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Leben an einer Hand

Zahlreiche Menschen kamen bei neuem Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ums Leben *

Erneut sind Dutzende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Mindestens 27 Menschen kamen ums Leben, als ihr überfülltes Boot 60 Seemeilen vor der Insel kenterte, wie die maltesische Regierung am Freitagabend mitteilte. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa berichtete gar von rund 50 Toten, darunter etwa zehn Kinder.

Nach Angaben der maltesischen Marine war das Schiff in stürmischer See gekentert, als sich die Flüchtlinge an einem Ende des Bootes versammelten, um ein Militärflugzeug auf sich aufmerksam zu machen. Per Satellitentelefon konnten sie einen Notruf absetzen. Der nächtliche Rettungseinsatz wurde jedoch durch starke Winde erschwert, wie ein Marinesprecher erklärte. Einige der überlebenden Flüchtlinge berichteten, ihr Schiff sei sechs Stunden lang von einem Patrouillenboot der libyschen Marine verfolgt und auch beschossen worden. Die Libyer sollen immer wieder auf die Flüchtlinge gefeuert haben. Dabei seien zwei Asylsuchende getötet worden. Der Beschuss soll der eigentliche Grund für das Kentern des Schiffes gewesen sein. Libyen und die EU arbeiten seit vielen Jahren bei der Bekämpfung der Flucht aus Afrika zusammen. Dies könnte den Eifer der libyschen Marine erklären.

Jedenfalls häufen sich die tödlichen Vorfälle auf dem Mittelmeer. Erst vor wenigen Tagen waren vor der Insel Lampedusa mehr als 300 Asylsuchende aus Afrika ums Leben gekommen.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung kritisierte die Bedingungen für Flüchtlinge auf Lampedusa scharf. »Das ist menschenunwürdig, das entspricht nicht den europäischen Standards«, sagte Maria Böhmer (CDU) der »Rheinischen Post«. Italien müsse dringend nachbessern.Kurz zuvor hatte die Polizei am Freitag zehn afrikanische Flüchtlinge, die über die italienische Insel Lampedusa nach Hamburg kamen, in Gewahrsam genommen. Der Hamburger Senat will den seit Monaten in einer Kirche untergebrachten libyschen Flüchtlingen die Unterbringung in beheizten Containern verweigern.

* Aus: neues deutschland, Montag, 14. Oktober 2013


Ressentiment statt Mitleid

Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer ist nur die Fortsetzung von Abneigungen in der EU

Von Uwe Kalbe **


Ein neuerliches Schiffsunglück vor Italien, und erneut ist Flüchtlingspolitik in aller Munde. Dass Flüchtlinge quasi geächtet sind, kann man außer im Mittelmeerraum auch in Deutschland betrachten.

Sobald Flüchtlinge in den Ruch kommen, nicht politisch verfolgt zu sein, haben sie praktisch schon verloren. Wirtschaftliche Gründe zählen nicht als vollwertiges Argument, sein Heil in der Flucht zu suchen. Nach dem neuerlichen Kentern eines Schiffs voller Flüchtlinge vor Italien nimmt zwar die Empathie in westlichen Ländern zu, aber sie findet ihre Erfüllung allenfalls in der Kritik an den italienischen Behörden. »Das ist menschenunwürdig, das entspricht nicht den europäischen Standards«, sagte Maria Böhmer (CDU) der »Rheinischen Post«. Italien müsse dringend nachbessern.

Die Grünen haben die Flüchtlingspolitik zu einem der Kernpunkte ihrer Forderungen an die Union gemacht, mit der sie derzeit über eine mögliche Regierungskoalition sprechen. Eine »humanitäre Flüchtlingspolitik« zu verlangen, ist nicht nur inhaltlich begründetes Anliegen, sondern auch die Möglichkeit, das eigene Profil gegenüber dem übermächtigen potenziellen Partner zu wahren. Die bisherige Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl Kathrin Göring-Eckardt meinte in der ARD, es müsse in Europa eine anständige Form des Asyls geschaffen werden, damit nicht »Menschen in den Tod gehen müssen«. Ohne solche Positionen könnten die Grünen »nicht eine Zusammenarbeit mit einer anderen Partei eingehen«.

