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Geflohen und doch nur geduldet

Flüchtlingsorganisationen fordern Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland

Von Katja Herzberg *

Flüchtlingskinder werden in Deutschland noch immer benachteiligt. Am heutigen Internationalen Kindertag starten Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen eine bundesweite Kampagne zur Durchsetzung der Kinderrechtskonvention auch für sie.

Obwohl die schwarz-gelbe Bundesregierung vor knapp einem Jahr ihren Vorbehalt gegen die UNO-Kinderrechtskonvention zurücknahm, hat sich die prekäre Lage der Flüchtlingskinder nicht geändert. In dem Vorbehalt war einschränkend formuliert worden, dass die in der Konvention genannten Kinderrechte nur insoweit gelten, wie dies nicht der Ausländer- und Asylgesetzgebung in Deutschland widerspräche. Der formalen Anerkennung der Rechte durch Rücknahme dieses Vorbehalts sind jedoch keine Konsequenzen gefolgt. Die Träger der Kampagne »Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder!« hatten mit der Geste der Bundesregierung die Hoffnung verknüpft, dass ihre jahrelangen Forderungen nun erfüllt würden. Doch nun stellen sie fest: Es gibt noch immer zweierlei Recht für Kinder mit deutschem Pass und jenen, die aus Not nach Deutschland kommen. Mit einer Unterschriftensammlung, Protestkundgebungen, Informations- und Diskussionsveranstaltungen sowie Gesprächen mit Parlamentariern wollen die mehr als 40 beteiligten Organisationen nun Druck auf die Politik ausüben, um Änderungen im Asylverfahrens- und Aufenthaltsgesetz durchzusetzen.

Lothar Krappmann, Schirmherr der Kampagne und bis vor Kurzem Mitglied im UN-Kinderrechtsausschuss, erinnerte bei der gestrigen Vorstellung der Kampagne an die Grundidee der 1989 auf den Weg gebrachten Kinderrechtskonvention. Gerade die Rechte von Flüchtlingskindern sollten geschützt und alle Kinder – egal welcher ethnischen Zugehörigkeit und Nationalität – gleich behandelt werden. Laut Krappmann leben in Deutschland etwa 10 000 »unbegleitete« Kinder und weit über 200 000 als Flüchtlinge in laufenden Asylverfahren oder in geduldetem Status.

»Es hat sich praktisch nichts geändert«, berichtete Mohammed Jouni von Jugendliche ohne Grenzen. 16- und 17-Jährige würden weiterhin wie Erwachsene in Sammelunterkünften untergebracht. Die Beteiligten der Kampagne, darunter Amnesty International, der Deutsche Kinderschutzbund, Diakonisches Werk und UNICEF, fordern Beistand für Kinder im Asylverfahren bis zum 18. Lebensjahr, faire Aufnahmeverfahren, Zugang zu Bildung und Gesundheitssystem, das Ende der Abschiebungshaft für Minderjährige sowie ausreichende Sozialleistungen. Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht müssten abgeschafft werden.

Ein grundlegender Paradigmenwechsel sei nötig, sagte Heiko Kauffmann von Pro Asyl. »Deutschland muss nun beweisen, wie menschenrechts- und integrationsfreundlich es wirklich ist.« Kauffmann fürchtet inzwischen, dass die Bundesregierung nie die Absicht hatte, der Anerkennung der Kinderrechte rechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. Zu den zehn Forderungen des Bündnisses gehört auch das Ende der Meldepflicht für Schulen, Ärzte oder Behörden, wenn sich hilfesuchende Flüchtlinge ohne Aufenthaltsbefugnis an sie wenden. Das Kindeswohl müsse Vorrang haben und im Grundgesetz verankert werden, wofür sich auch LINKE, Grüne und SPD im Bundestag aussprechen.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juni 2011


Verdrehte Argumente

Von Katja Herzberg **

Bereits vor einem Jahr nahm die Bundesregierung aus Union und FDP für viele überraschend den Vorbehalt Deutschlands zur UN-Kinderrechtskonvention zurück. Sich daraus eigentlich zwingend ergebende Gesetzesänderungen folgten aber nicht. So symbolisch die Rücknahme der Erklärung war, die darauf hinauslief, dass in Deutschland Flüchtlingskinder schlechter behandelt werden als andere, so unverbindlich sind die Folgen geblieben. Dass die Bundesregierung nach 18 Jahren eine Erklärung zurücknahm, die von Anfang an dem Geist der Konvention widersprach, war – so stellt es sich nun immer mehr heraus – eben keine politische Kehrtwende, sondern eine reine Formalie.

