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Nicht mehr als Worte der Hilfsbereitschaft

Bundesregierung soll mehr syrische Flüchtlinge aufnehmen / Europäisches Grenzregister vereinbart

Von Christian Klemm *

Die Nachbarländer Syriens sind mit den vielen Flüchtlingen am Rand ihrer Aufnahmekapazität. Die Bundesrepublik könnte helfen, tut es aber bisher kaum.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat die Innenminister der Länder auf ihrer Konferenz in Osnabrück wegen der katastrophalen Lage syrischer Flüchtlinge zum Handeln aufgefordert. »Zwischen den Worten der Hilfsbereitschaft und der Realität klafft eine große Glaubwürdigkeitslücke«, erklärte der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation, Günter Burkhardt. Die von der Evangelischen Kirche im Rheinland geforderte Aufnahme von 100 000 Schutzsuchenden hält Burkhardt für machbar. Auch der Geschäftsführer des niedersächsischen Flüchtlingsrates, Kai Weber, übte Kritik an der Bundesregierung: »Angesichts der unfassbaren Tragödien, denen die Flüchtlinge ausgesetzt sind, bewegen sich die Aufnahmen Deutschlands zurzeit allenfalls im symbolischen Bereich.«

Die Bundesrepublik hat bisher zugesichert, ein Kontingent von 5000 syrischen Schutzsuchenden aufzunehmen. Außerdem sind seit 2011 mehr als 18 000 Syrer auf eigene Verantwortung als Asylbewerber in die Bundesrepublikeingereist. Wegen der seit mehr als zweieinhalb Jahren andauernden Kämpfe zwischen Regierung und Aufständischen sind aus Syrien mehr als zwei Millionen Menschen geflüchtet, rund vier Millionen sind innerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht.

Auch Amnesty International (AI) warf der Bundesregierung vor, sich nicht ausreichend für Flüchtlinge zu engagieren. Sie müsse sich dafür einsetzen, dass die Abschottungspolitik in Europa aufhöre, erklärte AI-Expertin Imke Dierßen. Spätestens seit den Bootskatastrophen vor der italienischen Insel Lampedusa hätte es eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik geben müssen. »Europa kann und muss hier noch mehr tun.« Das gelte besonders für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge.

Appelle wie dieser scheinen bei den Verantwortlichen in Europa nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen. Eine Expertengruppe der EU hat nun vorgeschlagen, die Präsenz der Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer zu verstärken. Auch der Kampf gegen Schleuserbanden soll verschärft werden, zum Beispiel durch die Polizeibehörde Europol.

Die künftige Bundesregierung aus Union und SPD will derweil nicht untätig bleiben. Im Koalitionsvertrag wurde Zustimmung zu einem europäischen Grenzregister vereinbart. Darin sollen die Fingerabdrücke von allen Ausländern gespeichert werden, die nicht dauerhaft im Schengen-Raum leben.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Dezember 2013


Stunde der Scharfmacher

Deutsche und europäische Innenminister beraten über eine Stärkung der Geheimdienste und Abwehr von Flüchtlingen

Von Ulla Jelpke **


Das angelaufene NPD-Verbotsverfahren, die Reform des Verfassungsschutzes, Maßnahmen gegen gewalttätige Fußballfans sowie der Umgang mit Flüchtlingen sind einige Themen der am Mittwoch abend angelaufenen Innenministerkonferenz (IMK) in Osnabrück. Hinter dem Punkt »Handlungsempfehlungen der Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus« verbirgt sich der als Lehre aus dem Versagen der Sicherheitskräfte gegenüber der Neonaziterrorgruppe NSU geplante Umbau der sogenannten Sicherheitsarchitektur. Doch anstelle einer angesichts der tiefen Verstrickung des Verfassungsschutzes in das braune Netzwerk eigentlich logischen Auflösung des Geheimdienstes zielt die Verfassungsschutzreform auf eine Stärkung des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegenüber den Landesgeheimdiensten. Zudem soll die gegen das grundgesetzliche Trennungsverbot verstoßende Zusammenarbeit und der Datenaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz verbessert werden.

Nachdem die Länder am Dienstag beim Bundesverfassungsgericht das Verbot der faschistischen NPD beantragt haben, wollen die Innenminister nun beraten, ab wann die V-Leute des Verfassungsschutzes in der faschistischen Partei wieder reaktiviert werden. Die Agenten waren abgeschaltet worden, um das Verfahren nicht zu gefährden. »Ich bin dafür, es bei dem Ist-Zustand zu belassen, bis eine Entscheidung aus Karlsruhe vorliegt«, sprach sich Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD) dafür aus, auf die Spitzel während der gesamten Verfahrensdauer zu verzichten.

