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Unwillkommen in Europa

Flüchtlingskatastrophen werden bedauert, der Abschottungskurs bleibt *

Am Tag nach der Katastrophe vor Lampedusa, bei der vermutlich mehr als 300 Flüchtlinge starben, zeigen sich Italien und Europa weiter geschockt. In Italien wurde Staatstrauer verhängt. Vor Lampedusa geht die Suche nach Opfern weiter.

Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano hat unterdessen eine Änderung der Gesetze gefordert. Eine schnelle Überprüfung von Normen, die eine Aufnahmepolitik verhinderten, sei nun notwendig, sagte er. »Es ist auch eine Frage von Mitteln, eine Frage des Eingreifens, eine Frage von Verantwortung und eine Diskussion, die absolut nicht nur italienisch sein kann«, so Napolitano. Innenminister Angelino Alfano forderte, dass die Grenze »mit Schiffen und Flugzeugen effektiver gesichert werden« müsse, »als das momentan der Fall ist. So sinkt auch das Risiko von Toten.«

Bundespräsident Joachim Gauck mahnte die Europäische Union, Flüchtlinge besser zu schützen, Menschenrechtsorganisationen forderten Deutschland auf, sich in der Flüchtlingspolitik stärker zu engagieren. Nach Jahren der Abschottungspolitik müsse sich die Bundesregierung nun entschieden für mehr Solidarität in der EU-Flüchtlingspolitik einsetzen, verlangte Amnesty International.

Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, kritisierte die EU-Einwanderungspolitik. »Diese Toten hätten vermieden werden können«, sagte er am Donnerstag vor der UN-Vollversammlung. Er warnte davor, das Problem »ausschließlich mit repressiven Maßnahmen« zu bekämpfen. Dadurch werde nur die Macht der Schleuser gestärkt. Stattdessen müsse legale Einwanderung erleichtert werden. Das forderte auch die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Dass die EU-Staaten sich darauf einigen können, ist nicht absehbar.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013


Abschottung um jeden Preis

Die EU bezahlt nordafrikanische Länder für die Flüchtlingsabwehr, legale Einwanderung in homöopathischen Dosen

Von Martin Ling **


Die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa hat die Europäische Kommission veranlasst, eine zweigleisige Strategie zu verkünden: eine bessere Bekämpfung der Schmugglerbanden und eine Ausweitung legaler Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa. Ob die Mitgliedsstaaten bei Letzterem mitmachen, ist alles andere als ausgemacht.

Libyen unter Muammar al-Gaddafi, Tunesien unter Ben Ali: Die Diktatoren waren bei der Flüchtlingsabwehr gefragte Bündnispartner für die Europäische Union. 2007 waren in Libyen laut EU-Angaben 60 000 so genannte illegale Migranten in Haft. Von der EU erhielt Libyen Unterstützung: in Form von Überwachungssystemen, Hubschraubern und Nachtsichtgeräten bis hin zu Leichensäcken. Allein 2006 wurden 50 000 Menschen in ihre afrikanischen Herkunftsländer deportiert. Für die EU war das eine gelungene Partnerschaft in Sachen Migration, die erst durch den arabischen Frühling ab 2011 konterkariert wurde. In den Umsturzländern versuchten Regimetreue, ihre eigene Haut zu retten und die Aufständischen hatten einen anderen Schwerpunkt als kompromisslosen Grenzschutz.

Der relativ freie Zugang zum Meer veranlasste 2011 viele, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich gen Europa aufzumachen – mal aus politischen Gründen, mal aus wirtschaftlichen und nicht selten aus einer Mischung derselben. Lange währte diese Phase indes nicht. So gelang es Italien bereits im April 2011, auch mit der tunesischen Übergangsregierung ein Rückübernahmeabkommen zu schließen, wie es mit Ben Ali Bestand hatte. Demnach werden die in Italien ankommenden tunesischen Bootsflüchtlinge so schnell wie möglich wieder abgeschoben. Und noch vor dem Sturz von Gaddafi stattete Italiens Außenminister Franco Frattini der libyschen Übergangsregierung am 30. September 2011 einen Besuch ab, um über die Reaktivierung des italienisch-libyschen Freundschaftsabkommens von 2008 zu verhandeln, das vor allem auf Migrations- und Fluchtabwehr zielt.

