Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

EU-Innenminister diskutieren Flüchtlingspolitik

Seibert: Deutschland nimmt genügend Schutzsuchende auf *

Nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa sind mittlerweile fast 200 Tote geborgen worden. Bis Redaktionsschluss lag die Zahl der geborgenen Ertrunkenen bei 211. Im Rumpf des Schiffes, das in 50 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt, werden weitere Leichen vermutet. Die europäische Flüchtlingspolitik wurde kurzfristig auf die Agenda eines Treffens der EU-Innenminister am Dienstag in Luxemburg gesetzt.

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), forderte die Bundesregierung zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge auf. Es sei eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen habe, sagte Schulz der »Bild«-Zeitung (Montagausgabe). Die Bundesregierung wies die Forderung ab. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag in Berlin, Deutschland leiste bei der Aufnahme von Flüchtlingen das, was seiner Größe und Bevölkerungszahl in Europa entspreche. Bei Betrachtung der Zahlen werde deutlich, dass Deutschland jedes Jahr eine große Zahl von Asylanträgen habe und diese Zahl wachse.

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums ergänzte, dass Deutschland im vergangenen Jahr rund 65 000 Asylbewerber aufgenommen habe, während es etwa in Italien lediglich 15 000 gewesen seien. An diesen Zahlen werde deutlich, dass der Ruf nach einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge aus den Zahlen so nicht ersichtlich werde, sagte der Ministeriumssprecher.

Exakt 64 539 Asylerstanträge wurden im Jahr 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. 2011 waren es 18 798 weniger gewesen, das bedeutet eine Steigerung um rund 41 Prozent. Als Flüchtlinge anerkannt wurden in Deutschland im Jahr 2012 8764 Menschen, das ist ein Anteil von 14,2 Prozent aller Asylbewerber. 8376 Personen (13,5 Prozent) erhielten darüber hinaus sogenannten »subsidiären Schutz«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013


Tödliche Flucht ins Paradies

Der Eritreer Habtu Russom versuchte vergeblich, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen

Von Philipp Hedemann, Addis Abeba **


Ein eritreischer Flüchtling berichtet über die Umstände seiner Flucht aus dem Elend. Für die Menschenhändler sind er und unzählige andere Schutzsuchende nur eine Ware. Und so werden sie auch behandelt.

Habtu Russoms Flucht endete im Sturm auf dem Mittelmeer. »Als unser Boot in Seenot geriet, dachte ich: Das war‘s jetzt. Ich kann nicht schwimmen. Nach mehreren Stunden kamen endlich Schiffe. Aber sie hatten Angst vor uns. Erst als die Frauen die Babys in die Höhe hielten, nahmen sie uns an Bord.« Fast wäre seine Flucht so geendet wie die Hunderter Flüchtlinge, deren Boot jetzt vor Lampedusa sank. Wenn die Bilder der Toten gezeigt werden, rückt Habtu Russom im Flüchtlingslager Mai Aini im Norden Äthiopiens ganz nah an den rauschenden Fernseher und betet, dass er keines der Gesichter erkennt.

Der 35-Jährige versteht, warum die Männer, Frauen und Kinder sich auf den völlig überfüllten Kahn gedrängt haben, der in Sichtweite des Ufers des vermeintlichen Paradieses sank. Er hatte es einst selbst getan. Die Verheißungen des Lebens im Westen schienen ihm größer als die Risiken der Flucht.

Bei seinem vorerst letzten Versuch, nach Europa zu gelangen, schlich Russom nachts über die Grenze zwischen Eritrea und Sudan. Hätten die eritreischen Grenzer ihn erwischt, sie hätten sofort geschossen. Im Sudan traf Russom auf Menschenhändler. 300 US-Dollar (etwa 220 Euro), die er sich von seiner Familie geliehen hatte, zahlte er den Schmugglern, die ihn in die Hauptstadt Khartoum bringen sollten. Dort werde er gut bezahlte Arbeit finden oder könne die Reise nach Europa fortsetzen, hatten die skrupellosen Geschäftemacher ihm erzählt. 24 Männer und Frauen, die auf das Versprechen reinfielen, pferchten sie auf der Ladefläche eines Toyota-Lieferwagens zusammen. Die menschliche Schmuggelware deckten sie mit einer Plane ab und rasten jenseits der Hauptstraßen nach Khartoum. »Eine Frau erstickte unter der Plane. Sie hieß Tsigue. Sie war 24 Jahre alt«, erzählt Russom.

