Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von Liberia lernen

Von Stephan Hebel *

Fremdenfeinde tun so, als gälte es, Hab und Gut vor Flüchtlingen zu schützen. Auf die Not in Tunesien und anderen Ländern in Nordafrika reagieren sie mit Abschottungsreflexen.

Liberia muss ein sehr reiches Land sein. Es erlebt in seiner direkten Nachbarschaft einen furchtbaren Bürgerkrieg. Täglich fliehen Tausende aus der Elfenbeinküste. Mindestens 130.000, Stand vergangene Woche, sind in Liberia angekommen. Dort werden sie, berichten Hilfsorganisationen, von den Einheimischen sehr freundlich aufgenommen und versorgt, so gut es geht. Die Liberianer, heißt es, erinnerten sich an die eigene, konfliktreiche Vergangenheit und nähmen jene, die jetzt in Not sind, bereitwillig auf.

Dass die Regierung in Monrovia versucht hätte, die Trecks nach „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu durchsuchen, die man zurückschicken könnte, ist nicht bekannt. Es ist auch nicht bekannt, dass sich Liberia Wortgefechte mit den Freunden in Afrika geliefert hätte zu der Frage, wohin man die Gestrandeten weiterschieben könne oder nicht. Das muss wirklich ein reiches Land sein, bei so viel Großzügigkeit im Angesicht akuter Not.

Liberias Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei knapp 150 Euro im Jahr. In der Europäischen Union sind es 23.600 Euro. Sie ist also, vereinfacht gesagt, etwa 160-mal reicher als Liberia. Und hat nichts Besseres zu tun, als über 23.000 oder auch 26.000 Menschen aus Nordafrika zu streiten, die bei uns Zuflucht suchen. Beziehungsweise darüber, wie man sich diese Menschen am besten vom Leibe hält.

Wer auf die europäische Bühne schaut, sollte sich nicht täuschen lassen. Silvio Berlusconi und die deutsche CSU, angeführt vom Bundesinnenminister, mögen einen europaschädlichen Streit inszenieren, doch sie stehen gemeinsam auf der Seite der Abschotter und Rausschmeißer. Keiner von beiden Seiten geht es darum, wenigstens für den Moment der akuten Nordafrika-Krise humanitäre Erwägungen in den Vordergrund zu stellen. Niemand hat vor, den gestern noch so gelobten Tunesiern zu demonstrieren, dass die Demokratie und die Freiheit, für die sie kämpften, auch humanitäre Pflichten enthält, die wir gern erfüllen. Niemand möchte wenigstens in der Münze der Großzügigkeit dafür bezahlen, dass wir Libyen und andere Länder als Bollwerke an den europäischen Außengrenzen benutzten, weil ihre Despoten die Menschen von der Freiheit ausschlossen, selbst von der Freiheit, übers Meer zu reisen.

Nichts von alledem. Nicht bei Berlusconi, der die auf Booten anlandenden Gruppen von Tunesiern mit einem „Tsunami“ vergleicht (was ihn von gewissenlosen Politikern und Medien leider nur graduell unterscheidet, die sich in „Strömen“ und „Wellen“ ergehen). Nichts von Humanität und Wiedergutmachung auch bei Hans-Peter Friedrich und seinen CSU-Kollegen. Sie fantasieren allen Ernstes von geschlossenen Grenzen (wegen eines Schnitts von 1000 potenziellen Einwanderern pro EU-Land!). Sie missbrauchen den Gedanken der innertunesischen Solidarität, indem sie treuherzig verkünden, dass die Menschen doch jetzt zu Hause gebraucht würden. Sie beschwören die Abwehrhaltung der eigenen Bevölkerung, die sie vorher geschürt haben. Sie beklagen vollkommen zu Recht das Schlepper-Wesen, sind aber entschlossen, jeden hinauszuwerfen, der auf anderem Wege zu kommen versucht.

Nichts ist falsch an dem Ansatz, den Menschen in Nordafrika zu Hause zu helfen, damit sie eine Perspektive gewinnen. Er wäre sogar der Schlüssel dazu, allen Beteiligten – den Flüchtlingen zuerst! – die Probleme der Armuts-Migration zu ersparen. Aber haben die EU-Innenminister, haben gar Italien und Deutschland am Montag über einen großen ökonomischen Rettungsschirm für die entstehenden Demokratien Nordafrikas gesprochen? Haben sie ein nennenswertes Kontingent Tunesier an europäische Hochschulen, in europäische Betriebe eingeladen, um sich fitzumachen für ein erfolgreiches Leben zu Hause?

All das haben sie nicht, und deshalb haben sie kein Recht, den Leuten das Zuhausebleiben zu empfehlen. Sie benutzen diesen Hinweis nur für ihre schäbige Abschottungs-Politik. Sie opfern die Werte, für die viele Nordafrikaner kämpften und kämpfen, ihrem Abwehr-Wahn, während ein deutscher Polizeigewerkschafter von der europäischen Küstenwache träumt. Was würde sie kosten, diese Marine zur Bekämpfung des „Feindes“ Flüchtling? Wie viel Aufbau in Nordafrika könnte man finanzieren mit dem gleichen Geld?

Wer demnächst in Tunesien oder anderswo für Demokratie und Freiheit kämpft, sollte sich dieses Europa nicht zum Vorbild nehmen. Eher schon Liberia.

* Dieser Leitartikel erschien in der Frankfurter Rundschau vom 12. April 2011. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
FR im Internet: www.fr-online.de



Zurück zur Seite "Migration, Flucht und Vertreibung"

Zur EU-Europa-Seite

Zur Liberia-Seite

Zurück zur Homepage