Italien allein als den bösen Buben des Stücks darzustellen, führt allerdings in die Irre. Die EU ist nach wie vor nicht willens, die Lasten der Migration solidarisch zu schultern. Die Mittelmeeranrainer wie Italien oder Griechenland werden weitgehend mit den Ankömmlingen alleingelassen.

Ein Kurswechsel in der EU ist nicht in Sicht. Im Dezember startet das »Europäische Grenzkontrollsystem« (Eurosur), mit dessen Hilfe kleine Boote besser entdeckt werden könnten. Das System soll den Grenzschutzbehörden der Mitgliedsstaaten durch Datenaustausch und moderne Überwachungssysteme ein besseres Lagebild bieten. Wenn es nach der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström geht, sollte die EU künftig auch mehr Einwanderer aufnehmen, damit weniger Menschen ihr Leben riskieren müssten, um nach Europa zu kommen. Mehrheitsfähig war eine solche Position innerhalb der EU-Staaten bisher freilich nicht – im Gegensatz zum Ausbau der Festung Europa.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013


Betroffene Heuchelei

Abschottung made in Germany

Von Ulla Jelpke ***


Nach dem Tod Hunderter Bootsflüchtlinge vor Lampedusa wird in Europa Betroffenheit geheuchelt. Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström gab sich »entsetzt«, EU-Regionalkommissar Johannes Hahn sprach von einer »Tragödie«, Europa müsse »wirklich traurig sein«. Doch die Reflexe sind die gleichen wie immer, wenn es um das Sterben an Europas Grenzen geht. Malmström forderte zuallererst, die Anstrengungen im »Kampf gegen kriminelle Netzwerke, die die Verzweiflung der Menschen ausnutzen«, zu verstärken. Als ob es die Fluchthelfer wären, die sich die Grundlage ihres Geschäfts geschaffen haben: die Abschottung der europäischen Grenzen.

Auch der Bundespräsident meldete sich zu Wort. Die Flüchtlinge »hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, mißachtet unsere Grundwerte«, so Joachim Gauck bei einer Rede in Berlin. Wie immer bei den salbungsvollen Worten des Bundespräsidenten muß man auch hier die Begriffe prüfen: Es ist der gleiche Zynismus, mit dem die Bundesregierung behauptet, die Maßnahmen der europäischen Abschottungsagentur FRONTEX an der türkisch-griechischen Küste dienten gar nicht der Abschottung, sondern einer geordneten Registrierung und Aufnahme Schutzsuchender.

Zugleich wird von FRONTEX mit Hochdruck am Aufbau eines Systems für die Überwachung der südlichen Seegrenzen der EU namens EUROSUR gearbeitet. Der Entwurf einer Verordnung zur Einrichtung von EUROSUR, der zur Zeit zwischen dem EU-Rat und dem Europäischen Parlament verhandelt wird, erwähnt die Seenotrettung nur »unter ferner liefen«. In erster Linie geht es darum, Flüchtlingsboote schon vor der nordafrikanischen Küste zu entdecken. Dort sollen sie abgefangen und zurückgebracht werden. Für den Schutz der Flüchtlinge sollen dann Staaten wie Libyen und Tunesien verantwortlich sein, die sich ihren Dienst an der europäischen Flüchtlingsabwehr mit EU-Geldern in Millionenhöhe vergolden lassen.

Urheber des Gedankens, den Schutz für Flüchtlinge den Nachbarn an den eigenen Grenzen aufzubürden, ist die Bundesrepublik. Seit sie mit der Abschaffung des Rechts auf Asyl 1993 und der Einführung der Drittstaatenregelung die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz an ihre Nachbarländer delegiert hat, hat sie auch den restriktiven Umgang mit Flüchtlingen exportiert: Lagerunterbringung, Beschränkung der Bewegungsfreiheit, Abschiebehaft bis zu 18 Monaten, Inhaftierung wegen illegalen Grenzübertritts und eingeschränkter Rechtsschutz gegen Entscheidungen gehören mittlerweile in der ganzen EU zum Standard. Daß Asylsuchende in Griechenland, Bulgarien oder Italien unter elenden Bedingungen ohne Zugang zu einem fairen Asylverfahren gehalten werden, ist unmittelbares Ergebnis der deutschen Abschottungs- und Abschreckungspolitik gegen Menschen in Not.