In Khartoum zahlte Russoum anderen Schmugglern 1000 Dollar. Dafür sollten sie ihn an die libysche Küste bringen. 38 Menschen quetschten die Menschenhändler diesmal auf einem Transporter zusammen. Nach drei Tagen gab das Auto in der Wüste den Geist auf. 15 Tage dauerte es, bis die Gangster den Wagen wieder flott gemacht hatten. In das Wasser, das sie den Flüchtlingen gaben, mischten sie Motoren-Öl, damit die bereits halbverdursteten Menschen weniger tranken. Nachts vergewaltigten sie die Frauen, während Komplizen die Ehemänner mit Kalaschnikows in Schach hielten. Zwei Frauen und sechs Männer überlebten die Höllenfahrt nicht, ihre Leichen wurden einfach von der Ladefläche gestoßen.

Doch das Schlimmste sollte noch kommen: die Fahrt über das Mittelmeer. In der Nähe der libyschen Küstenstadt Zliten ging Russom nachts an Bord des schrottreifen Fischerboots, das fast zu seinem Grab wurde. 518 andere Flüchtlinge will er gezählt haben. Nach rund 20 Stunden Fahrt geriet das völlig überladene Schiff in einen Sturm. Weil der irakische Kapitän und seine drei Besatzungsmitglieder kein Wort Englisch sprachen, musste Russom per Funk den Notruf absetzen, der ihm und den anderen Passagieren wahrscheinlich das Leben rettete – und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben mit einem Schlag zunichte machte.

Die Flüchtlinge kamen auf Malta in Abschiebehaft, wurden trotz Hungerstreiks in die eritreische Hauptstadt Asmara geflogen. Als Russom wieder in dasselbe Gefängnis eingeliefert wurde, in dem er vor seiner Flucht einsaß, begrüßten die Folterschergen des Diktators Isayas Afewerki ihn mit den Worten: »Willkommen daheim.« Kurz darauf gelang dem Informatikstudenten erneut die Flucht aus dem Kerker. Diesmal floh er ins Nachbarland Äthiopien. Hier lebt er seitdem im trostlosen Flüchtlingslager Mai Aini.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013


Kein Handlungsbedarf?

Deutschland weigert sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen

Von Johanna Treblin ***


Weil Europa sich abschottet, endet für viele Schutzsuchende die Reise im offenen Meer. Deutschland soll mehr Flüchtlinge aufnehmen, um Mittelmeerstaaten zu entlasten, fordert nun EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.

Rund 200 Menschen sind beim jüngsten Flüchtlingsdrama vor der Küste Italiens ums Leben gekommen. Die genaue Zahl steht noch nicht fest, die Bergungsarbeiten im Rumpf des Schiffes liefen am Montagabend weiter. In Deutschland und der Europäischen Union hat das Unglück eine Debatte über den Umgang mit Geflüchteten ausgelöst. Zum einen werden vor allem in EU-Kommission und -Parlament Stimmen laut, Deutschland solle mehr Flüchtlinge aufnehmen, was die Bundesregierung am Montag bereits abgelehnt hat.

Zum anderen steht wieder einmal die Frage im Raum, ob die Länder an den Außengrenzen Europas mit der steigenden Zahl von Bootsflüchtlingen überfordert sind und mehr Unterstützung durch die anderen europäischen Staaten benötigen. Insbesondere Deutschland müsse mehr Schutzsuchende aufnehmen, forderten am Montag sowohl der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), als auch EU-Energie-Kommissar Günther Oettinger (CDU).

