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Abschottung kostet Leben

Bundesregierung gibt erstmals Auskunft zu Todesopfern unter Flüchtlingen

Von Ulla Jelpke *

Die weitgehende Abschottung der EU-Außengrenzen kostet Menschenleben. Das geht jetzt auch aus Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervor.

Jeweils zu Jahresbeginn fordert die Fraktion der Linken Informationen zu Todesopfern unter Flüchtlingen ein, die auf dem Weg in die Bundesrepublik oder in die Europäische Union waren. Die Antwort der Bundesregierung war stets einsilbig: Man habe »keine amtlichen Erkenntnisse«, hieß es. Dieses Mal hat die Fraktion explizit auch nach nicht amtlichen Erkenntnissen gefragt, die etwa über die Abschottungsagentur Frontex zugeleitet werden. Und erstmals gibt es konkrete Zahlen, auch wenn dabei mit Sicherheit eine hohe Dunkelziffer existiert.

So haben Bundespolizisten, die in Griechenland eingesetzt waren, über ein Bootsunglück berichtet, das sich am 14. Dezember in der Ägäis ereignet hat: Auf der Überfahrt nach Lesbos waren 21 Personen ertrunken, weitere sechs blieben vermißt. Ein einziger Flüchtling hat das Drama überlebt. Das Boot war von der Türkei aus gestartet und bei schwerer See gekentert.

Ein weiteres Schiffsunglück hat sich am 6. September ebenfalls in der Ägäis ereignet: 62 Menschen, darunter neben zwei türkischen Schleusern Flüchtlinge aus den palästinensischen Gebieten, Syrien und dem Irak, die nach Großbritannien wollten, ertranken bei der Überfahrt nach Griechenland. Ihr Boot sank, weil es hoffnungslos überladen war; die Schleuser hatten zudem die Flüchtlinge unter Deck eingesperrt.

Aus Spanien berichtet die Bundesregierung, daß dort 17 Flüchtlinge aus dem Wasser geborgen bzw. an den Küsten aufgefunden worden sind. Dem italienischen Innenministerium wurden 28 Todesfälle gemeldet. Die Gesamtzahl der in der Antwort auf die parlamentarische Anfrage angegebenen Toten und Vermißten beläuft sich auf 183.

In einer Pressemitteilung kritisierte die Linksfraktion die anhaltende Weigerung der Bundesregierung, eigene Erkundungen darüber anzustellen, wie viele Flüchtlinge auf dem Weg in die EU bzw. in die Bundesrepublik sterben oder verletzt werden. Die gemachten Angaben stützen sich ausschließlich auf Berichte einzelner Bundespolizisten, von Frontex oder Erhebungen italienischer und spanischer Behörden. Dabei ist grundsätzlich bekannt, daß Migranten auch beim Versuch, in die BRD zu gelangen, sterben und verletzt werden, für das Jahr 2011 zählt etwa die Berliner Antirassistische Initiative drei Tote und 13 Verletzte. Die Bundesregierung flüchtet sich hier in die Standardfloskel, es lägen »keine amtlichen Erkenntnisse vor.«

Die nun quasi inoffiziell ermittelte Zahl von 183 Toten im Jahr 2012 erfaßt jedenfalls nur einen Bruchteil der tatsächlichen Todesopfer an den EU-Außengrenzen. Denn alleine die Zahl der im Rahmen von Frontex-Operationen aus Seenot geretteten Personen beläuft sich jährlich auf 33000 – aber für diejenigen, die nicht gerettet werden, gibt es keine »amtliche« Statistik. »Es ist davon auszugehen, daß die Abschottung der Wohlstandsfestung EU jährlich Tausende Menschen das Leben kostet«, so die Linksfraktion in ihrer Presseerklärung. Sie fordert, Flüchtlingen den vereinfachten Zugang zu Asylverfahren zu gewährleisten, anstatt sie auf lebensgefährliche Routen über das Meer zu zwingen.

* Aus: junge Welt, Montag 11. Februar 2013


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