*** Aus: junge Welt, Samstag, 5. Oktober 2013


Alfano will mehr Frontex

Italiens Innenminister fordert eine bessere Ausstattung der Grenzüberwachungsorganisation

Von Wolf H. Wagner, Florenz ****


Bisher wurden die Leichen von 111 Flüchtlingen auf Lampedusa an Land gebracht. Es wird jedoch damit gerechnet, dass die Zahl der Toten auf mehr als 300 steigen könnte. 155 Flüchtlinge konnten aus dem ausgebrannten und gesunkenen Schiff gerettet werden. Lampedusa steht unter Schock, doch die Angelegenheit hat längst europäische Dimensionen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Anlandung afrikanischer Flüchtlinge auf Lampedusa oder an den anderen Küsten Süditaliens politische Auseinandersetzungen im Belpaese auslösen.

Doch in der ohnehin angespannten Lage, in der sich das politische Rom derzeit befindet, wiegen die Streitigkeiten besonders schwer. Italiens Ministerin für Integration, die aus der Demokratischen Republik Kongo stammende Cecile Kyenge, ist seit ihrem Amtsantritt rassistischen Angriffen vor allem der rechten Lega Nord ausgesetzt. Und auch im Falle des jetzigen Unglücks eines Bootes mit insgesamt 500 Passagieren vor Lampedusa war es wiederum der stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, Gianluca Pini, der sowohl Kyenge als auch die Parlamentspräsidentin und frühere Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissariats, Laura Boldrini, angriff: »Das Gutmensch-Gedusel von Kyenge und Boldrini lockt nur noch mehr Afrikaner an, nach Sizilien zu kommen. Beide sollten dringend zurücktreten, um nicht noch mehr Schaden anzustiften.« Zynisch ergänzt Pini, der jetzige Vorfall vor Lampedusa habe nichts mit dem Bossi-Fini-Gesetz zu tun, denn das gelte nur für das italienische Festland. Und die Bootsflüchtlinge seien schließlich auf dem Meer ums Leben gekommen. Das 2002 von Lega-Chef Umberto Bossi und dem damaligen Führer der postfaschistischen Alleanza Nazionale, Gianfranco Fini, initiierte und bis heute gültige Asylgesetz sieht eine erleichterte Abschiebemöglichkeit von Migranten vor.

Vor der Presse reagierte Kyenge mit Abscheu auf die Angriffe seitens der Lega: »Die Aussagen Pinis zeugen nicht nur von schlechtem Geschmack, sondern sind ein beleidigender Angriff und eine Verhöhnung der Opfer.« Im Übrigen existiere das Problem der Migration von den Küsten Nordafrikas nach Süditalien bereits seit mehr als zehn Jahren, sie selbst sei jedoch erst fünf Monate im Amt und bemühe sich dort um Lösungen für die Menschen. Als Reaktion auf die Angriffe gegen beide Frauen sprach das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte Kyenge und Boldrini höchste Anerkennung aus.

Innenminister Angelino Alfano, der nach Bekanntwerden der Katastrophe sofort nach Lampedusa reiste, wies jede Diskussion um das Bossi-Fini-Gesetz zurück. Italien verhalte sich getreu der europäischen Abkommen von Schengen und Dublin, erklärte Alfano und forderte, die EU müsse effizientere Maßnahmen ergreifen, um ihre Außengrenzen zu schützen. »Es geht nicht um die Überwachung der Grenze Nordafrika-Italien, sondern um die Grenze Afrika-Europa«, so Alfano noch in der Nacht zum Freitag vor Journalisten.

Der italienische Innenminister forderte von der Gemeinschaft, Frontex-Einheiten bereitzustellen. Man brauche mehr Schiffe, Flugzeuge und Personal, um die Außengrenzen zu sichern, so dass keine Flüchtlingsboote in Europa ankommen können. Dies sei seiner Auffassung nach der einzig richtige Weg, wolle man solche Katastrophen wie jetzt vor Lampedusa vermeiden. Mit diesem Anliegen werde er auch in der kommenden Woche bei der EU-Innenministerkonferenz vorstellig werden, so Alfano.

