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Perfekte Abschottung

EU bekämpft Migranten, statt gegen die Ursachen von Flucht vorzugehen. FRONTEX kontrolliert Mittelmeere. Überwachung mit Drohnen und Satelliten

Von Ulla Jelpke *

Die Abschottung der Europäischen Union gegen die Opfer der Globalisierung schreitet weiter voran. Mit dem Aufbau eines neuen Überwachungssystems für das Mittelmeer wird die sogenannte Migrationskontrolle technisch perfekter. Zugleich werden die umliegenden Herkunfts- und Transitstaaten für Hilfsdienste bei der Abwehr von Flüchtlingen eingespannt.

Eine zentrale Rolle beim Bemühen der EU, Flüchtlinge spätestens an den Außengrenzen abzufangen, spielt FRONTEX. Die »Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union« kann, seitdem Ende 2011 eine neue Verordnung der EU in Kraft getreten ist, in eigener Verantwortung Einsatzgeräte wie beispielsweise Schiffe, Hubschrauber und insbesondere Drohnen beschaffen. Entscheidend für die künftige Rolle der Agentur ist aber, daß ihr Kerngeschäft ausgebaut wird: Die Erstellung von »Risikoanalysen«. FRONTEX soll ein verbindliches Risikoanalysemodell für alle Mitgliedsstaaten entwickeln und deren Arbeit beim Grenzschutz bewerten.

Der Einfluß der Agentur auf die Entscheidungen der EU-Staaten wird damit weiter zunehmen. Schon heute hat Frontex einen Informationsvorsprung, weil es die zentrale Koordinierungsstelle zwischen den einzelnen Ländern ist und deren jeweilige Erkenntnisse zum Geschehen an den Grenzen bündelt. Vor allem die EU-Mitglieder an den Außengrenzen der Gemeinschaft stehen unter erheblichem Druck, die Erkenntnisse von Frontex strategisch und operativ umzusetzen.

Der Ausbau der »Risikoanalyse« wird diesen Druck erhöhen. Dabei geht es – selbstverständlich – nicht darum, das Risiko für Flüchtlinge bei ihrer Flucht in die EU zu bewerten, sondern darum, daß ihnen diese Flucht womöglich gelingen könnte. Das wollen die Grenzschützer verhindern. Die neuen Analysemöglichkeiten sollen sie in die Lage versetzen, vorherzusagen, wie zukünftige Migrationsbewegungen aussehen werden. Also: Welche Routen nehmen Flüchtlinge zum jeweils aktuellen Zeitpunkt, wie ist die Situation in den Ausgangs- und Transitstaaten, an welchen Orten ist zu welchem Zeitpunkt mit einem Eintreffen von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze zu rechnen? Wenn diese Daten bekannt sind, könnten die Polizeiverbände des jeweiligen EU-Staates rechtzeitig und zielgenau an die Grenze beordert werden. Das wäre natürlich effektiver, als über lange Zeiträume große Ressourcen an Personal und Material an Orten einzusetzen, an denen dann womöglich nichts passiert. Bei etwaigen »besonderen Belastungen« könnte FRONTEX auch die »Europäischen Grenzschutzteams« aus Beamten anderer Mitgliedsstaaten, einer Art gemeinsamer Abwehrtruppe, anführen.

