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44 Millionen Menschen auf der Flucht

Mit 600 000 ist Deutschland das Industrieland mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen *

Die meisten Flüchtlinge weltweit leben einer UN-Studie zufolge in Entwicklungsländern. Das geht aus einem Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor, der anlässlich des Weltflüchtlingstages am heutigen Montag veröffentlicht wurde.

Der Weltflüchtlingstag geht in diesem Jahr einher mit dem 60-jährigen Bestehen des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und dem 60. Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention einen Monat später, am 28. Juli. Grund zum Feiern gibt es nicht, wie der aktuelle Report zeigt. Die meisten Flüchtlinge weltweit leben der UNHCR-Studie zufolge in Entwicklungsländern. 80 Prozent der insgesamt 43,7 Millionen Menschen, die im vergangenen Jahr als Binnenvertriebene oder als aus ihrem Land Geflüchtete galten, lebten in den ärmsten Ländern der Welt, hieß es in dem Bericht. In Pakistan lebten 2010 demnach 1,9 Millionen Menschen auf der Flucht, in Iran und in Syrien jeweils etwa eine Million.

In vielen Industriestaaten hätten dagegen die Vorbehalte gegen Flüchtlinge »deutlich zugenommen«, berichtet das UNHCR. Deutschland sei das Industrieland mit der höchsten Zahl an aufgenommenen Flüchtlingen, 2010 waren knapp 600 000 registriert. Irak, Somalia, die Demokratische Republik Kongo und Sudan zählen seit zehn Jahren zu den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen.

Der Bericht zeigt, dass immer mehr Flüchtlinge über einen langen Zeitraum auf der Flucht bleiben. 2010 waren 7,2 Millionen Menschen bereits fünf Jahre oder länger gezwungen, im Exil zu leben. Das waren so viele wie in den vorangegangenen zehn Jahren nicht mehr. Zudem konnten vergangenes Jahr so wenige Flüchtlinge wie zuletzt 1990 in ihr Heimatland zurückkehren – lediglich rund 200 000. Von den Binnenvertriebenen schafften es immerhin fast drei Millionen aus anderen Landesteilen zurück in ihre Heimatregion, beispielsweise in Pakistan, der Demokratischen Republik Kongo und Kirgistan.

Seit Monaten dauert die NATO-Offensive in Libyen an, ohne dass sich ein Kriegsende abzeichnet. Allein ins Nachbarland Tunesien sind seit Kriegsbeginn über 400 000 Menschen verschiedener Nationalitäten geflohen. Laut Internationaler Organisation für Migration sind es gar über 960 000, die meisten davon schwarzafrikanische Migranten, die auf der Suche nach Schutz vor den Kämpfen das Land verlassen haben.

Die Bereitschaft der Krieg führenden Staaten, sich solidarisch um die Flüchtlinge zu kümmern, hält sich indessen in engen Grenzen. Für UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres war das Anlass, die internationale Gemeinschaft vor dem Weltflüchtlingstag zu mehr Unterstützung für Tunesien bei der Versorgung der Libyen-Flüchtlinge aufzurufen. »Ich danke dem tunesischen Volk und der tunesischen Regierung für ihre Gastfreundschaft und ihre beeindruckenden Anstrengungen zum Wohle der libyschen Flüchtlinge«, sagte Guterres nach einem Treffen mit dem tunesischen Außenminister Mouldi Kefi vor Journalisten.

In Sachen Libyen stießen die bisherigen Appelle der UNHCR auf bescheidene Resonanz: Nur für rund 60 Prozent der veranschlagten 80,6 Millionen Dollar gibt es bisher Zusagen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Juni 2011


Wohlstand verpflichtet

Von Fabian Lambeck *

Wenn man die aktuellen Zahlen des UNHCR nur oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, Deutschland sei so etwas wie Importweltmeister in Sachen Flüchtlinge. Doch weit gefehlt. Zwar leben hierzulande rund 600 000 Flüchtlinge, doch viele ärmere Staaten haben in den vergangenen Jahren weitaus höhere Kontingente zu schultern gehabt. Wenn im bettelarmen Pakistan beinahe zwei Millionen Immigranten aus Afghanistan leben, dann werden die Dimensionen deutlich.