Schulz sagte, es sei eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen habe. Die Flüchtlinge müssten in Zukunft gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. »Das heißt auch, dass Deutschland zusätzliche Menschen aufnehmen muss.«

Oettinger mahnte seinerseits eine Überprüfung der europäischen Flüchtlingspolitik an. »Die Frage ist doch, ob Italien alleine in der Lage ist, diese Außengrenze kompetent, aber auch menschengerecht zu sichern und zu handeln oder ob es eines Mechanismus‘ für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union als Folge bedarf.«

Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte daraufhin am Montag in Berlin, Deutschland tue das, »was seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl in Europa entspricht«. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte seinerseits, »der Ruf nach einem gerechteren Verteilungsmechanismus« für Flüchtlinge in Europa lasse sich nicht zahlenmäßig begründen. Deutschland habe beispielsweise im vergangenen Jahr rund 65 000 Asylbewerber aufgenommen – Italien 15 000. Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wehrte sich gegen Kritik an der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik. »Wir alle sind tief erschüttert von den dramatischen Bildern aus Lampedusa. Der Vorwurf, dass sich Europa abschottet, ist jedoch falsch«, sagte er der »Welt am Sonntag«. Friedrich forderte, organisierte Schleuser stärker zu bekämpfen.

Bisher gibt es in der EU keinen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge – unter anderem aufgrund hartnäckiger Weigerung von Deutschland. Stattdessen gilt die sogenannte Drittstaatenregelung: Die Dublin-II-Verordnung legt fest, dass Schutzsuchende in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie als erstes betreten haben. Das sind in der Regel die Staaten an der Peripherie der EU. Mittelmeerstaaten wie Griechenland, Spanien, Italien und ganz besonders das kleine Malta sehen sich daher übermäßig betroffen. Mit der Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge sind sie zumeist überfordert.

Die EU gilt als Festung, die sich erfolgreich gegen die Einreise von Flüchtlingen abschottet. Nicht zuletzt deshalb hat sich das Mittelmeer zu einem Massengrab für Flüchtlinge entwickelt. Die genaue Zahl der Todesopfer ist schwer zu erfassen, die Internationale Organisation für Migration geht aber davon aus, dass in den vergangenen 20 Jahren 25 000 Flüchtlinge bei der Überfahrt starben. Schätzungsweise 2000 verloren 2011 ihr Leben, 1700 im vergangenen Jahr. Durch die politische Krise in Nordafrika und den Bürgerkrieg in Syrien versuchten in den vergangenen Jahren konstant viele Menschen nach Europa zu kommen.

Die EU-Innenminister haben die Flüchtlingspolitik nun kurzfristig auf die Agenda ihres Treffens heute in Luxemburg gesetzt. Darüber hinaus ist für diese Woche eine Abstimmung im Europaparlament zum neuen Grenzüberwachungssystem Eurosur vorgesehen. Es soll im Dezember einsatzbereit sein und Flüchtlingstragödien verhindern helfen. Mit dem System sollen EU-Staaten schneller und einfacher Informationen austauschen können.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013


Menschengerecht sichern

Italiens Linksparteien fordern Revision des Einwanderungsgesetzes. EU-Spitze besucht Lampedusa. Diskussion über Verteilung von Flüchtlingen, nicht aber über das Grenzregime

Von Micaela Taroni, Rom ****


Nach der Flüchtlingstragödie vor der Mittelmeerinsel Lampedusa mit mehreren hundert Toten ist in Italien die Diskussion über die rigide Einwanderungspolitik neu entbrannt. Linksparteien drängen auf eine Revision des seit 2002 geltenden restriktiven Migrationsgesetzes, das von der damaligen Regierung Silvio Berlusconis eingeführt worden war. Die Front derjenigen, die eine Reform des Gesetzes verlangt, wird von der Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini, Parlamentarierin der Linkspartei SEL (Linke, Ökologie und Freiheit), geführt. Die ehemalige Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR warnt vor einer »Globalisierung der Gleichgültigkeit«.