Guglielmo Epifani, Chef der Demokratischen Partei (PD), forderte, wie auch zuvor bereits die Bürgermeisterin von Lampedusa, Guisi Nicolini, die sofortige Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes. »Dieses Gesetz ist nur ein Produkt der Angst«, so Epifani.

Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty international forderten größere Anstrengungen der italienischen und europäischen Behörden. Statt zu überlegen, wie man die Grenzen noch dichter abschotten kann, sollten die Bemühungen verstärkt werden, die Tausenden Menschen zu schützen und zu retten, die die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen, um bessere Lebensbedingungen für sich und ihre Kinder zu finden, forderte Jezerca Tigani, Vizedirektorin des Europa-Asien-Programms von ai.

Während die Politiker noch über mögliche Grenzlösungen streiten, suchen die Helfer vor Ort weiter unermüdlich nach den Opfern der Katastrophe. Verschlechterte Wetterbedingungen erschweren die Arbeiten, Tauchgänge mussten abgesagt werden.

Nach wie vor ist das ganze Ausmaß der Tragödie nicht klar: Bisher wurden 111 Leichen an Land gebracht, die Zahl wurde am Freitag von zunächst 133 nach unten korrigiert. Doch es wird damit gerechnet, dass die Anzahl der Toten auf mehr als 300 steigen könnte, denn die Hoffnung auf weitere Überlebende geht gegen Null und nur 155 Schiffbrüchige konnten bisher gerettet werden.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013


Die deutsche Schuld am Sterben

Bundesregierung sorgt für »sichere« Grenzen *****

Bundespolitiker äußern ihre Betroffenheit angesichts der vielen toten Flüchtlinge im Mittelmeer. Dass Deutschland seinen Teil zu der Tragödie beigetragen hat, verschweigen sie lieber.

»Die wirksame Überwachung der Grenzen ist Kernelement der inneren Sicherheit in Europa.« Mit diesen Worten begründet das Bundesinnenministerium die Abschottung an den europäischen Außengrenzen. Durchgesetzt wird das Grenzregime von der Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, kurz FRONTEX. Die Bundesrepublik gilt als Wegbereiter der Grenzschützer. Sie stellt pro Jahr hundert Polizeibeamte sowie diverse Einsatztechnik für die Agentur zur Verfügung. Die Akademie der Bundespolizei in Lübeck ist die Partnerschaftsakademie von FRONTEX und organisiert in ihrem Auftrag Fortbildungen für die Grenzpolizeien in Europa. Zudem ist die Bundesrepublik an etwa 20 Prozent des Haushalts der Grenzschutzagentur über ihren Anteil am Etat der Europäischen Union beteiligt.

Deutschland hat in der Vergangenheit viel für die Verschärfung der europäischen Asylgesetzgebung getan. So können Flüchtlinge, die über einen »sicheren Drittstaat« nach Deutschland einreisen, seit 1993 ihr Grundrecht auf Asyl nicht mehr geltend machen. Diese »Drittstaatenregelung« wurde später in europäisches Recht überführt: Durch die Dublin-II-Verordnung wird festgelegt, dass Schutzsuchende in dem Land einen Asylantrag stellen müssen, das sie als erstes betreten haben. Das sind in der Regel die Staaten an der Peripherie der EU. Berlin hat außerdem dafür gesorgt, dass Flüchtlinge EU-weit bis zu 18 Monate in Abschiebehaft genommen werden dürfen.

Trotz aller Schwierigkeiten gelingt es Flüchtlingen immer wieder, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen. So harren in Hamburg etwa 80 Afrikaner aus, die vor dem Krieg in Libyen flohen und nach einer halsbrecherischen Überfahrt auf Lampedusa strandeten. Die italienischen Behörden gaben ihnen vor Monaten die notwendigen Papiere, so dass sie ihre Reise nach Norden fortsetzen konnten. Auch sie pochen auf einen sicheren Aufenthaltsstatus. Doch der wird ihnen nach wie vor verwehrt – trotz aller Beileidsbekundungen über das tragische Unglück vor der italienischen Küste, die seitdem durch die Medien geistern.

Christian Klemm

***** Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Oktober 2013


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