Fakt ist: Wer vor Krieg oder Hunger flieht, bleibt meistens im eigenen Land oder schafft es gerade einmal in den Nachbarstaat. In den reichen Westen gelangen nur die Allerwenigsten. Vor allem weil sich die Europäische Union – und damit auch Deutschland – gegen Flüchtlinge weitgehend abschottet. Wer nach Deutschland fliehen will, muss nicht selten sein Leben riskieren. Und auch wem das Wunder gelungen ist, hierzulande einen Asylantrag zu stellen, darf sich noch lange nicht in Sicherheit wähnen. Die Tücken des deutschen Asylrechts haben schon so manchen Bürgerkriegsflüchtling in die Verzweiflung getrieben. Ebenso wie das von einem ekelhaften Wohlstandschauvinismus genährte Misstrauen, das Flüchtlingen vielfach entgegenschlägt. Der Report des UNHCR belegt auch, dass die Bürger des reichen Westens immer weniger gewillt sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei sollte uns der Wohlstand zur Hilfe verpflichten.

** Aus: Neues Deutschland, 20. Juni 2011 (Standpunkt)

Weltflüchtlingszahlen 2010

80 Prozent aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern, 19 Juni 2011

Genf/Berlin – Vier von fünf Flüchtlingen weltweit leben in Entwicklungsländern. Dies ist die Kernaussage des UNHCR-Jahresberichts 'Global Trends 2010'. Die Studie zeigt ein großes Ungleichgewicht bei der globalen internationalen Unterstützung für Flüchtlinge und Vertriebene auf.

In zahlreichen Industriestaaten nehmen Vorbehalte gegen Flüchtlinge deutlich zu. Laut dem UNHCR-Bericht haben jedoch viele der ärmsten Länder der Welt eine besonders große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. Dies zeigt sich in absoluten Zahlen, aber auch in Relation zu ihrer Wirtschaftsleistung. Die größten Flüchtlingsbevölkerungen der Welt lebten im letzten Jahr in Pakistan (1,9 Mio.), Iran (1,1) und Syrien (1,0).

Um die relativen Belastungen der Staaten bei der Unterstützung von Flüchtlingen genauer zu bestimmen, hat UNHCR die Zahl der registrierten Flüchtlinge auf jeweils einen US-Dollar des nationalen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts (die sog. Kaufkraftparität) des Aufnahmelandes umgerechnet. Danach kommen in Pakistan 710 Flüchtlinge auf jeden Dollar des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts, in der Demokratischen Republik Kongo sind es 475, in Kenia 247. Zum Vergleich: In Deutschland, dem Industrieland mit der höchsten Zahl an Flüchtlingen (594.000), kommen 17 Flüchtlinge auf einen Dollar des Pro-Kopf-Bruttoinlandsproduktes.

43,7 Millionen Menschen auf der Flucht

Bei der Gründung von UNHCR vor 60 Jahren kümmerte sich die Organisation um 2,1 Millionen Europäer, die infolge des Zweiten Weltkrieges entwurzelt worden waren. Heute ist UNHCR in mehr als 120 Staaten tätig. Die Arbeit gilt nicht nur Flüchtlingen, die eine internationale Grenze überquert haben, sondern auch Binnenvertriebenen. Insgesamt waren im letzten Jahr rund 43,7 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies entspricht der Bevölkerung von Kolumbien oder Südkorea - oder jener von Skandinavien und Sri Lanka zusammengenommen.

Die Gesamtzahl setzt sich zusammen aus 15,4 Millionen Flüchtlingen (10,55 Millionen unter dem Schutz von UNHCR, 4,82 Millionen erhalten Unterstützung von UNRWA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten); 27,5 Millionen Binnenvertriebenen, die aufgrund von Konflikten in ihrem eigenen Land heimatlos wurden, und nahezu 850.000 registrierten Asylsuchenden, 20 Prozent davon befinden sich alleine in Südafrika. Weltweit wurden 15.500 Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen gestellt. Sie stammen zumeist aus Somalia oder Afghanistan.