Verhandlungen mit der LINKEN würden in dieser Frage anstandslos über die Bühne gehen. Deren Vorsitzender Bernd Riexinger, in einer ersten Reaktion »traurig und wütend« über die neuerliche Katastrophe, forderte die Abschaffung eines Grenzregimes, »das Menschenleben fordert«. Seine Parteifreundin Sevim Dagdelen sagte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, der Tod zehntausender Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen sei »kein Schicksal. Es ist das Ergebnis der mörderischen EU-Flüchtlingspolitik von Barroso bis Merkel«. Auf den Zusammenhang der europäischen Flüchtlingspolitik und jener Politik, die Fluchtgründe erst hervorruft, wies Katja Kipping hin. Die Linksparteichefin: Alle vier Sekunden flüchte ein Mensch aus seinem Heimatort. »Armut, Naturkatastrophen, explodierende Lebensmittelpreise, aber vor allem Kriege sind die Ursachen dafür.« Die weltweite Wirtschaftskrise verschärfe die Not, sie »vernichtet in vielen Ländern in und außerhalb Europas für viele Menschen jede Perspektive, ihr eigenes Leben zu gestalten.« Kipping nennt es deshalb »zynisch, wenn Bundesinnenminister Friedrich gegen Armutsflüchtlinge hetzt und um Flüchtlingsquoten feilscht«.

Friedrich hatte am Wochenende gegenüber der »Rheinischen Post« vor mehr Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme gewarnt. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hatte EU-Bürgern, die sich schon lange in Deutschland aufhalten, ein Recht auf Hartz-IV-Unterstützung zugesprochen. Damit erhalten EU-Bürger etwa aus Rumänien und Bulgarien, die Friedrich offenbar an der Spitze einer Bewegung der Armutszuwanderung innerhalb der EU sieht, einen Anspruch auf die Sozialleistung.

Getrieben offenbar von ähnlichen Ressentiments wie Friedrich, will derzeit der Hamburger Senat verhindern, dass evangelische Kirchengemeinden Containerdörfer für Lampedusa-Flüchtlinge errichten. Die Kirche mache sich entsprechenden Vorhaben strafbar, warnte der SPD-Senat in einem Schreiben. Am Wochenende verstärkte die Polizei ihre Kontrollen gegenüber Flüchtlingen, eine Demonstration von mehr als 500 Menschen wandte sich gegen die unversöhnliche Politik der Hamburger Landesregierung.

** Aus: neues deutschland, Montag, 14. Oktober 2013


EU läßt schießen

Flüchtlinge: Libysches Militär eröffnete Feuer auf See. Seit einer Woche gemeinsame Patrouillen von Libyen und Italien

Von Arnold Schölzel ***


Überlebende des am Freitag zwischen Malta und Lampedusa gekenterten Flüchtlingsschiffes berichten, daß sie gezielt von einem Boot der libyschen Marine beschossen wurden. Dabei habe es zwei Tote gegeben. Ihre Aussagen wurden am Sonntag auf der Internetseite der Zeitung Malta Today und in italienischen Medien wiedergegeben. Die Zeitung Il Repubblica veröffentlichte am Sonntag außerdem auf ihrer Internetseite ein Video, in dem zu sehen ist, wie offenbar libysche Grenzpolizisten mit Waffen ein Boot daran hindert, in See zu stechen. Der Film enthält zudem Interviews mit Flüchtlingen, die Schußwunden, aber auch Folterspuren vorweisen. Bekannt wurde am Wochenende, daß die Grenzbehörden Libyens und Italiens am vergangenen Montag ein Abkommen unterzeichnet haben, wonach libysche Grenzpolizisten ab sofort unter Kontrolle italienischer Beamter auf Patrouille gehen. Die dafür benötigten Schiffe liefert Italien bereits seit 2009 an den nordafrikanischen Staat. Ob auf dem Schiff, von dem aus die Schüsse fielen, italienische Polizisten waren, ist nicht bekannt.

Die libysch-italienische Vereinbarung vom 7. Oktober war offensichtlich die Antwort der EU auf die Schiffstragödie vor Lampedusa vier Tage zuvor. Sie kostete nach italienischen Angaben vom Sonntag mindestens 362 Menschen das Leben. Am Sonnabend wurden demnach knapp 20, am Sonntag vier Leichen geborgen. 155 Menschen haben das Unglück überlebt.

