zu lassen.

Helmut Dietrich vom internationalen Bündnis von Menschenrechtsaktivisten »Boats4People« kritisierte die »Logik der Abschottung«. Flüchtlinge und Migranten abzuwehren sei der EU mehr Wert als die Rettung von Menschenleben. Neben den aktuellen Protestaktionen in Tunesien und Libyen bemüht sich »Boats4People« um eine Untersuchung, insbesondere anhand von Satellitenbildern, und will mit dem derzeit von Palermo nach Monastir fahrenden Schiff »Oloferne« selbst helfen.

Das UNHCR schätzt die Zahl der allein im Jahre 2012 bislang verschwundenen oder verstorbenen Personen auf dem Mittelmeer auf 170. 1300 Menschen sei das Anlanden in Italien geglückt, weitere 1000 Personen sind nach Angaben der Flüchtlingsorganisation in Malta angekommen.

Dass immer noch so viele Menschen versuchen, illegal nach Europa einzureisen, ergibt sich aus der restriktiven Einwanderungspolitik der EU-Staaten und der trotz des Sturzes von Ben Ali in Tunesien und Gaddafi in Libyen unveränderten Migrationspolitik der nordafrikanischen Staaten. Sie ermöglicht es mafiösen Strukturen, die in Not geratenen Afrikaner nach Europa zu schleusen. Wie Ermittler der italienischen Guardia di Finanza nun berichteten, müssten die Ausreisewilligen horrende Schleuserpreise bezahlen und begäben sich in sklavische Abhängigkeit. Insbesondere sei der Bereich der Prostitution und des Drogenhandels zum Kerngeschäft dieser Mafia geworden. Die italienische Finanzpolizei hat ein Netz aufgedeckt, dessen Zentrale im nigerianischen Lagos liegt. Seine Ausläufer ziehen sich über Niger, Libyen, Italien bis nach Deutschland.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Juli 2012


Weggesehen

Von Katja Herzberg **

Wieder einmal sind mehr als 50 Menschen bei der Flucht in ein neues, vermeintlich besseres Leben in Europa ums Leben gekommen. Doch anders, als schon so oft berichtet werde musste, ist das Boot, mit dem die Afrikaner auf dem Mittelmeer unterwegs waren, nicht gekentert, seine Insassen sind nicht ertrunken. Sie sind zwei Wochen lang auf offener See getrieben und einer nach dem anderen verdurstet. Diese Tragödie trifft Einzelne, die Toten selbst und ihre Hinterbliebenen. Doch ihr Leid zeigt, welchen Stellenwert das von Flüchtlingen oft gepriesene Europa Menschenleben beimisst. Ihr Tod ist auch direkte Folge der Abschottungspolitik der EU und seiner Mitgliedstaaten.

Denn wie kann es sein, dass im stark befahrenen Mittelmeer, in dem heute so gut wie nie zuvor überwachten Seegebiet ein 15 Tage umherschlingerndes Boot weder von den EU-Grenzschützern von Frontex noch von den Küstenwachen entdeckt wird? Die wahrscheinlichste Antwort darauf ist einfach und erschütternd zugleich. Es ist fast auszuschließen, dass das Boot von niemandem gesehen wurde. Vielmehr hat es wohl niemand sehen wollen. Um sich Ärger zu ersparen. Davon gehen schon längst nicht mehr nur Menschenrechtsaktivisten aus.

Dass das Unglück erst durch das UN-Flüchtlingshochkommissariat bekannt wurde, macht zusätzlich deutlich, wie wenig Europa an einer Lösung der Flüchtlingsproblematik interessiert ist, die das Sterben im Mittelmeer beendet. Eine Flüchtlingspolitik, die ihren Namen verdient, müsste mit Hinsehen anfangen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Juli 2012 (Kommentar)


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