Der Bericht deckt dabei nicht die aktuellen Fluchtbewegungen des Jahres 2011 wie aus Libyen, Côte d’Ivoire und Syrien ab. "In der heutigen Welt existieren Besorgnis erregende Fehleinschätzungen über Flüchtlingsbewegungen und den Grundlagen für ihren internationalen Schutz", sagte António Guterres, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. "Ängste vor angeblichen Massenbewegungen von Flüchtlingen in die Industrieländer sind massiv übertrieben oder fälschlicherweise mit Fragen der Migration verknüpft. Währenddessen tragen die übrigen ärmeren Länder die Belastungen."

Längere Kriege bedeuten längeres Exil

Dabei spielt der dauerhafte Charakter der größten internationalen Konflikte der heutigen Zeit eine entscheidende Rolle. Der Bericht zeigt, dass immer mehr Flüchtlinge für einen langen Zeitraum Flüchtling bleiben.

Sobald eine große Zahl von Menschen fünf Jahre oder länger gezwungen ist, im Exil zu leben, definiert UNHCR dies als eine andauernde Flüchtlingssituation. Im Jahr 2010 waren 7,2 Millionen Menschen unter UNHCR-Mandat in dieser Situation - so viele wie noch nie seit 2001. Hingegen konnten im letzten Jahr nur 197.600 Menschen in ihre Heimat zurückkehren. Das ist die niedrigste Zahl seit 1990.

Manche Flüchtlinge sind seit mehr als 30 Jahren im Exil. Afghanen, die bereits vor dem sowjetischen Einmarsch 1979 flohen, stellten sowohl 2001 als auch 2010 ein Drittel der Flüchtlinge weltweit. Irak, Somalia, die Demokratische Republik Kongo und der Sudan gehören seit zehn Jahren zu den zehn Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen.

"Die Welt lässt diese Menschen im Stich und zwingt sie die Instabilität in ihrer Heimat auszusitzen", sagte Guterres. "Das Leben der Betroffenen endet für unbestimmte Zeit in einer Warteschleife. Entwicklungsländer können die damit verbundenen Belastungen nicht länger tragen. Die Industriestaaten müssen sich mit diesem Ungleichgewicht befassen. Wir brauchen höhere Aufnahmekontingente bei der Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Erstzufluchtstaaten (Resettlement). Und wir benötigen nachhaltige Friedensbemühungen bei dauerhaften Konflikten, damit Flüchtlinge nach Hause zurückkehren können."

Höchste Zahl von Binnenvertriebenen seit einem Jahrzehnt

Trotz der niedrigen Zahl von Rückkehrern gab es etwas Bewegung bei der Anzahl der Menschen, die in ihrem eigenen Land vertrieben wurden. 2010 kehrten mehr als 2,9 Millionen dieser sogenannten Binnenvertriebenen aus anderen Landesteilen in ihre Heimatregionen zurück, beispielsweise in Pakistan, der Demokratischen Republik Kongo, Uganda und der Kirgisischen Republik. Dennoch ist die Zahl von 27,5 Millionen Binnenvertriebenen die höchste seit einem Jahrzehnt.

Auch für Staatenlose hat UNHCR ein Mandat. Diese Gruppe kann aber nur schwer quantifiziert werden. Die Zahl der Länder, die staatenlose Bevölkerungsteile melden, hat sich seit 2004 stetig vergrößert. Unstimmigkeiten bei der Definition und der Methodologie verhindern aber eine verlässliche Datenerhebung. Auch deshalb ist die Zahl mit 3,5 Millionen staatenlosen Menschen weltweit 2010 nur etwa halb so groß wie 2009. Nach inoffiziellen Schätzungen wird die weltweite Zahl der Staatenlosen auf rund zwölf Millionen beziffert.

UNHCR und sein deutscher Spendenpartner, die UNO-Flüchtlingshilfe, nehmen den Weltflüchtlingstag am 20. Juni zum Anlass, auf die Situation von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Binnenvertriebenen, Staatenlosen und Rückkehrern auf der ganzen Welt aufmerksam zu machen.

Quelle: Deutschsprachige Website von UNHCR; www.unhcr.de




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