Beim Schiffsuntergang eine gute Woche später sind nach offiziellen Angaben mindestens 35 Flüchtlinge gestorben, mehr als 200 konnten gerettet werden. Malta Today berichtete, das 65 Meilen südlich von Lampedusa gekenterte Schiff habe nach Aussagen von Überlebenden zwischen 400 und 450 Menschen an Bord gehabt. Offiziell war von 250 Insassen die Rede. Bei den Flüchtlingen handele es sich vor allem um Syrer und Palästinenser. Mehrere hätten übereinstimmend von der Beschießung berichtet. Ein 20jähriger Palästinenser namens Molham Alrosan, der Syrien verlassen hatte, schilderte der Zeitung, das libysche Militärschiff sei kurz nach dem Start in der Hafenstadt Zuwara aufgetaucht: »Es folgte unserem Boot sechs Stunden lang, und die Beamten an Bord bestanden darauf, daß wir umkehren. Als unser Kapitän sich weigerte, begannen sie dorthin zu schießen, wo sie den Motor vermuteten. Als das nicht funktionierte, schossen sie auf uns.« Es sei Panik ausgebrochen, die zum Kentern geführt habe.

Nach dem Untergang des Schiffes hatte Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat, der am Sonntag mit der libyschen Regierung in Tripolis verhandelte, in einem BBC-Interview erklärt: »Bisher hören wir von der EU nur leere Worte. Ich weiß nicht, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor etwas geschieht. Wie die Dinge im Moment stehen, machen wir unser eigenes Mittelmeer zum Friedhof.« Italiens Premier Enrico Letta kündigte am Samstag an, Italien werde die Überwachung im Mittelmeer verstärken. Das Land starte am heutigen Montag einen »humanitären Militäreinsatz mit Schiffen und Flugzeugen«. Das sei eine Überbrückungsmaßnahme vor einem erhofften größeren Engagement der EU. Am selben Tag äußerte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres, seine »tiefe Besorgnis« über die Meldungen von der Beschießung. Er äußerte seine Hoffnung, daß der Vorfall aufgeklärt und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Deutschen Sonntagszeitungen waren diese Nachrichten keine Zeile wert, in elektronischen Medien tauchten sie nicht auf.

*** Aus: junge Welt, Montag, 14. Oktober 2013


Ein Hoch den Moralisten

Von Uwe Kalbe ****

Wenn das Entsetzen über gekenterte Flüchtlingsboote Wellen schlägt, scheint es ein mutiges Grundbedürfnis von rechter Seite zu sein, über »Berufsmoralisten« zu lächeln. Es könne sich ja gar nichts ändern, weil es eine Pflicht der Staaten gebe, ihre Bevölkerung – um des sozialen Friedens Willen – vor Überforderung zu bewahren. Es sei fahrlässig, ihr das Leid der Welt aufzubürden.

Und wirklich muss man davon ausgehen, dass es nicht lange dauern würde, bis Empörung sich Bahn brechen würde, namens der Einheimischen und begleitet von unwägbaren Risiken. Wirklich ist es unvorstellbar, alle weltweite Not hereinzulassen, ohne dass die Not auch hier überborden würde – so groß, wie sie weltweit ist.

Der Ruf nach verantwortlicher Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Doch was darunter allgemein verstanden wird, schon. Den Status quo möglichst geräuschlos zu verwalten, ist damit gemeint. Und heißt nichts anderes, als sich zum Unrecht zu bekennen, dessen Opfer die Flüchtlinge geworden sind. Zum System, das die Welt wirtschaftlich in Haftung nimmt und militärisch in Schach hält. Das clever ist und nutzbringend, wenn man am richtigen Ort geboren ist. Und sei es am unteren Ende der Reichtumsskala, das aus südlicher Perspektive noch immer verlockend scheint. Es ist eine bittere Wahrheit: Dem Risiko der Armutseinwanderung ist nur zu begegnen um den Preis, den eigenen Vorteil zu riskieren. Eine durchaus wirtschaftliche Erwägung, für die ein Minimum an Moral allerdings nützlich ist.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 14. Oktober 2013 (Kommentar)


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