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Flüchtlinge bleiben randständig

Auch nach dem schweren Bootsunglück vor Lampedusa ist keine Wende in der EU-Asylpolitik in Sicht

Von Anna Maldini, Rom

Die Mittelmeerstaaten fordern mehr Unterstützung bei Rettung und Aufnahme von Asylsuchenden. Die Flüchtlingspolitik steht zwar nun auf der Agenda des EU-Gipfels, doch nur ganz am Ende.

»Wir wollen uns nicht mit der Europäisierung der Gleichgültigkeit zufrieden geben!« Mit diesen Worten beschrieb Italiens Ministerpräsident Enrico Letta die Position zur Flüchtlingsproblematik, die er an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel vertreten will. Europa solle mehr Verantwortung übernehmen und dürfe Italien nicht allein lassen.

Seit Wochen vergeht kein Tag, an dem nicht mindestens ein Flüchtlingsboot den gefährlichen Weg über das Mittelmeer antritt. Auf Lampedusa – aber auch an der Südküste Siziliens und in Kalabrien – kommen Hunderte verzweifelte Menschen an, die in Europa Zuflucht und Schutz suchen. Aber Hunderte, Tausende ertrinken bei der Überfahrt; das Mittelmeer ist inzwischen in ein »Meer des Todes« verwandelt.

Nicht viel besser ergeht es den Überlebenden. Sie sind in vollkommen überfüllten und verdreckten Auffanglagern zusammengepfercht; ihre Identifizierung oder die Bescheidung ihrer Asylanträge braucht nicht selten Monate, Familien werden auseinandergerissen. Die meisten Flüchtlinge, die in Italien landen, möchten das Land so schnell wie möglich verlassen, nach Skandinavien, Frankreich oder Deutschland, weil sie dort Angehörige haben.

Die Tragödie vor Lampedusa vom 3. Oktober, bei über der 350 Menschen ums Leben gekommen sind – immer noch werden auf der Insel Leichen angespült – schien Italien und Europa wach gerüttelt zu haben. Aber inzwischen ist wieder Alltag eingekehrt. Enrico Letta hat vor einem nur mäßig besetzten Parlament seine Forderungen für den EU-Gipfel vorgestellt: Die EU soll anerkennen, dass das Drama von Lampedusa ganz Europa betrifft; das Überwachungsprogramm Eurosur und die Grenzschutzagentur Frontex sollen mit Sofortmaßnahmen ihre Arbeit aufnehmen bzw. gestärkt werden; die EU muss einen Plan darüber erarbeiten, wie man mit den Flüchtlingen umgeht und wer sie aufnimmt; und schließlich soll im Dialog mit den Ländern am südlichen Ufer des Mittelmeeres darüber verhandelt werden, wie man den Schlepperbanden Einhalt gebieten kann.

Allerdings gibt es auch in Lettas Regierung ganz unterschiedliche Akzentsetzungen in Bezug auf die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Innenminister Angelino Alfano von der Rechtspartei Volk der Freiheit (PdL) erklärte, Italien müsse zuerst an seine Staatsbürger denken und ihnen eine würdevolle Zukunft sichern. Erst dann könne man sich um »die Ausländer« kümmern. Er sprach sich dagegen aus, den Straftatbestand der illegalen Einwanderung abzuschaffen.

Dessen Streichung verlangt Cecile Kyenge, die demokratische Integrationsministerin mit kongolesischen Wurzeln. Der Paragraf halte niemanden auf, sein Land zu verlassen, wenn er dort verfolgt wird oder keine Zukunft sieht. Gemeinsam mit Kammerpräsidentin Laura Boldrini setzt sich Kyenge für die Schaffung »humanitärer Korridore« ein, sodass Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern oder in Auffanglagern Asyl beantragen können und sicher nach Europa gebracht werden.

Neben Italien wollen auch andere Mittelmeer-Anrainer erneut auf eine »Lastenteilung« in Europa pochen. »Das humanitäre Problem erfordert eine europäische Lösung«, erklärten die Regierungschefs von Malta und Griechenland, Joseph Muscat und Antonis Samaras, am Montag.

Nach geltenden Regeln ist das EU-Land für die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen zuständig, in dem die Ankömmlinge zuerst die EU erreichen. Allen voran die Bundesregierung sträubt sich, dies zu ändern.

So wird es wohl wieder nur bei warmen Worten bleiben: Im Entwurf der Abschlusserklärung des Rats heißt es in Bezug auf die Flüchtlingsunglücke, »mehr muss getan werden, um zu vermeiden, dass dies jemals wieder passiert«. Noch am Dienstag gaben die EU-Mitgliedstaaten endgültig grünes Licht für die Inbetriebnahme von Eurosur. Anfang Dezember soll das Grenzüberwachungssystem in Betrieb genommen werden.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 24. Oktober 2013


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