Mammutprojekt EUROSUR

Der Mechanismus, die Überwachung der Außengrenzen zu europäisieren, ohne in die formalen Hoheitsrechte der Mitgliedsstaaten einzugreifen, wird durch das »Europäische Grenzkontrollsystem« (EUROSUR) noch verstärkt. Das System, das im kommenden Jahr in Betrieb gehen soll, dient der Überwachung der südlichen Meeresgrenzen (einschließlich des Schwarzmeers) und der östlichen Landgrenzen. Technisch besteht es aus Überwachungsstationen an den Küsten, Drohnen und Satelliten. Deren Daten werden zunächst in den 18 »Nationalen Lagezentren« mit den sonstigen Erkenntnissen von Grenzschützern, des Militärs und von Geheimdiensten gebündelt. Im FRONTEX-Lagezentrum wird all das mit allerlei anderen Daten – aus der EU-Fischereiaufsicht, dem EU-Seesicherheitsnetzwerk und dem EU-Satellitenzentrum – abgeglichen, und Lagebilder werden erstellt. Diese sollen helfen, Flüchtlingsbewegungen und Formen der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität früh erkennen und so effizienter bekämpfen zu können. Der Aufbau des Systems kostet um die 1,1 Milliarden Euro. Die rechtlichen Grundlagen werden voraussichtlich noch in diesem Jahr geschaffen, der Aufbau des technischen Apparates wird dank der zahlreichen Vorarbeiten durch FRONTEX nur wenig Zeit in Anspruch nehmen. Das Europäische Parlament muß der Verordnung noch zustimmen, hat aber kaum Handlungsspielraum. Dort wird vor allem gefordert, EUROSUR auch für die Seenotrettung zu nutzen. Doch auch das wird kaum verhindern, daß mit der Etablierung des Systems der Zugang zu Asyl in der EU faktisch komplett ausgehebelt wird – Flüchtlingsboote sollen schon nach dem Ablegen in den südlichen Mittelmeerhäfen identifiziert und abgefangen werden.

Abwehr und Überwachung

Die Einbindung der südlichen Mittelmeeranrainer ist zentral für die Abschottungspolitik der EU, auch heute schon. Tunesien beteiligt sich bereits nach Kräften an der EU-Migrationsabwehr. So wurde Mitte September ein Boot mit 140 Flüchtlingen noch in tunesischen Gewässern gestoppt und zur Rückkehr gezwungen. Auch mit den neuen Machthabern in Libyen wird die alte Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle fortgesetzt – inklusive der Internierung in Gefängnissen und Flüchtlingslagern, in denen die Menschen wehrlos Gewalt und Willkür der Sicherheitskräfte ausgesetzt sind.

Die neoimperiale Außenwirtschaftspolitik der EU erzeugt Migration und Flucht – bekämpft werden soll sie von jenen Staaten, deren Eliten selbst nur als Vasallen der EU überlebensfähig sind. Als humanitäres Feigenblatt will die EU die Aufnahme von Schutzsuchenden in Ägypten, Libyen und Tunesien im Rahmen eines sogenannten »Regionalen Schutzprogramms« verbessern. Ziel ist die Verbesserung der Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge. Die EU will damit die Lasten abwälzen, die aus der Aufnahme von Schutzsuchenden und Flüchtlingen entstehen. Erfahrungen mit solchen »Schutzprogrammen« in der Ukraine zeigen allerdings, daß sich an der Lage der Schutzsuchenden nichts ändert – außer, daß sie in moderneren Auffanglagern untergebracht werden, gesponsert von der EU.

Trotz perfektionierter Grenzüberwachung, kollaborierender Transitstaaten und Todesgefahr werden Menschen weiterhin versuchen, nach Europa zu gelangen. Sowohl die griechischen, aber auch die italienischen, maltesischen und zypriotischen Behörden greifen deshalb auf das althergebrachte Mittel der Abschreckung zurück. Menschenrechtler berichten über nächtliche Schüsse griechischer Marineeinheiten auf die Motoren nicht identifizierter Boote und Schiffe. Wer es dennoch auf dem Land- oder Seeweg in die griechischen Auffanglager schafft, dem droht dort menschenunwürdige Behandlung. Das räumen selbst deutsche Behörden ein. Dennoch wird die griechische Flüchtlingsabwehr nach Kräften gefördert, auch über den Einsatz deutscher Beamter unter der Ägide von FRONTEX. Die Agentur koordiniert die Einsätze von Grenzschützern anderer EU-Staaten, in deren Folge abgefangene Migranten in die Aufnahmezentren gebracht werden; dort ist FRONTEX de facto Herr über das Identifizierungsverfahren und versucht über Verhöre der Migranten, Informationen über ihre Routen und ihre Unterstützer zu erhalten. Diese Informationen fließen schließlich wieder in die Risikoanalysen und die Operationspläne von FRONTEX ein. Die Agentur schafft ein System der Abschottung, das selbst die Opfer dieser Abschottung noch für ihr Funktionieren instrumentalisiert.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke

Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


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