Ein härteres Vorgehen gegen gewalttätige Fußballfans steht ebenfalls auf der Tagesordnung. Nicht nur auf Hooligans, sondern auch auf »Schwarze Blocks« anwendbar wäre der vom IMK-Vorsitzenden und niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) im Interview mit der Rheinischen Post geäußerte Vorschlag zur Wiedereinführung des Straftatbestandes »Tumult«. Damit könnte jeder, der sich in einem »gewalttätigen Mob« bewegt, bestraft werden, auch wenn ihm keine Gewalttaten nachzuweisen sind. Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) will sich für Verbrecherjagd auf Facebook stark machen. Kritiker wie die Hamburger Grünen-Fraktion sehen bei dieser bereits vom Bundeskriminalamt und drei Landesregierungen genutzten Fahndungsmethode die Gefahr, daß »Verdächtige an den öffentlichen Pranger« gestellt werden, »was zu einer unkontrollierten Hetzjagd im Netz führen kann«.

Zeitgleich mit der deutschen Innenministerkonferenz tagt in Brüssel der Rat der Justiz- und Innenminister der Europäischen Union. Erörtert werden soll ein Bericht der »Task Force Mittelmeer«, die als Reaktion auf den Tod von mehreren hundert afrikanischen Flüchtlingen am 11. Oktober vor der italienischen Insel Lampedusa eingerichtet wurde. Deren Gegenstand ist allerdings nicht die überfällige Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik durch eine gerechte Verteilung der Flüchtlingsaufnahme, sondern die weitere Verlagerung von Maßnahmen zur Eindämmung von Flüchtlingsbewegungen in die Flucht- und Transitländer. So fordert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), daß die nordafrikanischen Staaten mit europäischer Unterstützung effektiver gegen Schlepperbanden vorgehen sollten.

Weiteres zentrales Thema wird die ab 2014 geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren im Schengen-Raum sein. Als Scharfmacher trat der konservative britische Premierminister David Cameron auf: In einem Gastbeitrag für die Financial Times forderte er, »die Freizügigkeit innerhalb der EU muß weniger frei sein«. Wenn EU-Ausländer nicht arbeiten, sondern »betteln oder im Freien schlafen, dann werden sie entfernt«, heißt es in der Kolumne, die explizit Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien angreift. Unterstützung bekommt Cameron von Bundesinnenminister Friedrich, der vor einer massiven »Armutseinwanderung« aus diesen Ländern und dem Mißbrauch der Freizügigkeit für Sozialhilfebetrug warnt. Die Kommission sei aufgerufen, auf die »berechtigten Sorgen und Probleme der Mitgliedsstaaten zu reagieren«, heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Es gehe um Maßnahmen wie »befristete Wiedereinreisesperren« gegen den »Mißbrauch des Freizügigkeitsrechts auf der Grundlage des europäischen Rechts«. EU-Justizkommissarin Viviane Reding warf Friedrich bereits »Bierzeltparolen« vor. »Kein einziger Mitgliedsstaat konnte bislang Beweise vorlegen, daß es Sozialtourismus gibt«, heißt es aus dem Büro von EU-Sozialkommissar Laszlo Andor.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Dezember 2013


Migranten unter Generalverdacht

Christian Klemm über ein Register für Flüchtlinge in Europa ***

Viel ist in den vergangenen Monaten über die »Festung Europa« berichtet worden. Auslöser waren mehrere gekenterte Boote im Mittelmeer mit hunderten Toten; es handelte sich vorwiegend um afrikanische Flüchtlinge. Doch statt den Weg einer humanen Flüchtlingspolitik einzuschlagen, verstärkt die Europäische Union die Repression gegen Schutzsuchende. Sie will verhindern, dass den Behörden »Illegale« in den Mitgliedsländern durch die Lappen gehen. Und zwar durch ein elektronisches Grenzregister, in dem die Fingerabdrücke aller Ausländer mindestens sechs Monate gespeichert werden, die in den Schengen-Raum einreisen. Die künftige Große Koalition hat das Register in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Ob das mit einem liberalen Koalitionspartner möglich gewesen wäre, darf bezweifelt werden.

Bei diesem Projekt werden riesige Mengen an biometrischen Daten erfasst – Vorratsdatenspeicherung im großen Stil. Was mit den Daten passiert und wer darüber verfügen kann, steht in den Sternen. Eine Garantie, dass die Geheimdienste darauf keinen Zugriff haben, wird es vermutlich nicht geben. Schließlich könnte man in einem Afrikaner, der es in die »Festung Europa« geschafft hat, oder in einem Araber, der Verwandte in Deutschland besuchen möchte, einen Schläfer von Al Qaida vermuten. Verstärkte Kontrollen von Menschen mit »ausländischem Aussehen« dürften eine Folge des neuen Registers sein. Migranten stehen damit praktisch unter Generalverdacht.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Dezember 2013 (Kommentar)


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