Keine Formalie ist es allerdings, wenn deutsche Behörden weiter Asylanträge von Jugendlichen ablehnen, sie in Abschiebehaft stecken und in das Land zurückschicken, aus dem sie geflohen sind. Es sei das Recht der Betroffenen, für ihr Bleiberecht zu streiten, heißt es – das Recht von unter 18-Jährigen, die eben der UN-Konvention zufolge noch als Kinder gelten, der deutschen Sprache kaum mächtig, unerfahren mit den Schikanen deutscher Behörden?

Das Argument, Kindern werde hier immerhin das Recht von Erwachsenen eingeräumt, ist infam. Denn dies ist kein Recht, sondern eine Zumutung für die Betroffenen. So umgeht die Regierung notwendige Änderungen im Asylverfahren und Bleiberecht.

** Aus: Neues Deutschland, 1. Juni 2011 (Kommentar)


Internationaler Kindertag: Kein Grund zum Feiern

Von Sabine Zimmermann ***

Deutschland im Jahr 2011: 1,68 Millionen Kinder unter 15 Jahren – 15,3 Prozent – leben in einer »Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft«. In Ostdeutschland ist die Quote mit 25,7 Prozent fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (13,2 Prozent). Doch angeblich sind längst nicht alle diese Kinder benachteiligt: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich erklärt, nur acht Prozent der Kinder in der BRD seien arm. Eine Zahl, die verantwortlichen Politikern helfen dürfte, die Lage schönzureden.

Eine weitere Statistik sagt aus, die Zahl der Arbeitslosen liege derzeit bei unter drei Millionen. Tatsächlich sind mehr als vier Millionen Menschen betroffen, zählt man die Teilnehmer an Förder- und Fortbildungsmaßnahmen und vorruhestandsähnlichen Regelungen und die sogenannte stille Reserve hinzu. Dazu kommt, daß neue Jobs überwiegend im Niedriglohnbereich entstehen und so der ergänzende Bezug von Hartz IV weiter zunimmt. Diese Arbeitsmarktsituation bestimmt das Leben von immer mehr Kindern.

Besonders armutsanfällig sind Alleinerziehende und ihre Kinder. Im Januar 2011 lebten rund 626000 Alleinerziehende von Hartz IV, das sind 40 Prozent. Die Gründe: Sie gehen oft einer schlecht bezahlten Tätigkeit nach, arbeiten in Teilzeit und sind – insbesondere wegen fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten – besonders häufig erwerbslos. Das hat fatale Folgen für ihre Kinder: Armut ist vielfach prägend für das spätere Leben und setzt schnell einen Fahrstuhl nach unten in Gang.

Wollte die Bundesregierung ernsthaft etwas gegen Kinderarmut tun, müßte das soziale System bei Hilfebedürftigkeit wirklich existenzsichernd gestaltet werden. Kinder sind eben keine »kleinen Erwachsenen«, für deren Bedarf pauschal ein Prozentsatz der Hartz-IV-Leistungen für Erwachsene festgesetzt werden kann. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Doch statt die Regelsätze anzuheben, hat man das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket aufgelegt und damit ein bürokratisches Monstrum geschaffen. Vor diesem Hintergrund ist die derzeit geringe Zahl der Anträge auf Mittel aus dem Programm nicht verwunderlich, zumal eine echte Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben auch mit zehn Euro im Monat nicht möglich ist. Die Partei Die Linke fordert deshalb eine eigenständige Kindergrundsicherung, die unabhängig von Hartz IV macht. Weiter muß dem Lohndumping vieler Unternehmer durch Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von zehn Euro pro Stunde endlich der Garaus gemacht werden, um den Bezug ergänzender Hartz-IV-Leistungen zu beenden. Solange nichts dergleichen geschieht, wird der Internationale Kindertag kein Feiertag in unserem Land sein, sondern der Tag, an dem auf die traurige Lage vieler Familien hingewiesen werden muß.

* Die Autorin ist arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

*** Aus: junge Welt, 1. Juni 2011 (Gastkommentar)


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