Unter dem Druck der Linkskräfte erklärte sich Ministerpräsident Enrico Letta bereit, das Einwanderungsgesetz zu überdenken, das vom ehemaligen Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Gianfranco Fini, und vom Gründer der ausländerfeindlichen Partei Lega Nord, Umberto Bossi, entworfen worden war und die Namen der beiden rechten Politiker trägt. Das strenge Gesetz zwinge immer mehr Migranten, illegale Wege zur Einwanderung nach Italien zu suchen, stellen seine Kritiker fest.

2009 wurde das Vergehen der illegalen Einwanderung in das italienische Strafbuch eingeführt. Von diesem ausgehend wurden mittlerweile Ermittlungen gegen die 155 Überlebenden der Schiffskatastrophe vor Lampedusa vom vergangenen Donnerstag aufgenommen. Ihnen droht eine Geldstrafe von 5000 Euro.

Laut dem Bossi-Fini-Gesetz dürfen Bürger aus Nicht-EU-Ländern nur dann eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, wenn sie bereits einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Dieser muß in einer italienischen Vertretung im Ausland ausgestellt worden sein. Bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses muß die betroffene Person das Land verlassen. Für das Erlangen einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis wurde der erforderliche reguläre Mindestaufenthalt von fünf auf sechs Jahre angehoben. Die Höhe der jährlichen Quoten für Arbeitsmigranten unterliegt dem Ermessen der Regierung. Die Möglichkeit der Familienzusammenführung ist auf Kinder unter 18 Jahren beschränkt. Ausnahmefälle sind nur bei Pflegebedürftigkeit vorgesehen. Ferner ist eine Fingerabdruckspflicht für alle Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern vorgesehen.

Anläßlich der Flüchtlingstragödie sind in Rom erneut Klagen laut geworden, daß Italien von seinen europäischen Nachbarländern mit dem Problem allein gelassen werde. Laut der sogenannten Dublin II-Verordnung ist in der EU jenes Land für die Asylsuchenden zuständig, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten. Über dieses Thema will Premier Letta am Mittwoch mit EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso bei seinem Besuch auf Lampedusa diskutieren.

Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger mahnte eine Überprüfung der europäischen Flüchtlingspolitik an. Der deutsche Politiker sagte am Montag am Rande der CDU-Präsidiumssitzung in Berlin: »Die Frage ist doch, ob Italien alleine in der Lage ist, diese Außengrenze kompetent, aber auch menschengerecht zu sichern und zu handeln oder ob es eines Mechanismus’ für die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union als Folge bedarf« Das Grenzregime selbst wird also nicht infrage gestellt.

**** Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Oktober 2013


Festung Deutschland

Von Johanna Treblin *****

Die Festung Deutschland schottet sich bereits an den Außengrenzen Europas gegen Flüchtlinge ab. Dazu finanziert sie großzügig die Grenzschutzagentur FRONTEX und bildet deren Mitarbeiter aus. Dadurch hat sich das Mittelmeer zu einem Massengrab für Flüchtlinge entwickelt. Auch um diejenigen, die die Überfahrt dennoch schaffen oder aus dem Meer gefischt werden, kümmert sich Deutschland nicht. Darüber hinaus kann sich die Bundesregierung mit Hilfe der Dublin-II-Verordnung auch der Flüchtlinge entledigen, die trotz aller Hindernisse deutschen Boden erreichen: Die Verordnung legt fest, dass Schutzsuchende in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie als erstes betreten haben. Das sind in der Regel die Staaten an der Peripherie der EU, darunter Italien, die mit der Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge zumeist überfordert sind.

Es sei eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen habe, sagte nun der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. Ja, es ist eine Schande. Es ist eine Schande, dass Deutschland mit seiner Flüchtlingspolitik aktiv dafür sorgt, dass Tausende von Menschen sterben und die Bundesregierung die Zuständigkeit auch beim aktuellen Flüchtlingsdrama wieder vollkommen ablehnt. Deutschland muss nicht nur wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, sondern sich auch zum Schutz der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen und auf hoher See bekennen.

***** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Oktober 2013 (Kommentar)


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